Europa eine soziale Gestalt geben

Einführungsreferat zu einer Veranstaltung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen am 10. Mai 2007 in Brüssel

Datum:
Donnerstag, 10. Mai 2007

Einführungsreferat zu einer Veranstaltung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen am 10. Mai 2007 in Brüssel

Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen: Als nach dem Zweiten Weltkrieg eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Kommission zusammengekommen war, um eine Menschenrechtserklärung zu erarbeiten, kam es zu einem Streit zwischen den Vertretern des Westens und des Ostens. Auf seinem Höhepunkt äußerte der englische Vertreter: „Wir wollen freie Menschen, nicht wohl genährte Sklaven“, worauf der Vertreter der Sowjetunion antwortete: „Freie Menschen können verhungern“. Nun haben wir den Konflikt zwischen Ost und West, der dieser kleinen Begebenheit zugrunde liegt, glücklicherweise hinter uns gelassen. Europa ist zu unser aller Freude weitgehend vereint. Nicht aber hinter uns gelassen haben wir die Auseinandersetzung über das rechte Verständnis vom Menschen, das in dieser Begebenheit zutage tritt.

I.

Freiheit und soziale Sicherheit scheinen vielfach einen Gegensatz zu bilden. Demgegenüber versteht das christliche Sprechen vom Menschen diesen als Person, bei dem Freiheit und soziales Eingebundensein zur Geltung kommen oder, wie es der große deutsche Lehrer der Katholischen Soziallehre Oswald von Nell-Breuning einmal formuliert hat, es bilden individualitas und socialitas gleichgewichtig die personalitas. Freiheit und soziale Sicherheit gehören untrennbar zusammen. Ausgehend von einem Menschenbild, nach dem der Mensch als Ebenbild Gottes Person ist und als solcher selbstständig, aber doch immer in der Gemeinschaft mit anderen Menschen lebt, muss soziale Sicherheit immer auf die Freiheit des Menschen ausgerichtet sein, und gründet sich Freiheit immer auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit. Insofern hier beides zusammenkommt, liegt die Soziale Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeprägt wurde, der katholischen Soziallehre so nah. Dass sich unsere Marktwirtschaft als eine „Soziale“ begreift und damit das Soziale dem Markt nicht nur als eine Nebenbedingung beifügt, sondern die Prinzipien des Marktes und des Sozialen gleichursprünglich miteinander verbindet, scheint mir eine Grundbedingung für eine einem umfassenden Verständnis vom Menschen gerecht werdende Wirtschaftsordnung zu sein. Das gilt, so meine ich, auch und in besonderer Weise für die Europäische Union.

In diesen Wochen haben wir den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen. Solche Jubiläen sind immer ein guter Anlass, sich der Ursprünge zu erinnern. So empfiehlt sich ein Blick in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft vom 25. März 1957. Dieser beginnt mit den Worten, dass die EWG gegründet wurde

„in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen,

entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen,

in dem Vorsatz, die stetige Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben“.

Während der Vertrag zur Gründung der EGKS, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, sechs Jahre zuvor mit der Sorge um den Weltfrieden begann, stehen hier wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt. Und es werden von Beginn an - das ist von besonderer Bedeutung – durchaus auch soziale Fragen thematisiert: Es geht um den sozialen Fortschritt der Mitgliedsländer, es geht um die Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Menschen. Das europäische Einigungswerk hat von Anfang an auch einen sozialen Anspruch gehabt. Und dennoch ist es nicht ohne Grund, dass wir uns heute hier unter der Themenstellung versammelt haben: „Europa eine soziale Gestalt geben“.

