Erbe und Auftrag des II. Vatikanischen Konzils

Spirituelle Energie für den Aufbruch in die Zukunft

Datum:
Samstag, 18. April 2015

Spirituelle Energie für den Aufbruch in die Zukunft

Vortrag bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 2015 zum Abschluss des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren in der Liebfrauenbasilika am 18.04.2015

Hinführung

Es ist eine sehr schöne Gelegenheit, mit den Heilig-Rock-Tagen 2015 den Abschluss des II. Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren anzusprechen, und dies als Auftakt einer Vortragsreihe. Gerne habe ich die Bitte von Dr. Stephan Ackermann zu diesem Vortrag übernommen, mit dem heutigen Vortrag den Auftakt dafür zu setzen. Die Erneuerung der Heilig-Rock-Wallfahrt im Jahr 1996 ist ein gelungenes Beispiel der Reform dieses altehrwürdigen Festes, wie wir im Bistum Trier ohnehin für den treuen und zugleich schöpferischen Umgang mit diesem kostbaren, aber auch schwierigen Erbe danken wollen. Dies zeigt, dass man auch traditionelle Gestalten und Bräuche unseres Glaubens wieder in ihrer spirituellen Ursprünglichkeit zum Leuchten bringen kann. Daraus entstehen dann wirklich auch frische und neue Wirkkräfte für die gelebte Zukunft unseres Glaubens.

Das Konzil hat sehr viele spirituelle Brennpunkte, die in den vier Jahren der Beratungen mit ca. 2400 Bischöfen aus aller Welt und mit großer Begleitung der ganzen Kirche ausgearbeitet worden sind, zum Ansehen gebracht. Man kann immer nur einige Beispiele aus dieser Fülle an Impulsen auswählen. Nun haben wir bald fünf Jahrzehnte seit dem Beginn des Konzils, das wir am 11. Oktober 1962 begannen und am 8. Dezember 1965 beendet haben, immer wieder nach solchen belebenden Anstöße für die Kirche gesucht und gewiss viele gefunden. Hier in Trier haben Sie dies auch durch die Diözesansynode in gemeinsamer Beratung zu erreichen gesucht.

Bei der Überlegung, wo ich diese Impulse wohl noch finden könnte und mit ihnen bedenken sollte, ohne schon lange Vertrautes einfach zu wiederholen, habe ich schließlich die Entscheidung getroffen, aus dem ersten und zweiten Kapitel des wichtigen Textes über die Kirche „Lumen gentium" einige nach vorne weisende Impulse auszuwählen. Es geht dabei um die richtige Weise, von der Kirche zu sprechen. Es wird deswegen das Geheimnis der Kirche erschlossen, um dann ausführlicher vor allem von den Bildern der Kirche zu handeln, ganz besonders dabei von der Kirche als Volk Gottes. Dies passt wohl auch zum Gedanken der Heilig-Rock-Tage, die ja auch eng mit dem Bild der Kirche als Leib Christi zusammenhängt, nicht zuletzt aber auch zum Abhalten einer Synode, die ja so etwas ist, wie ein Konzil auf der Ebene der Diözese.

Wir reden heute vielleicht zu viel von Kirche, jedenfalls wenn wir uns auf ihr Wesen und ihre Ausstattung konzentrieren. Dies war nicht immer so. Über viele Jahrhunderte war die Kirche das fast selbstverständliche Mittel und Werkzeug, der Ort der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Aber spätestens die Reformation mit ihren Folgen machte eine stärkere Reflexion auf das Wesen der Kirche notwendig, was auf dem Konzil von Trient (1545-1563) noch nicht gelang. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hat diese Aufgabe, die schon beim Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70), das ja abgebrochen werden musste und nicht zu Ende geführt wurde, voll wiederaufgenommen, wobei bekanntlich fast 100 Jahre dazwischenlagen - und eine wichtige Zeit theologischer Entwicklung.

Der Vortrag hat den Titel „Spirituelle Energie für den Aufbruch in die Zukunft". Was ich sagen möchte, ist wirklich ein Zuwachs an Kräften und Impulsen für die Gestaltung des kirchlichen Lebens in unserer Welt. Dies wird aber sehr nüchtern sein. Dies entspricht auch dem zu Grunde gelegten Konzilstext. Eigentlich ist der Reigen zu nennender Anregungen für diese spirituelle Energie eine einzige Bewegung, die von „Lumen gentium" ausgeht, aber sie vollzieht sich - und dies scheint mir wichtig zu sein - als eine spirituelle und theologische Bewegung, die in konzentrischen Kreisen voranschreitet. Diese betreffen alle die Beziehungen der Kirche zu den eigenen Teilkirchen in der großen Weltkirche, zu den nichtkatholischen und kirchlichen Gemeinschaften, zu den nichtchristlichen Religionen und auch zu den Menschen, die sich selbst Nichtglaubende oder sogar Atheisten nennen. Dies setzt als Basis voraus die Gemeinsamkeit des Volkes Gottes in der gegenwärtigen Kirche und damit zugleich auch die gleiche Würde des Christennamens und das Gemeinsame Priestertum. Diese Bewegung über sich selbst hinaus ist grundgelegt in einem bestimmten Verständnis von Kirche und mündet in eine sehr grundsätzliche missionarische Dimension von Kirche.

Um dies sachgerecht und situationsgemäß vorzubereiten, müssen wir jedoch einen kurzen Einstieg in diesen großen Text über die Kirche versuchen und einen Überblick schaffen, auch wenn dies notwendigerweise etwas kurz und abstrakt wird.

Während des Zweiten Vatikanischen Konzils war die Aufmerksamkeit vor allem der kirchlichen Öffentlichkeit sehr stark auf das III. Kapitel von „Lumen gentium" (LG 18-29) gerichtet. Im Anschluss an die Aussagen des Ersten Vatikanischen Konzils wurden hier vor allem die Probleme um die Kollegialität der Bischöfe auf der ganzen Welt und um das Verhältnis von Bischofskollegium und Papstamt erörtert. Dies war auch eine unaufschiebbare Aufgabe. Aber sie hat vielleicht bis in die nachkonziliare Rezeption hinein die Bedeutung der beiden ersten Kapitel der Kirchenkonstitution, nämlich „Das Mysterium der Kirche" (LG 1-8) und „Das Volk Gottes" (LG 9-17), zu sehr in den Hintergrund treten lassen. Dies ist aber ein nicht unerheblicher Nachteil, denn in diesen beiden ersten Kapiteln wird das neue Gesicht der Kirche im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils deutlich gemacht. Hier findet die wirkliche Grundlegung des neuen Kirchenbildes statt. Die sechs Kapitel über das Bischofsamt (III), die Laien (IV), die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche (V), die Ordensleute (VI) bringen spezifische Themen ins Gespräch, die in den beiden letzten Kapiteln „Der endzeitliche Charakter der pilgernden Kirche und ihre Einheit mit der himmlischen Kirche" (VII) und „Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und die Kirche" (VIII) eher wieder einen allgemeineren Abschluss bilden, gefolgt von den „Bekanntmachungen" und der „Erläuternden Vorbemerkung" (Nota praevia), die Papst Paul VI. als hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Kirchenkonstitution anfügen ließ. Zuerst betrachten wir den Anfang.

Das I. Kapitel (1-8) beschreibt das „Geheimnis" (Mysterium) der Kirche. Sie ist nicht einfach nur Apparat, sichtbare Institution, sondern eine Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem. Diese Einheit ist „gleichsam das Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug, für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (1). Die ganze Kirche reicht so in die ganze Tiefe des dreifaltigen Gottes hinein. Das Wesen der geschichtlich offenbar gewordenen Kirche zeigt sich besonders in Bildern: Volk Gottes (des Vaters), Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes. Die Kirche ist ein sichtbares Gefüge auf dem Weg der Geschichte. „Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um Ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird". (8)

II.

1. Der Weg zur stärkeren Bestimmung der Kirche als „Volk Gottes" (LG 9-17)

Die Kirchenkonstitution ist kaum verständlich ohne den Weg durch die Lehre der Kirche, vor allem im 20. Jahrhundert. Zwar gab es immer viele Bildaussagen zum Wesen der Kirche, wie Leib Christi, Volk Gottes, Tempel des hl. Geistes - hier zeigt sich die trinitarische Struktur Vater, Sohn und Geist -, aber auch Bau, Braut, Pflanzung Gottes usw. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Theologie über längere Zeit auf das Bild vom „Leib Christi" konzentriert. Dabei muss man zunächst an die antike Staatslehre denken, die vom Staat als einem Leib aus vielen Gliedern spricht, die alle jeweils ihre Aufgabe erfüllen und zusammenarbeiten. Paulus knüpft nicht unmittelbar an diese soziologisch-politische Metapher und auch nicht an einen Vergleich mit einem biologischen Organismus mit vielen Gliedern an. „Leib Christi" lenkt letztlich den Gedanken zentral auf Jesus Christus und ganz besonders auf das Verständnis der Taufe und der Eucharistie. Wir sehen dies deutlich z.B. in 1 Kor 10,17: „Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben Teil an dem einen Brot." Leib Christi ist also eine sakramentale, durch den Geist vermittelte Realität mit ethischen Konsequenzen (vgl. 1 Kor 6,15f.). Daraus ergeben sich auch solidarische Verpflichtungen: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." (Gal 6,2; 1 Kor 12,26)

Diese biblische Grundlegung von „Leib Christi" fand bei den Kirchenvätern eine sehr prägende Aufnahme, ist aber spätestens im 11. Jahrhundert schwächer geworden. Die sakramentale Dimension wurde ärmer, auch wenn das Wort „mystischer Leib Christi" hinzukam. So wurde die Kirche doch mehr im Sinne einer körperschaftlich-institutionellen Größe verstanden und im Mittelalter auch stark politisch ausgelegt. Dagegen hat sich besonders die sogenannte katholische Tübinger Schule, vor allem J. A. Möhler, gewehrt, aber auch die römische Schule (Schrader, Passaglia) und der selige J. H. Newman. Die Erneuerungsbewegung im 20. Jahrhundert hat im Leib Christi-Bild einen vitalen Organismusgedanken gesehen. Papst Pius XII. hat in der Enzyklika „Mystici corporis" (1943) sich dieses Anliegen zu eigen gemacht. Besonders Henri de Lubac und Yves Congar haben das sakramentale Verständnis erneuert. Dadurch ist bereits vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Sicht der Kirche erheblich vertieft worden. Nach dem Konzil ist es schließlich der Geist Jesu Christi, der die vielen Glieder zu dem einen Leib zusammenfügt, sie mit Jesus Christus und untereinander eint (vgl. SC 59; LG 11).