Dafür, dass solch eine Themenstellung heute richtig und notwendig ist, gibt es, so meine ich, im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens ist dies der Prozess von Entgrenzung, den wir als Globalisierung bezeichnen. Die Globalisierung erweitert und verdichtet die Beziehungen zwischen Staaten, Gesellschaftssystemen und Kulturräumen. Die stärker globalisierte Ökonomie verschärft den Wettbewerb weltweit. Die Steuerungsfähigkeit der Nationalstaaten verändert sich. Dies alles macht vielen Menschen Angst. Sie machen sich Sorgen angesichts der Folgen der Globalisierung, die sie auch mit der Europäischen Union verbinden. Es wird deshalb – auch für die Akzeptanz der Europäischen Union – von großer Bedeutung sein, dass sie als die Ebene wahrgenommen wird, die den Menschen Sicherheit angesichts der Unsicherheiten der Globalisierung gibt, die als supranationaler Raum politischen Handelns Handlungsmöglichkeiten bewahrt. Europa darf nicht länger als Teil des Problems der Globalisierung wahrgenommen werden, sondern die Menschen erwarten zu Recht, dass es Teil seiner Lösung wird. Die Europäische Union ist die Antwort der Europäer auf die Globalisierung. Dazu braucht sie auch eine soziale Gestalt.

Zweitens ist die bereits in den Gründungsdokumenten formulierte Offenheit der EU gegenüber der sozialen Dimension in den vergangenen Jahrzehnten faktisch nicht ausgefüllt worden. Es ließe sich beispielsweise darauf verweisen, dass es zwar eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer“ gibt, jedoch nicht für alle Bürger, oder darauf, dass die EU das gesamte Zusammenleben der Bürger fast ausschließlich von der ökonomischen Seite her denkt. Die europäische Integration in der EWG, der EG und schließlich der EU wird vornehmlich mit einer wirtschaftlichen Integration verbunden. Ich nenne nur die Stichworte „Methode Monnet“ und „Binnenmarkt“. Immer ging es um konkrete wirtschaftliche Integration, um einen Abbau der Grenzen und das heißt um eine Liberalisierung der Märkte. Ich möchte nicht missverstanden werden: Europa hat – wir alle haben – von diesem Prozess sehr profitiert. Und ich möchte auch nicht einer Europäisierung der nationalen Sicherungssysteme das Wort reden. Allerdings glaube ich, dass ein Freiheitsbegriff, der ausschließlich auf den Wirtschaftsbereich bezogen ist und als die „vier Grundfreiheiten“ der EU die Freizügigkeit der Güter, der Dienstleistungen, der Arbeit und des Kapitals ausweist, zu kurz greift. Europa muss vielmehr Freiheit und soziale Sicherheit in Einklang bringen. Das zeichnet das „europäische Modell“ aus.

II.

Meines Erachtens haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft, auf die ich im Folgenden näher eingehen möchte, eine Ordnung, die dem europäischen Verständnis vom Menschen am besten gerecht wird und die deshalb leitend für Europa sein sollte. Dazu ist aber zunächst einem oft zu hörenden Vorurteil zu begegnen, dass nämlich Markt und Ethik unversöhnliche Gegensätze seien. Man wittert die Raffgier eines rücksichtslosen Marktes, der sich bloß nach dem Recht des Stärkeren durchsetzt. In dieser Hinsicht werden dem Markt ethisch oft nur negative Eigenschaften zugeschrieben: Er kennt nur die eigenen Interessen, er gefährdet oder zerstört Solidarität, er geht nur vom Eigennutz aus, er ist blind.

In dieser Hinsicht scheint mir ein mannigfaches Umdenken notwendig zu sein. Der Eigennutz ist nämlich nicht nur eine mächtige Triebfeder wirtschaftlicher Dynamik, die man als schrankenlosen Egoismus oder zügellose Selbstsucht verstehen dürfte. Zweifellos gibt es immer wieder Anarchisten aller Schattierungen, die im Namen des Eigeninteresses absolute Freiheit fordern und Gemeinsinn sowie Ordnung leugnen. Der wahre Ausgangspunkt ist einfach: Der Einzelne will seine Existenz sichern sowie sein Los und seinen Platz in der Gemeinschaft materiell und ideell verbessern. In diesem Sinne gehört das Streben nach Existenzsicherung, Wohlstand und Anerkennung gewiss zur menschlichen Realität. Dies ist nicht möglich ohne Wettbewerb. Dieser fördert auch Innovationen, weil sich auch der Erfolgreiche nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen kann. Ein solches Selbstinteresse darf nicht einfach mit einer verwerflichen egoistischen Selbstliebe identifiziert werden. Alle Versuche, eine intakte und lebensfähige Gemeinschaft nur auf dem Prinzip des blanken Altruismus aufzubauen, müssen scheitern, wenn nicht das Eigeninteresse des Menschen klug und nüchtern mitbedacht und eingesetzt wird. Selbstinteresse und Gemeinsinn verschränken sich miteinander und sind beide Grundelemente des menschlichen Verhaltens. Der Mensch ist unglaublich fähig, wenn er sich dieser Dynamik bedient.

Wir haben hier gewiss in der deutschen Intellektuellensprache ein Problem. Es scheint mir, dass man dem Denken von Adam Smith und seinem Verständnis von Eigennutz wenig gerecht wird, indem man von vornherein ihre mögliche ethische Qualifikation leugnet oder herabsetzt. Märkte haben gewiss auch ethische Konsequenzen. Sie veranlassen z.B. die Teilnehmer, die Interessen anderer Menschen zu berücksichtigen. Wer diese Interessen überhaupt nicht beachtet, kann auf die Dauer nicht erfolgreich sein. Der Markt bestraft darum auch Faulheit und Leistungsverweigerung. Man darf ethische Triebkräfte im Marktgeschehen nicht übersehen. Der Markt setzt, wenn alles sich darauf einlässt, ungewöhnliche Kräfte frei und gibt einen mächtigen Anreiz. Freilich muss hinzukommen, dass viele Anbieter und viele Nachfrager sich möglichst unabhängig gegenüberstehen und eine wirkliche freie Marktwirtschaft erreicht wird, die weniger Manipulation zulässt. So scheinen mir beispielsweise die Ermöglichung eines dauerhaften Qualitätswettbewerbs und eine Wahlfreiheit für die Hilfesuchenden wichtige Ausgangspunkte für einen neuen europäischen Rahmen für soziale Dienstleistungen zu sein.

Nebenbei darf ich darauf aufmerksam machen, dass die Enzyklika „Centesimus annus“ von Papst Johannes Paul II., die im Jahr 1991 zur hundertsten Wiederkehr der Veröffentlichung der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ durch Papst Leo XIII. erschien, diese Struktur der menschlichen Realität, zu der auch Eigennutz und Eigeninteresse gehören, durchaus sieht und annimmt, wenn auch zugleich begrenzt: „Wo nämlich das Interesse des Einzelnen gewaltsam unterdrückt wird, wird es durch ein belastendes System bürokratischer Kontrolle ersetzt, das die Quellen der Initiative und der Kreativität versiegen lässt. Wenn Menschen meinen, sie verfügen über das Geheimnis einer vollkommenen Gesellschaftsordnung, die das Böse unmöglich macht, dann glauben sie auch, dass sie für deren Verwirklichung jedes Mittel, auch Gewalt und Lüge, einsetzen dürfen.“

Aber dies ist natürlich nur eine Seite und ein unvollständiges Bild. Es wäre eine Täuschung anzunehmen, der Markt reguliere sich ethisch total von selbst. Es gibt - wie gerade erwähnt - zwar in begrenztem Rahmen Selbstheilungskräfte, aber sie funktionieren nur, solange das „System“ selbst zum Ausgleich und zur Balance fähig ist und dazu bereit bleibt. Man darf die ethische Gefährdung des Marktes nicht übersehen. Monopole und Oligopole verzerren und manipulieren die Preise. Die Märkte können freilich auch von der Nachfrageseite her Machtstrukturen ausgeliefert werden, wie z.B. in der Rüstungsindustrie offenkundig wird, wo es nicht selten nur einen Nachfrager gibt. Der Markt zwingt uns auch nur dazu, den Interessen kaufkräftiger Nachfrager zu dienen. Er schaut nicht auf alle Bedürftigen. Wer nicht kapitalkräftig ist, interessiert mindestens jetzt nicht oder interessiert sehr viel weniger. Für seltene Krankheiten wird weniger geforscht. Es ist deshalb sehr schwierig, dass der Markt an ihm selbst Unbeteiligte ins Auge fasst oder gar berücksichtigt.