Man kann jedoch nicht übersehen, dass es einen zweiten grundlegenden Begriff bzw. ein Bildwort zur Beschreibung der Kirche gibt, nämlich „Volk Gottes". Der Begriff ist von früh an in der kirchlichen Liturgie verwendet worden, ebenso auch in der Kirchenordnung. Man hat diesen Begriff aber auch verwendet, um die Kirche gegenüber dem Judentum abzugrenzen. Dies konnte dadurch geschehen, dass man auf die Verbindung mit dem Alten Testament Wert legte (LG 2: „ecclesia ab Abel") oder aber eben von einem „neuen Volk Gottes" sprach. Es ist verständlich, dass der Begriff „Volk Gottes", stark geprägt durch die sozio-politische Bedeutung in der Tradition, für die Beschreibung der Autorität und die Gegenüberstellung von Hierarchie und Kirchenvolk verwendet wurde. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Verständnis der Kirche als „Volk" von seinem biblischen Ursprung her wieder aufgenommen (vgl. vor allem M. D. Koster und Y. Congar) und ist im Zweiten Vatikanischen Konzil, speziell im zweiten Kapitel von LG, wieder stärker zu einer verbindlichen Grundaussage der Kirche über sich selbst geworden.

So war es keineswegs selbstverständlich, dass das Konzil dem ursprünglichen Entwurf der vorbereitenden Kirchenkonstitution nicht folgte, nämlich schon zu Beginn eine Beschreibung der hierarchischen Konstitution der Kirche, sondern das Kapitel über das Volk Gottes allem voranzustellen. Die recht verstandene Kategorie „Volk Gottes" ist dabei für verschiedene Kennzeichnungen der Kirche besonders in unserer Zeit vorzüglich geeignet.

Freilich ist schon an dieser Stelle zu sagen, dass die Rede von der Kirche als Volk Gottes die zentrale Verwendung der Kirche als „Leib Christi" nicht ausschließt, wie man in der nachkonziliaren Interpretation das Konzil nicht selten missverstand. Die unverzichtbare Konzentration auf Jesus Christus hin, die Christozentrik, wäre sonst gefährdet. Für das rechte Verständnis von „Volk Gottes" muss man bedenken, dass das Wort „Volk Gottes" im Neuen Testament nicht so zentral ist, wie oft angenommen wurde. Zwar kann man auch nicht sagen, dass das Wort „Volk Gottes" im NT faktisch nur der Beschreibung des alten Israel diene, aber wenn es im NT verwendet wird, dann hat es zweifellos nichts zu tun mit einer national-ethnischen Fassung des Begriffs „Volk", wie z.T. im AT, sondern die Kirche ist in ganz besonderer Weise eine eigene Realität, die sich „als Volk unter den Völkern" (vgl. Apg 15,14) versteht. Aber auch im Alten Testament ist „Volk Gottes" - genauer besehen - nicht einfach Israel in seiner empirischen Vorfindlichkeit. Israel wird mit dem Begriff „Volk Gottes" bezeichnet, sofern es zu Gott hin gewandt ist, also in einem Akt der Beziehung und der Selbstüberschreitung, nicht einfach in sich selbst steht. (N. Lohfink) Diese Hinwendung konkretisiert sich im Neuen Testament im Geheimnis Jesu Christi. Gottes Volk ist man letzten Endes nur durch die Einbeziehung in Jesus Christus. Wenn man also von Volk Gottes spricht, muss die Person, das Wort und das Wirken Jesu Christi die Mitte der Lehre von der Kirche bleiben und muss die Kirche wesentlich von den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie her verstanden werden, den beiden „großen Sakramenten".

In diesem Sinne muss man auch darauf hinweisen, dass die ersten beiden Worte von LG, nämlich „Lumen gentium", also „Licht der Völker", nicht, wie manchmal gedeutet wird, sich auf die Kirche bezieht, sondern dass mit diesem Wort gesagt wird, wie auch unsere Übersetzung deutlich macht: „Christus ist das Licht der Völker" (LG 1)

Diese Feststellungen und Warnungen, die auch eine Lehre der Rezeption der Konzilsaussagen sind, dürfen uns aber nicht hindern, das geradezu Revolutionäre in diesem Kapitel von LG zurückzustellen oder zu verkleinern.