III.

Es hat durchaus auch im diakonischen Handeln, wo es um extrem Bedürftige geht, einen gewissen Sinn, bis zu einem bestimmten Grad stärker marktwirtschaftliche Gesichtspunkte und auch Elemente des Wettbewerbs einzuführen, aber es würde scheitern, wenn es sich nur nach diesem Denken ausrichten würde. Man muss immer auch auf diejenigen schauen, die auf dem Markt nicht mithalten können, obgleich sie nicht das ganze System bestimmen dürfen. Die Märkte dürfen sich nicht selbst überlassen werden, denn in der reinen Marktwirtschaft bedrohen Konzentration und Missbrauch wirtschaftlicher Macht die Freiheit des Einzelnen. Außerdem liefert der Markt weder öffentliche Güter noch Einkommen für diejenigen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen können.

Hier muss man nach zwei Seiten kämpfen. Auf der einen Seite gibt es ein immer wieder ungeheures Misstrauen gegen die Freiheit, die sonst überall schnell in Anspruch genommen wird. Wir können den Missbrauch der Freiheit nicht ausschließen, wir dürfen sie aber deshalb auch nicht grundlegend beschränken. Es braucht ein Vertrauen, dass die Freiheit im Ganzen mehr Dynamik zum Guten als zum Schlechten auslösen wird. Dennoch muss unserem freien, zunächst unbegrenzten Streben immer auch die sozial-ethische Verantwortung eingeimpft werden. Die Zügellosigkeit der Interessen ist nicht bloß ein Märchen. Es ist nach wie vor eindrucksvoll, dass gerade Ordoliberale wie Walter Eucken und Wilhelm Röpke sich des ständigen Vorgehenmüssens gegen alle Machtstrukturen bewusst waren. Gerade deswegen fordert Walter Eucken stets wieder den „vollständigen Wettbewerb“.

Hier setzt die Verantwortung des Staates ein. Dieser soll freilich wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln nicht behindern, sondern die freie Entfaltung des Einzelnen gewährleisten. Der Staat soll nicht die Produktion lenken, sondern die Rahmenbedingungen setzen, die die Freiheit des Marktes erst ermöglichen. Der Staat kann die Zukunft nicht planen, sondern muss Rahmenbedingungen gestalten, mit denen eine ungewisse Zukunft bewältigt werden kann. Es muss eine Offenheit für verschiedene, alternative Gestaltungsmöglichkeiten geben. Dies gilt in gleicher Weise für die Europäische Union, die zwar nicht selbst Staat ist, aber als supranationale politische Ordnung weitreichende Kompetenzen insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet hat und ein bestimmender Faktor für das Leben der Menschen in Europa ist.

Das Konzept, das darauf zielt, Rahmenbedingungen zu definieren, die eine echte Freiheit mit sozial-ethischer Verantwortung zusammenbringen, fassen wir in Deutschland unter dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. Ich meine, dass dies auch für die Europäische Union die leitende Konzeption sein sollte.

Es gibt auch andere Begrifflichkeiten und es ist bekanntlich nicht so leicht, Liberalismus, Neoliberalismus, Ordoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft schon rein begrifflich voneinander ausreichend abzuheben. Ich möchte dies hier nicht im Einzelnen versuchen. Es gibt jedenfalls aus unterschiedlichen, wenn auch mitunter zusammenhängenden Ausgangspunkten gemeinsame Perspektiven in Richtung der Sozialen Marktwirtschaft, die mit so verschiedenen Namen wie Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack verbunden sind.

Zum ersten Mal scheint Müller-Armack unmittelbar nach dem Krieg 1946 den Namen Soziale Marktwirtschaft verwendet zu haben, wenn damit auch noch nicht feststeht, dass er wirklich der Schöpfer des Begriffes ist, obgleich er dies für sich in Anspruch nimmt. Der Name ist Programm. Deshalb schreibt Müller-Armack Soziale Marktwirtschaft immer groß, was vielleicht zu wenig beachtet wird. Müller-Armack geht jedenfalls von der Tatsache aus, dass das Soziale nicht nur eine allgemeine Beiordnung, sondern ein ebenbürtiges Prinzip wirtschaftlicher Aktivität darstellt. Jedenfalls erscheint der Begriff Soziale Marktwirtschaft bei Müller-Armack zum erstenmal in schriftlicher Form. Bis dorthin spricht er selbst eher von „gesteuerter Marktwirtschaft“. Dabei muss man auch einräumen, dass ein vermittelnder Weg zwischen liberaler Marktwirtschaft und zentral gelenktem Sozialismus in der Nationalökonomie schon länger vorbereitet wurde. Die Automatik des Marktes kann allein keine soziale Ordnung schaffen. Sie kann auch nicht die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus berücksichtigen. Deshalb muss die Marktwirtschaft grundlegend sozial ausgerichtet sein, damit in ihr nicht nur dem Ideal der Freiheit, sondern auch dem der sozialen Gerechtigkeit entsprochen werden kann. Darum wehrt sich Müller-Armack auch gegen eine vermeintlich unabhängige Eigengesetzlichkeit marktwirtschaftlicher Strukturen.

Bei der näheren Bestimmung der Sozialen Marktwirtschaft möchte ich ausgehen von der Überzeugung, dass Soziale Marktwirtschaft eine außerordentliche, nicht auflösbare Spannung enthält, der man sich stets bewusst bleiben muss. Markt und Lenkung werden zu einem komplementären Ausgleich geführt. Damit werden zwei Grundsätze, die weithin als unvereinbar erschienen, einander zugeordnet. Es genügt also nicht zu denken, Soziale Marktwirtschaft sei Marktwirtschaft plus Sozialpolitik. Manche ziehen daraus die Konsequenz, die Marktwirtschaft sei um so sozialer, je mehr umverteilt werde. Dies wäre aber ein unhaltbares Missverständnis. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft beinhaltet vorrangig die Grundsätze von Selbstverantwortung und Subsidiarität. Der Staat hilft dem Einzelnen, wenn dieser aus eigener Kraft nicht in der Lage ist. Umgekehrt heißt dies jedoch auch, dass die sozialpolitische Unterstützung bei einem steigenden allgemeinen Wohlstand nicht wachsen kann, sondern eher zurückgenommen werden muss.

Zwei Extrempositionen wären so nach Müller-Armack im Konzept Sozialer Marktwirtschaft vermieden: Die Anfälligkeit der Marktwirtschaft, z.B. im Sinne eines schonungslosen Wettbewerbs, muss bewusst gemacht werden; auf der anderen Seite kann eine Überbetonung des sozialen Gedankens mindestens langfristig in eine gelenkte Form der Wirtschaft führen. Entscheidend ist die gegenseitige Ergänzung. Es wird dadurch auch erkennbar, dass die Soziale Marktwirtschaft immer wieder des Ausgleichs bedarf. Sie darf nicht einseitig belastet werden. Dann bricht sie notwendigerweise zusammen. Jedes Testen der Belastbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft ist in diesem Sinne gefährlich, wenngleich etwa die Tarifparteien beim „Aushandeln“ ihrer Positionen so etwas mit Augenmaß und gegenseitiger Rücksicht stets versuchen müssen. Gemeint ist ja eher ein mutwilliges, rücksichtsloses, letztlich ideologisches Testen und Belasten.

Man sollte nicht vergessen, dass die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als freiheitliche und menschengerechte Alternative nicht nur zur zentral geplanten staatlichen Zwangsverwaltungswirtschaft, sondern ebenso zum reinen Laissez-faire-Kapitalismus erdacht und verwirklicht worden ist. Sie entstammt der durchaus kritischen und von Anfang an mit einer ethischen Fragestellung versehenen Grundfrage, wie denn der modernen Industriegesellschaft eine funktionsfähige und zugleich menschenwürdige Ordnung gegeben werden könnte. Dieser Ansatz ist wichtig, weil mit Sozialer Marktwirtschaft keineswegs das liberalistische Freibeutertum einer vergangenen Epoche, auch nicht das naiv vorgestellte „freie Spiel der Kräfte“ gemeint ist, sondern eine Form des Wirtschaftens, die das einzelne Individuum mit seinen Fähigkeiten und seiner Verantwortung zur Geltung kommen lässt, aber auch die soziale Gerechtigkeit unseres Gemeinwohls nicht aus dem Auge lässt. Die Soziale Marktwirtschaft gründet sich auf souverän handelnde Menschen, deren freie Entscheidungen bei aller Prägung auch durch die Situation am Ende doch in der Eigenverantwortlichkeit begründet sind.