2. Kirche in ihrem geschichtlichen, umkehrbereiten und endzeitlichen Charakter

 

Gegenüber einem ungeschichtlichen und triumphalistischen Kirchenbild schließt der Begriff „Volk Gottes" wesentliche Züge ein, die bei einer überzogenen und isolierten Verwendung anderer Bilder über die Kirche, besonders „Leib Christi", nicht recht zum Zuge kommen. Die Kirche ist immer auf dem Weg, das wandernde Gottesvolk. In diesem Bildwort „Volk Gottes" gibt es zunächst die Notwendigkeit der ständigen Umkehr und Erneuerung der Kirche. Sie wird auf diesem Weg bei aller unzerstörbaren Heiligkeit, die unterstrichen wird, immer wieder auch von der Macht der Sünde entstellt. Die Kirche umfasst in ihrem eigenen Schoß Sünder. „Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig. Sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung." (LG 8) Auch wenn das Konzil das Wort von der „sündigen Kirche" vermeidet - die Schrift gebraucht es auch nicht -, so ist diese grundlegende Anfälligkeit zur Sünde mitausgesagt. Deshalb wird sie auch durch das Konzil selbst zur „Demut und Selbstverleugnung" (LG 8) aufgefordert. Daraus folgt: In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen. Bei Papst Franziskus finden wir immer wieder ein Echo dieses Verständnisses von Kirche.

So ist die Kirche in ihrer realen Existenz und in ihrer konkreten geschichtlichen Erscheinungsform umschrieben. Damit ist sie freilich auch Versuchungen und Gefährdungen ausgesetzt. Dies zu leugnen, wäre angesichts der konkreten Geschichte der Kirche auch mehr als unklug. Die Kirche wird in ihrer geschichtlichen und auch umkehrbereiten Nähe menschlicher. Sie braucht deswegen ihre Verwurzelung in Gott und seiner Zuwendung zur Welt nicht zu verlieren. Es ist hier auch aufschlussreich, wie das Konzil dieser Nähe noch eine neue Seite abgewinnt. Die Kirche als Volk Gottes wird nämlich auch in ihrer Verfolgungssituation und mit ihren Belastungen aus ihr selbst und der Umwelt dargestellt. „Bestimmt zur Verbreitung über alle Länder tritt sie (die Kirche) in die menschliche Geschichte ein und übersteigt doch zugleich Zeiten und Grenzen der Völker. Auf ihrem Weg durch Prüfungen und Trübsal wird die Kirche durch die Kraft der ihr vom Herrn verheißenen Gnade Gottes gestärkt, damit sie in der Schwachheit des Fleisches nicht abfalle von der vollkommenen Treue, sondern die würdige Braut ihres Herrn verbleibe und unter der Wirksamkeit des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern, bis sie durch das Kreuz zum Licht gelangt, das keinen Untergang kennt." (LG 9, vgl. auch LG 8) So steht die Kirche in der Tradition des Exodus Israels und verkündet die Solidarität Gottes mit den Armen und Leidenden dieser Welt.

In diesem Zusammenhang wird eine neue Eigenschaft der Kirche als Volk Gottes sichtbar, wie das Konzil dies beschreibt. Die Kirche erscheint einerseits in ihrer Dynamik, die gerade auch durch ihre Sendung in die Welt realisiert wird, anderseits erscheint sie in ihrem endzeitlichen Charakter. So heißt es über das messianische Volk: „Seine Bestimmung endlich ist das Reich Gottes, das von Gott selbst auf Erden grundgelegt wurde, das sich weiter entfalten muss, bis es am Ende der Zeiten von ihm auch vollendet werde." (LG 9, vgl. dazu auch Röm 8,21) Damit wird die Kirche in ihrem pilgernden Unterwegssein offenkundig. Sie bedarf immer wieder der Erneuerung und am Ende auch der Reinigung, bis sie aufgeht im Reich Gottes. Sie ist nicht ein eigenes Ziel. Eines Tages wird sie aufgehoben im Reich Gottes. In diesem Sinne ist sie immer vorläufig („eschatologischer Vorbehalt").

Die Kirche als so verstandenes Volk Gottes ruht nicht einfach in sich. Dies gilt in doppelter Hinsicht. Einmal ist sie vorwegnehmendes Zeichen im Blick auf die Vollendung im Reich Gottes, zum anderen ist sie aber auch dienendes Werkzeug für die Verkündigung des Evangeliums in aller Welt und der heilenden Kräfte, die davon ausgehen.

So kann LG 9 sagen: „So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils." Damit wird durch den Horizont der Herrschaft Gottes die Kirche selbst in einem gesunden Sinne „relativiert", weil sie einerseits in und aus „Beziehungen" (relationes) lebt und anderseits in ihrer Wandelbarkeit, Vorläufigkeit und Erneuerungsbedürftigkeit erscheint.

3. Grundlegende Gemeinsamkeit aller Glaubenden

Eine sehr wichtige Eigenheit der Kirchenkonstitution und besonders von Kapitel II liegt darin, dass das Verständnis von Kirche nicht von Anfang an auseinanderfällt in „Volk" und „Hierarchie". Es ist ja schon sehr früh (vgl. Justin, I Apol, 67) eine Versuchung, die versammelte Gemeinde als „Volk" von den Leitern der Gemeinde und des Gottesdienstes wenigstens funktional abzuheben. Dies ist auch in der Gegenwart immer wieder artikuliert worden (vgl. SC 14). Die Unterscheidung selbst ist nicht einfach falsch. Aber es ist verhängnisvoll, den „Leib Christi" bzw. das „Volk Gottes" von Grund auf in zwei oder mehr Stände zu spalten. Darum ist es eine ganz grundlegende Entscheidung von LG, den Begriff des Volkes Gottes im Voraus zu jeder Unterscheidung der verschiedenen Charismen, Dienste und Ämter auf die allen Glaubende eigene Gemeinsamkeit zu konzentrieren. Es kann dann eine „wahre Gleichheit" beim Aufbau des Leibes Christi und bei der Berufung zur Heiligkeit festgestellt werden. So heißt es in LG 32: „Wenn auch einige nach Gottes Willen als Lehrer, Ausspender der Geheimnisse und Hirten für die anderen bestellt sind, so waltet doch unter allen eine wahre Gleichheit in der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit zum Aufbau des Leibes Christi. Der Unterschied, den der Herr zwischen den geweihten Amtsträgern und dem übrigen Gottesvolk gesetzt hat, schließt eine Verbundenheit ein, da ja die Hirten und die anderen Gläubigen in enger Beziehung miteinander verbunden sind. Die Hirten der Kirche sollen nach dem Beispiel des Herrn einander und den übrigen Gläubigen dienen, diese aber sollen voll Eifer mit den Hirten und Lehrern eng zusammenarbeiten."

In diesem Sinne wird in der Kirchenkonstitution das „Gemeinsame Priestertum der Gläubigen" seit der Reformation zum ersten Mal auf katholischer Seite in hohem Maß aufgewertet. Die Formulierung in LG 10 scheint zuerst das Gegenteil zu sagen, wenn es heißt: „Das Gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen („essentia") und nicht bloß dem Grade („gradu") nach. Dennoch sind sie je einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil." Alle Getauften gehören zu diesem Gemeinsamen Priestertum, nicht nur die Laien, schon gar nicht die Laien im Unterschied zum Klerus, sondern alle Glieder der Kirche, auch die Priester und Bischöfe wie die Ordenschristen (vgl. 1 Petr 2,9f.). Auch wenn nicht unmittelbar Rechte und Vollmachten davon abgeleitet werden, so ist doch die traditionelle Rede von zwei voneinander abgegrenzten Ständen, den Klerikern und dem sogenannten „gewöhnlichen", „einfachen" Volk („plebs"), unmöglich geworden. Die Sendung ist der Kirche in ihrer Gesamtheit und somit auch allen Christen gemeinsam anvertraut. Niemand ist nur Objekt, alle sind Subjekte in der Kirche. Die etwas schwierige Formulierung des Konzils weist darauf hin, dass innerhalb der Teilhabe am Priestertum Jesu Christi unterschiedliche Funktionen bleiben, die man nicht einfach in einer sich steigernden Intensivierung der christlichen Existenz sehen darf, sondern die sich auf einer anderen Ebene bewegen. Auf alle Fälle sind beide aufeinander zugeordnet. Die Unterscheidungen der Ämter und Charismen wird nicht einfach aufgehoben. Es besteht eine Einheit der Sendung, aber eine Unterschiedenheit in der Teilhabe an dieser gemeinsamen Sendung.

In diesem Zusammenhang ist auch sehr bemerkenswert, dass es im Sinne des Konzils für alle Getauften eine gemeinsame Teilhabe am prophetischen, priesterlichen und königlichen Amt (Hirtenamt) Jesu Christi gibt. Diese Drei-Ämter-Lehre, die sich zuerst, schon vom AT her, auf Jesus Christus als „Messias" bezieht und im Lauf einer langen Geschichte auf die ordinierten Ämter bezogen worden ist, wird hier aufgebrochen, um ein dreifaches Amt der ganzen Kirche, der Hirten und der Gläubigen, zu entfalten (vgl. LG 13; 24-27; 34ff.; SC 7f.). Ich glaube, dass bis heute die Folgen dieser Ausweitung nicht genügend zur Kenntnis genommen worden sind.

Die Kirche hat immer schon gewusst, dass diese Sicht, auch wenn sie nicht ausführlicher entfaltet und manchmal auch missdeutet wurde, große Konsequenzen hat. Es sind Themen, die auch heute noch nicht ausreichend theologisch verarbeitet sind. Deswegen kann ich auch nur kurz darauf hinweisen. Dies gilt auch z.B. für folgende Aussage in LG 12: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20 und 27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie ‚von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ (Augustinus) ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitte äußert." Das Lehramt, das gewiss berufen ist, diesen Glaubenssinn zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen, ist immer auch auf diesen Glauben selbst angewiesen. Dies darf nicht verdunkelt werden.

4. Kirche in ihrer bleibenden Verbundenheit mit Israel

Eine weitere Eigenheit in der Sprache des Konzils vom Volk Gottes besteht in den Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Israel und der Kirche. Sehr oft hat man einfach damit argumentiert, durch den Tod Jesu Christi, die Verwerfung des Messias und der Trennung von Kirche und Synagoge habe Israel seine ihm von Gott verliehene Würde verloren. In der Tradition hat man oft die sogenannte „Substitutionstheorie" vertreten, nach der die Kirche Israel als von Gott ursprünglich erwähltes Volk „ersetzt" und ablöst (oft unter Berufung auf Mt 21,43). Heute sehen wir sehr viel deutlicher, dass die Kirche unwiderruflich auf ihre „Wurzel" Israel verwiesen bleibt, in die sie „eingepropft" ist (vgl. Röm 11,16ff.). Denn trotz des sich geschichtlich verhängnisvoll auswirkenden Bruchs am Anfang kann die Kirche ihre Vollgestalt als das eine Volk Gottes nur mit Israel finden (vgl. Röm 9-11). So bleibt die Kirche in einer dramatischen Geschichte bis zum Ende unlöslich mit Israel verknüpft. Der Neue Bund ist nicht einfach an die Stelle des Alten Bundes getreten (vgl. LG 16, DV 14f.).