In diesem Zusammenhang ist es darum wichtig, dass die Soziale Marktwirtschaft eigentlich gar nicht ein „System“ im engeren Sinne darstellt, das eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gewährleistet. Marktwirtschaft in diesem Sinne ist sehr viel mehr ein offenes Gefüge von wirtschaftlichen Verhaltensweisen, entspricht viel eher einem „Stil“ des Umgangs mit der wirtschaftlichen Realität. Darum ist es auch konsequent, dass die geistigen Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht nur die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns deutlicher herausgestellt haben, sondern sie wussten um das sich gegenseitig bedingende Geflecht von Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie, von individueller Anstrengung und sozialer Verantwortung, von Privateigentum und seiner Sozialpflichtigkeit. Die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft setzten hier von ihrer Kultur und Humanität her Verhaltensweisen voraus, die man gewiss nicht als „Sekundärtugenden“ relativieren darf.

Es sind gerade Voraussetzungen, die heute relativ wenig thematisiert werden. Im Umkreis der Marktwirtschaft braucht es nämlich auch vernünftige Lebensplanung, Familiensinn, feste moralische Bindung, mehr Selbstverantwortung, Achten auf die Rangordnung der Werte und Subsidiarität mit der notwendigen Solidarität. Dies lässt sich leicht aus den Schriften der Gründerväter ablesen. Bei allem sozialen Wandel, der inzwischen eingetreten ist, wird man nicht behaupten dürfen, diese angeforderten Verhaltensweisen seien unauflösbar mit einem überholten Gesellschaftsstatus verquickt. In der konkreten Ausgestaltung muss sich gewiss jede Generation hier um eine eigene Prägung bemühen, aber dies gilt nicht für die grundsätzliche Intention und das Erfordernis eines solchen Verhaltens überhaupt. Gerade Ludwig Erhard hat den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin gesehen, dem einzelnen Menschen reichere und bessere Lebensmöglichkeiten und damit überhaupt neue Perspektiven der Lebensführung zu eröffnen. „Wohlstand für alle“ ist die Kurzformel dafür.

IV.

Hier besteht auch kein Widerspruch oder eine Spannung zwischen der recht verstandenen Katholischen Soziallehre und den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft, die sich freilich auch immer wieder gegen Missbrauch und Missdeutung wehren muss. Ich bin der festen Überzeugung, dass spätestens mit der Päpstlichen Enzyklika „Centesimus annus“ zwischen der Sozialen Marktwirtschaft und der Katholischen Soziallehre eine entscheidende Annäherung und geradezu eine Art von Versöhnung stattgefunden hat, und zwar in folgender Hinsicht:

1. Es wird ein Wirtschaftssystem bejaht, das die grundlegende und positive Rolle des Marktes, des Privateigentums, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt. Der freie Markt – so die Enzyklika – „scheint das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein.“

2. Die Enzyklika würdigt über alle bisherigen Ansätze hinaus die fundamentale Rolle des Unternehmers neben Kapital und Arbeit.

3. Im Zusammenhang der Betonung des Subsidiaritätsprinzips stellt die Enzyklika in Richtung eines überdehnten Wohlfahrtsstaates fest: „Der Wohlfahrtsstaat, der direkt eingreift und die Gesellschaft ihrer Verantwortung beraubt, löst den Verlust an menschlicher Energie und das Aufblähen der Staatsapparate aus, die mehr von bürokratischer Logik als von dem Bemühen beherrscht werden, den Empfängern zu dienen: Hand in Hand geht damit eine ungeheure Ausgabensteigerung.“ Noch vieles ließe sich anführen.

Von hier ausgehend kann nicht verschwiegen werden, dass die Soziale Marktwirtschaft im Lauf der Jahrzehnte in Deutschland vielfach überlagert worden ist durch gewisse Entwicklungen, die die Grundprinzipien auszuhöhlen drohten: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb. Die Diagnose ist auch bei Vertretern verschiedener Tendenzen ziemlich konsensfähig: Das Einwirken des Staates und seine Ansprüche sind mehr und mehr gewachsen. Schon der demographische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der Sozialen Sicherung. Wir brauchen an den Rändern mehr Eigenbeteiligung, um die Grundrisiken für möglichst alle Menschen abdecken zu können, denn diese können die allermeisten nicht selber tragen. Dennoch bleibt richtig: Es braucht mehr Hilfe zur Selbsthilfe. Arbeit muss sich mehr lohnen als Nichtarbeit. Im Sozial- und Arbeitsrecht muss manches überdacht und verbessert werden, was die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. Auf diesem Weg muss die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit grundlegend verringert werden. Dazu bedarf es auch einer Entlastung von Steuern und Abgaben, um mehr Spiel- und Freiräume für die Eigeninitiative zu ermöglichen. Die Tarifpolitik muss den Unternehmen in Absprache mit den Gewerkschaften mehr Gestaltungsspielraum gewähren. Nicht nur mehr Leistung muss sich lohnen, auch qualifizierte Bildung und Ausbildung müssen viel mehr anerkannt werden. Die Bildungspolitik ist ein ganz entscheidendes Element jeder Reform. Der Wettbewerb auf den globalisierten Märkten lässt uns dafür nicht viel Zeit.

Dass es in allen diesen Hinsichten einer Erneuerung in vielen Ländern Europas bedarf, steht außer Zweifel. Dabei schließen diese reformerischen Akzente mit gleichem Gewicht die Sorge für den wirklich Bedürftigen und Schwachen ein. Für Deutschland haben wir dies im Impulstext der Deutschen Bischofskonferenz unter dem Titel „Das Soziale neu denken“ bedacht. Hier wie in vielen Ländern Europas gilt: Wir müssen den großen, untereinander verbundenen Herausforderungen des demografischen Wandels, der Aushöhlung von Solidaritätsräumen wie der Familie, der anhaltenden Arbeitslosigkeit, der europäischen Integration und der Globalisierung offensiv begegnen. Das erfordert grundlegende Veränderungen unserer sozialpolitischen Strukturen, insbesondere unserer sozialen Sicherungssysteme und unseres Steuersystems. Es gilt nach wie vor: Wenn wir nichts ändern, keine weiteren Reformen wagen, setzen wir den Sozialstaat aufs Spiel. Wenn nichts getan wird, werden im Ergebnis die Schwachen die Leidtragenden sein, weil sie in besonderer Weise auf die Förderung durch den Sozialstaat angewiesen sind. Aus dieser Perspektive sind Reformen eine Frage der Gerechtigkeit und nicht nur aus ökonomischen Gründen notwendig. Zu den Schwächsten, die in den Blick zu nehmen sind, und die die Kirche in besonderer Weise in den Mittelpunkt stellt, zählen die nachfolgenden Generationen, die sich nicht selbst artikulieren können und denen die ungeheuren Schulden öffentlicher Haushalte und ein kollabierendes Sozialsystem zufallen. Aber auch im Blick auf die heute Aktiven gibt es Ungerechtigkeiten, die es zu bekämpfen gilt. Ich erinnere nur an die schwierige Situation vieler Familien und die Lage der Langzeitarbeitslosen.

Diese sehr grundlegende Reformpolitik muss von einer Veränderung der Verfahrensweisen und einem Wandel der Mentalitäten begleitet werden. Wir alle müssen dazu beitragen, mentale Blockaden überwinden zu helfen. Unsere Texte sprechen deshalb auch von der „Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land“. Entwicklung darf aber nicht mit Abriss oder Abbau gleichgesetzt werden, wohl ist es mit einem Umbau verbunden. Eintreten für einen tief greifenden Umbau des Sozialstaats entspringt der uns aufgetragenen Sorge für die Armen. Für diejenigen, die der Unterstützung und auch des Schutzes, den der Sozialstaat gewährt, bedürfen, muss der Sozialstaat zukunftsfest gemacht werden.