Die Erklärung des Konzils zu den nicht-christlichen Religionen „Nostra aetate" hat diese Grundgedanken weiter entfaltet (vgl. NA 4). Sie hat das gemeinsame Erbe von Juden und Christen aufgezeigt und die spirituelle Verbundenheit mit Israel herausgestellt. Durch das Kreuz hat Jesus Christus Juden und Heiden versöhnt und beide in sich vereinigt (vgl. Eph 2,14ff.). Papst Johannes Paul II. hat am 1. Fastensonntag 2000 in St. Peter und bald darauf bei seinem Besuch in Jerusalem am 26. März 2000 dazu ein klares Schuldbekenntnis und eine Vergebungsbitte ausgesprochen. Die Texte in LG 9-17 konnten freilich nur ein erstes Wort sein, das nun aber von vielen Dokumenten in einem großen gemeinsamen Dialog entfaltet wird. Die Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln hat eine grundsätzliche theologische Bedeutung für das Verständnis der Kirche. Die Kirche ist von ihrem Ursprung und von ihrem Wesen her Kirche aus Juden und Heiden (vgl. Eph 2,11-22).

5. Verschiedene Weisen der Zugehörigkeit zur Kirche

Das Verständnis von Kirche als Volk Gottes bringt noch eine weitere Perspektive in die Ekklesiologie, aber auch in die Gnadenlehre. Der Begriff Volk Gottes erlaubt nämlich eine Vielfalt verschiedener Weisen von Beziehungen im Verhältnis zur Kirche. Im Unterschied zum traditionell bevorzugten Begriff „Leib Christi" gibt es hier eine Differenzierungsmöglichkeit. Der Begriff „Leib Christi" erlaubt letztlich nur die Alternative zwischen „Glied" und „Nicht-Glied". „Volk Gottes" dagegen lässt eine weitere und differenzierte Sicht zu: „Zu dieser katholischen Einheit des Gottesvolkes, die den allumfassenden Frieden bezeichnet und fördert, sind alle Menschen berufen. Auf verschiedene Weise gehören ihr zu oder sind ihr zugeordnet die katholischen Gläubigen, die anderen an Christus Glaubenden und schließlich alle Menschen überhaupt, die durch die Gnade Gottes zum Heile berufen sind." (LG 13) Das Kapitel II fängt bereits mit einem solchen Blick auf den souveränen Heilswillen Gottes an und begründet, warum es trotz der Heilsmöglichkeit für die Menschen aller Zeiten ein spezielles Eigentumsvolk Gottes gibt. Dieses ist „die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils" (LG 9).

a) Das Verhältnis der Zugehörigkeit wird nun in diesem Konzilsdokument „Lumen gentium" differenziert behandelt (vgl. LG 14-17). Zuerst wird die Aufmerksamkeit den katholischen Glaubenden zugewendet. Für sie gilt: „Gestützt auf die Heilige Schrift und die Tradition, lehrt das Konzil, dass diese pilgernde Kirche zum Heile notwendig sei. Christus allein ist Mittler und Weg zum Heil, der in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird; indem er aber selbst mit ausdrücklichen Worten die Notwendigkeit des Glaubens und der Taufe betont hat (vgl. Mk 16,16; Joh 3,5), hat er zugleich die Notwendigkeit der Kirche, in die die Menschen durch die Taufe wie durch eine Türe eintreten, bekräftigt." (LG 14)

Die Kirchenkonstitution behandelt in diesem Zusammenhang auch - allerdings ohne das Wort zu verwenden - das wichtige und schwierige Thema der Kirchengliedschaft. Die Heilsnotwendigkeit der Kirche, von der eben die Rede war, wird in Artikel 14 präzisiert: Nur wer um die Heilsnotwendigkeit der Kirche wisse, aber dennoch schuldhaft nicht in sie eintrete oder nicht in ihr verbleiben wolle, könne nicht gerettet werden - wobei dieses Endurteil gewiss auch in der lateinischen Sprache sehr vorsichtig formuliert wird. Es werden dann die klassischen drei Kriterien der Kirchenzugehörigkeit erwähnt, allerdings mit der gewichtigen Veränderung, dass ihnen gleichsam als gemeinsame Klammer vorausgestellt und vorausgesetzt wird, das man von einem Leben im Geist Jesu Christi ausgeht: „Jene werden der Gemeinschaft der Kirche voll eingegliedert, die, im Besitze des Geistes Christi (qui Spiritum Christi habentes), ihre ganze Ordnung und alle in ihr eingerichteten Heilsmittel annehmen und in ihren sichtbaren Verband mit Christus, der sie durch den Papst und die Bischöfe leitet, verbunden sind, und dies durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung und Gemeinschaft." (LG 14) Freilich hat das Konzil damit der Theologie eine schwierige Aufgabe gestellt, wie sie diese umfassende Bestimmung des Lebens im Geiste Jesu Christi mit den eben genannten institutionellen Merkmalen verbinden kann.

Dass es nicht nur auf die formale Zugehörigkeit ankommt, wird in LG 14 mit aller Deutlichkeit gesagt: „Nicht gerettet wird aber, wer, obwohl der Kirche eingegliedert, in der Liebe nicht verharrt und im Schoße der Kirche zwar ‚dem Leibe‘, aber nicht ‚dem Herzen‘ nach verbleibt (im Anschluss an Augustinus). Alle Söhne der Kirche sollen aber dessen eingedenk sein, dass ihre ausgezeichnete Stellung nicht den eigenen Verdiensten, sondern der besonderen Gnade Christi zuzuschreiben ist; wenn sie ihr im Denken, Reden und Handeln nicht entsprechen, wird ihnen statt Heil strengeres Gericht zuteil."

b) In einer zweiten Überlegung wird diese Zugehörigkeit zur Kirche zunächst für das Verhältnis der christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften selbst zu klären versucht. Hier wird im Gegenzug zum bisherigen Schweigen über die Art der Beziehung der Begriff der Verbundenheit („coniunctio", „coniungere") „grundlegend" verwendet: „Mit jenen, die durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind, den vollen Glauben aber nicht bekennen oder die Einheit der Gemeinschaft unter dem Nachfolger Petri nicht wahren, weiß sich die Kirche aus mehrfachem Grunde verbunden." Im Anschluss daran werden die verschiedenen Elemente der Gemeinsamkeit von der Heiligen Schrift über die Sakramente bis zu liturgischen Bräuchen aufgeführt. Auch der Geist Gottes wirkt an dieser Verbindung mit und ermöglicht z.B. auch außerhalb der katholischen Kirche ein authentisches Martyrium. Schließlich heißt es abschließend: „So erweckt der Geist in allen Jüngern Christi Sehnsucht und Tat, dass alle in der von Christus angeordneten Weise in der einen Herde unter dem einen Hirten in Frieden geeint werden mögen. Um dies zu erlangen, betet, hofft und wirkt die Mutter Kirche unaufhörlich, ermahnt sie ihre Söhne zur Läuterung und Erneuerung, damit das Zeichen Christi auf dem Antlitz der Kirche klarer erstrahle." (LG 15) Das Konzil verzichtet nicht nur auf die Begriffe der Häresie und des Schismas, sondern spricht sogar im Unterschied zu der Redeweise von den „getrennten Brüdern" hier von einer Verbundenheit. Das Thema selbst wird weiter entfaltet im Dekret über den Ökumenismus (vgl. UR 3).

c) Artikel 16 geht beim Abschreiten der Möglichkeiten einer Zugehörigkeit zur Kirche auf die Nichtchristen ein. Im Unterschied zu der eben genannten Verbundenheit der christlichen Kirchen untereinander ist hier von einer „Hinordnung" („ordinatio") die Rede. So heißt es bereits am Beginn: „Diejenigen endlich, die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind auf das Gottesvolk auf verschiedene Weise hingeordnet." Dabei ist zuerst von dem Volk Israel die Rede (vgl. auch NA 4). Wir haben darüber schon gesprochen. In Fortsetzung heißt es im Blick auf den Islam: „Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den Barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird." Dies wird in der Erklärung des Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen näher ausgeführt (vgl. im Blick auf die Muslime NA 3).

Der Kreis wird schließlich auch noch auf andere Menschen differenziert ausgedehnt, wenn es heißt: „Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Leben und Atem und alles gibt, (vgl. Apg 17,25-28) und als Erlöser will, dass alle Menschen gerettet werden (vgl. 1 Tim 2,4). Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen." Schließlich wird eine äußerste Grenze mit folgenden Worten beschrieben: „Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Was sich nämlich an Gutem und Wahrem bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe." Darauf folgt der Hinweis auf die Verführung des Menschen durch die endlichen Geschöpfe und den damit verbundenen Götzendienst (vgl. Röm 1,21 und 25). Das Gewissen spielt dabei als Instrument und Ort der „Unterscheidung der Geister" eine unersetzliche Rolle (vgl. GS 16-18.30.47; DH 1,2; 11, 13, 14, 15).

Auch wenn das Konzil an vielen Punkten diese zunächst sehr grundsätzlichen Ausführungen weiter erläutert (vgl. z.B. LG 16, GS 19, 22; AG 7 usw.), so ist es doch von größter Bedeutung und darf nicht übersehen werden, dass diese Grundlegung eines neuen Gesichts der Kirche von Anfang an den Horizont bis zu einer solchen Vision ausdehnt (vgl. den Widerhall in den erneuerten Karfreitagsfürbitten). Damit wird natürlich auch ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Mission der Kirche ins Spiel gebracht.

6. Missionarische Grundstruktur der Kirche

Auf diesem Weg wird auch das Thema der Mission jetzt viel dringlicher, sodass die Überleitung zu Artikel 17 sich von selbst nahe legt. Dabei muss für einzelne Fragen auf das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche „Ad gentes" verwiesen werden, das viel zu wenig bekannt ist, das am Ende des Konzils, gleichsam in letzter Minute (7. Dezember 1965), fertig gestellt worden ist und eine ganz hohe Mehrheit erhielt (2394 Ja-, gegen 5 Nein-Stimmen). Dieser Text hat den Vorzug, dass er auf viele reife Einsichten des Konzils zurückgreifen konnte. Nicht zuletzt deswegen ist dieser Text gut gelungen, was auch die hohe Mehrheit bei der Abstimmung erklärt.

Wer einmal den Glauben angenommen hat, der ist eigentlich regelrecht getrieben, diese Wahrheit nicht einfach für sich zu behalten, sondern weiterzugeben. Das Konzil macht sich die Worte des Apostels zu eigen - nun aber nicht nur im Blick auf den Einzelnen, sondern auf die ganze Kirche: „Weh mir ..., wenn ich die Frohbotschaft nicht verkünde!" (1 Kor 9,16) „Sie wird nämlich vom Heiligen Geiste angetrieben, mitzuwirken, dass der Ratschluss Gottes, der Christus zum Ursprung des Heils für die ganze Welt bestellt hat, tatsächlich ausgeführt werde. In der Verkündigung der Frohbotschaft versucht die Kirche die Hörer zum Glauben und zum Bekenntnis des Glaubens zu bringen, bereitet sie für die Taufe vor, befreit sie aus der Knechtschaft des Irrtums und gliedert sie Christus ein, damit sie durch die Liebe bis zur Fülle in ihn hineinwachsen." (LG 17) Es wird darauf hingewiesen, dass jedem Jünger Jesu Christi die Pflicht obliegt, nach seinem Teil den Glauben auszubreiten.

Dabei ist es wichtig zu beobachten, wie von der missionarischen Tätigkeit der Christen und der Kirche gesprochen wird. Es geht nicht um eine Indoktrinierung von oben herab und um ein von Mitleid geprägtes Herablassen zu den Verlorenen. Schon früher ist im Anschluss an den Kirchenvater Eusebius gesagt worden, dass das, was an Gutem und Wahrem sich außerhalb des Gefüges der Kirche findet, von der Kirche als Vorbereitung für das Evangelium aufgenommen und verstanden wird. Deutlich wird am Ende von LG 17 gesagt: „Ihre Mühe (der Kirche) aber bewirkt, dass aller Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur nicht untergehe, sondern geheilt, erhoben und vollendet werde zur Ehre Gottes, zur Beschämung des Teufels und zur Seligkeit des Menschen." Hier muss beachtet werden, dass vorausgesetzt wird, dass man auch bei den Nichtchristen und ihren Religionen und Kulturen Gutes und Wahres finden kann, das in einem Erneuerungsprozess „geheilt, erhoben und vollendet" werden kann, ganz im Sinne des paulinischen Wortes: „Prüft alles, und behaltet das Gute!" (1 Thes 5,21)

Damit ist auch ein beträchtlicher Wandel in der Missionskonzeption der Kirche zur Geltung gebracht, die in den letzten Jahrzehnten besondere Beachtung erfahren hat, nicht zuletzt auch bei der Jahrtausendwende. Dabei geht es nicht nur um die Erneuerung der Weltmission, sondern auch um eine ganz neue Ausrichtung der pastoralen Aktivität bei uns selbst. Dies ist heute beinahe eine Selbstverständlichkeit in den pastoralen Initiativen. Dass dabei das dialogische Moment in der missionarischen Tätigkeit eine Hauptrolle erhält, versteht sich fast von selbst.

Auf diese Weise hat das II. Kapitel von LG am Ende eine sehr offene und zuversichtliche Perspektive für das Wirken der Kirche: „So aber betet und arbeitet die Kirche zugleich, dass die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und den Tempel des Heiligen Geistes, und dass in Christus, dem Haupte aller, jegliche Ehre und Herrlichkeit dem Schöpfer und Vater des Alls gegeben werde." (LG 17) Man sieht darin besonders nochmals die dynamische, geschichtliche und endzeitliche Ausrichtung der Verkündigung des Evangeliums durch die Kirche.

Ich habe am Anfang gesagt, dass wir dieses Teilstück der Kirchenkonstitution für das Suchen und Finden eines neuen Gesichts der Kirche in unserer Zeit viel zu sehr vernachlässigt haben. Wir müssen es gewiss 50 Jahre danach im Lichte unserer gegenwärtigen Situation neu lesen und auch mit neuer Bereitschaft fruchtbar machen. Ich bin aber überzeugt, dass es auch unsere heutige Situation im Kern trifft. Gerade weil es vielleicht ganz fundamental argumentiert und nicht zu sehr in die Verästelungen des kirchlichen Lebens eintritt, ist es bemerkenswert offen auch für uns. Wir sollten die Chance des Gedenkens des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren zu dieser „Re-lecture" nützen.

In dieser Zeit der Heilig-Rock-Tage verbinden wir diese Gedanken über das Kirchenbild des Konzils eng miteinander. Dies will ich aber gerne nachher in der Predigt während des Gottesdienstes in der Liebfrauenkirche versuchen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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