Dass die europäischen Staaten ihre sozialen Sicherungssysteme reformieren, ist eine Grundvoraussetzung für soziale Gestalt Europas. Nur mit einer langfristigen Reformperspektive wird das europäische Modell eine Zukunft haben. Hinzutreten muss aber verstärkt ein ordnungspolitischer Rahmen auf europäischer Ebene, der die freie Entfaltung des Marktes verbindet mit einer gleichrangigen sozial-ethischen Verantwortung, wie sie uns in der Sozialen Marktwirtschaft begegnet. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip muss jede Ebene ihren Beitrag zur sozialen Gestalt Europas leisten: die Regionen etwa, indem sie den wirtschaftlichen Wandel befördern, die Mitgliedstaaten, indem sie die sozialen Sicherungssysteme reformieren und die Europäische Union, indem sie ihre ordnungspolitischen Rahmensetzungen zunehmend im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet.

Die ursprüngliche Hoffnung Europas, mittels institutionalisierter Zusammenarbeit liberale Wirtschaftsordnung und solidarische Gesellschaftsordnung in eine gute Balance zu bringen, muss wiedererweckt werden, wie wir kürzlich in einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge deutlich gemacht haben. Nur so werden auch die Menschen Europa wieder als ihr Anliegen begreifen. Noch so ambitionierte Programme zur Förderung der Wirtschaft und ein Maßnehmen Europas an anderen Wirtschaftsräumen auf der Welt dürfen sich nie gegen die Menschen wenden. Konkret bedeutet dies beispielsweise, dass die soziale Dimension des Lissabon-Prozesses besonders betont werden muss. Auch ist es notwendig, dass die Europäische Union in ihrer gesamten Politik stärker die Bedürfnisse der Familien in den Blick nimmt, wie es die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE), in der die EU-Bischofskonferenzen zusammengeschlossen und hier in Brüssel vertreten sind, 2004 in einer „Familienstrategie für die Europäische Union“ gefordert hat. Europa muss den Menschen stärker ins Zentrum rücken. Schon vor fünfzig Jahren waren die europäischen Einrichtungen auch Instrumente, die den Menschen Sicherheit gaben in einer Zeit zunehmender grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen – man denke nur an die Probleme der sogenannten Wanderarbeitnehmer. Um wie viel mehr kann die Europäische Union heute eine Antwort auf die für viele beängstigenden Bedingungen einer globalisierten Welt sein.

Die europäische Einigung der letzten fünfzig Jahre ist eine Erfolgsgeschichte. Damit Europa aber auch seiner Verantwortung in der Zukunft gerecht werden kann, braucht es eine gut funktionierende innere Ordnung, die die Europäische Union auch dann, wenn sie eines Tages wirklich alle europäischen Völker vereint, nach innen und außen handlungsfähig macht. „Europa ist ein Beitrag für eine bessere Welt“, so hat Jean Monnet, einer der Begründer der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg, unseren geeinten Kontinent einmal charakterisiert. Dies ist eine Chance, aber auch Verpflichtung.

Diese Fragen müssen jedoch geklärt werden, damit auch eine positive Stimmung für dieses Europa wieder gewonnen wird. Die Antwort darf jedoch die kulturelle Identität Europas und damit auch die Bildungsaufgabe nicht unterschätzen. Sonst kann es auf die Dauer auch keine Integration der vielen Dimensionen eines neuen Europa nicht geben, zu denen vor allem auch die kulturelle Identität und die soziale Solidarität gehören, die nicht ohne gegenseitige Befruchtung für sich allein bestehen können.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Redemanuskript - Es gilt das gesprochene Wort 

Im Original sind eine Reihe von Fußnote, Anmerkungen und Literaturhinweisen enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz