Feier des Bistumspatroziniums St. Martin

Datum:
Sonntag, 13. November 2005

Predigt im Jubiläumsgottesdienst anlässlich des Goldenen Priesterjubiläums von Herrn Domkapitular em. Prälat Ernst Kalb, des 80. Geburtstages von Herrn Dompfarrer em. Guido Becker und Dompräbendat em. Helmut Hanschur, des 65jährigen Priesterjubiläums von Herrn Ehrendomkapitular Heinrich Bardong und des 60. Geburtstages von Herrn Ehrendomkapitular Propst Engelbert Prieß am 13. November 2005 im Mainzer Dom

Verehrte Jubilare, besonders Herr Domkapitular Kalb,

liebe Mitbrüder, liebe Angehörige und Freunde unserer Jubilare,

liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Über 30 Mal - vom hohen Dach bis in die Sakristei - gibt es Darstellungen des hl. Martinus in unserem Dom. Ein Zeichen, wie tief und intensiv die Jahrhunderte Spuren und Zeichen hinterlassen haben von der großen Verehrung des hl. Martinus; angefangen vom fränkischen Reich bis zur heutigen Volksfrömmigkeit. Es gibt wohl kaum einen Heiligen, der so sehr mit einer einzigen Szene aus seinem Leben identifiziert wird wie Martinus mit dem Schwertstreich, durch den er seinen Mantel teilt und ihn am Stadttor von Amiens einem Bettler gibt. Ich freue mich, dass wir auch in unserer Stadt aus neuerer Zeit Martinusdarstellungen haben. Sie stehen bewusst in der Öffentlichkeit unseres Lebens und sprechen auch in der Gestalt moderner Kunst deutlich zu uns und zu unseren Zeitgenossen.

Wenn man das Leben des hl. Martinus, soweit es uns zugänglich ist, ansieht, dann spürt man natürlich auch - was gar nicht anders zu erwarten war -, dass er viele andere Aufgaben hervorragend gemeistert hat. Es fing schon früh an. Vor wenigen Jahren durfte ich an diesem Tag in seiner ungarischen Heimat in der Nähe der Erzabtei Pannonhalma den Festgottesdienst feiern. Da konnte ich spüren, wie man gerade auch den jungen Martinus in seiner ungarischen Heimat, wo der Vater ein hoher Militär war, verehrt. Schließlich hat er mit 18 Jahren, obwohl er eine großartige Karriere vor sich gehabt hatte, alles zurück gelassen und ist mit letzter Radikalität Christ geworden. Eigentlich wollte er sich in die Abgeschiedenheit eines Klosters zurückziehen. Aber die Zeit brauchte Männer seines Schlags, tief verwurzelt im Glauben, aber auch fähig zur öffentlichen Vertretung des christlichen Glaubens und der Kirche. Wenn wir heute zugleich das Jubiläum unserer Mitbrüder feiern, wollen wir versuchen, beides - das Fest des hl. Martinus mit seiner bleibenden Bedeutung, aber auch die dankbare Erinnerung an das Wirken und Leben unserer Mitbrüder - zu verbinden.

Herr Domkapitular Kalb versah in Lampertheim und Alzey als Kaplan, später in Lampertheim als Religionslehrer seinen Dienst. Ab 1964 kam er zu uns nach Mainz und baute als engster Mitarbeiter des damaligen Domdekans, Dr. Hermann Berg, zwölf Jahre unsere Schulen auf- und aus. 1986 übernahm er selbst bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000, als ihm Frau Dr. Pollak nachrückte, die Verantwortung für diesen Bereich „Schulen und Hochschulen“.

Ich freue mich auch, dass wir am heutigen Tag zwei 80. Geburtstage feiern. Unser verehrter langjähriger Dompfarrer Guido Becker und Herr Geistlicher Rat und Dompräbendat Helmut Hanschur, der sein Leben in ganz besonderer Weise der Erwachsenenbildung in unserem Bistum gewidmet hat, dem Ausbau der Bildungswerke in allen Regionen, blicken heute auf acht Lebensjahrzehnte zurück. Schließlich schauen wir dankbar ein wenig voraus, wenn unser rüstiger Ehrendomkapitular Heinrich Bardong kurz vor Weihnachten sein 65. Priesterjubiläum feiern darf. Ein weiterer Anlass zum Feiern ist auch, dass unser Ehrendomkapitular Engelbert Prieß, einige Zeit lang hier bei uns im Ordinariat zuständig für die Räte und jetzt Propst am wichtigen Dom in Worms, seinen 60. Geburtstag feiert. Ihm und allen wollen wir ganz herzlich danken für ihr Mitwirken und für die große seelsorgliche Bereitschaft, außerhalb von der Stadt Mainz im Bistum immer auch die enge Verbindung mit uns zu halten.

Als ich mich gefragt habe, wie man dies ohne Künstlichkeit auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann, dachte ich zuerst an die Werke der Barmherzigkeit. Denn die Geste des hl. Martinus, seinen eigenen Mantel zu teilen, ist ja ein ganz unübersehbares Zeichen der Barmherzigkeit. Lange schon unterscheidet die Kirche die leiblichen Werke der Barmherzigkeit und die geistigen Werke der Barmherzigkeit. Es sind jeweils sieben: eine Tradition, die wir fast ein wenig vergessen haben, die längst nicht mehr die Rolle spielt, die sie mit Recht über viele Jahrhunderte in der Kirche spielten. Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit sind: die Hungrigen Speisen, den Dürstenden zu trinken geben, die Fremden aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, die Toten begraben. Aber dann hat man auch sorgfältig von diesen leiblichen Werken der Barmherzigkeit ebenfalls sieben geistige Werke der Barmherzigkeit unterschieden und hinzugefügt: die Unwissenden lehren, den Zweifelnden Recht raten, die Betrübten trösten, die Sünder zurechtweisen, die Lästigen geduldig ertragen; denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen, für die Lebenden und für die Toten beten.

Ich denke, Martinus ist ein Meister in den leiblichen und den geistigen Werken der Barmherzigkeit. Wenn man denkt, was er getan hat als Bischof in Tours; was er aber auch erlitten hat, als er verfolgt worden ist von den Arianern der damaligen Zeit, die nicht an die göttliche Herkunft Jesu Christi glauben wollten. Die Arianer meinten, Jesus sei zwar ein edles, höchstes Geschöpft, aber doch nicht im strengen Sinne Sohn Gottes. Da hat Martinus in außerordentlicher Weise auch viele der erwähnten geistigen Werke vollzogen. Er war ein Ratgeber für viele Menschen, die zu ihm kamen. Er blieb abgeschieden im klösterlichen Leben, auch dann, wenn er öffentliche Verantwortung trug. Ich denke schon, das erste Werk geistiger Barmherzigkeit hatte auch viel zu tu mit dem, was unsere Jubilare in ihrer jahrzehntelangen Arbeit getan haben. Ebenso haben sie auch alle anderen Werke, die zur Seelsorge gehören, mitvollzogen. Aber es ist nicht unwichtig, dass an erster Stelle der geistigen Werke steht, die Unwissenden zu lehren.

Wir haben vielleicht zu sehr vergessen, wie sehr im christlichen Glauben von Anfang an Erziehung und Bildung eine ganz entscheidende Rolle spielen. Man meinte gerade in der alten Welt, das Christentum bringe ein neues Ideal der Erziehung und der Bildung. Deshalb hat man auch von Anfang an auf so etwas wie Schulen abgezielt. Man hat die Bildung der Zeit einbezogen und wusste, dass man den christlichen Glauben verkünden muss in anderen Sprachen, in anderen Kulturen. Der Glaube ist nicht einfach an eine bestimmte Kultur gebunden. Man muss zur Übersetzung des Glaubens viel lernen. So mussten die Glaubensboten viele Missverständnisse bei den Adressaten beseitigen, weil diese ja immer noch ihren Götzen anhingen. Deswegen war das Werk, Unwissende zu lehren, ein ganz wichtiges Element. So konnte man etwa die Dämonenangst von den Menschen wegnehmen, überhaupt die Angst vor kosmischen Mächten. So konnten die Menschen zu einer Freiheit geführt werden, die durchaus auch etwas zu tun hat mit dem, was wir heute freilich etwas verengt „Aufklärung“ oder „Bewusstseinserhellung“ nennen. Freiheit und Vernunft wurden den Menschen gefördert. Wir sollten das nicht einfach denen überlassen, die damit oft etwas ganz anderes verbinden. Die Unwissenden zu lehren, das ist und bleibt das erste geistige Werk der Barmherzigkeit. Wir versuchen damit, Orientierung zu geben. Mitten in der Wirrnis und Irrnis unserer Tage tun wir dies erst Recht. Es hat auch tief zu tun mit der Orientierung durch die Bildung und Erziehung in christlichen Einrichtungen und Institutionen. Wenn wir das bedenken, dann spüren wir auch, dass wir etwas Fundamentales für heute lernen können: Bildung und Erziehung sind nicht einfach Funktionen, um Menschen auszubilden – so wichtig es ist, dass wir lernen, um einen tüchtigen Beruf ergreifen zu können.. Bildung und Erziehung sind nicht einfach sozusagen verpackte Wissensmaterialien, die man wie von einem Berg alle der Reihe nach abtragen und abhaken kann. Bildung und Erziehung haben vielmehr zutiefst etwas mit der Person des Menschen zu tun. Es hilft bei der Bildung der Persönlichkeit, es ist durch und durch persönliche Bildung.

Damit ist nicht nur die Bildung des Verstandes gemeint, es ist auch die Bildung des Herzens. Wir können andere Menschen werden: Menschen aus Glaube, Hoffnung und Liebe. Wir können als Menschen sensibler werden, Menschen mit echter Menschlichkeit. Wir können dann nicht nur an uns selbst denken, sondern müssen uns immer wieder überschreiten auf Gott und den Nächsten hin. Das ist das Wichtigste, dass wir dabei auch unsere Kenntnisse erweitern, unseren Horizont verbreitern; dass wir unsere Welt besser verstehen; dass wir auch unser Bewusstsein erweitern und dass wir unser Wissen verbessern. Das soll in keiner Weise fehlen. Bildung hat schließlich immer etwas mit sozialer Kompetenz zu tun. Wir lernen in der Bildung auch, mit anderen umzugehen. Dann können wir im Umgang mit anderen wirklich auch über uns hinauswachsen. Unwissende lehren: Das dürfen wir ruhig in dieser Weite und in dieser Tiefe verstehen.

Meine lieben Schwestern und Brüder,

wir wissen zwar nicht immer von vornherein, was man wirklich braucht in der Bildung und Erziehung; was etwas taugt oder nichts taugt. Wehe, wenn Bildung und Erziehung glauben, man könne alles im Voraus bestimmen, und dann nur das lehren und lernen, was unmittelbar nützlich ist, was direkt zur Anwendung fähig ist. Es gibt Dinge, bei denen man nun nicht von vornherein weiß, ob man sie je brauchen wird. Aber wenn wir Vernunft, Verstand und Herz bilden, gewinnen wir Einsicht in viele Bereiche, die zuerst oberflächlich betrachtet beinahe wertlos erscheinen: etwa Kunst und Spiel und Religionen. Doch es zeigt sich, dass gerade sie sie eine besondere Notwendigkeit haben in unserem Leben. Wenn wir darauf verzichteten, gäbe es keine gute Theorie - im besten Sinn des Wortes - und damit auch keine Erfindungen und auch kein schöpferisches Wesen des Menschen, wenn wir nicht auch zwecklos erkennen. Wir müssen nicht sofort einen Sinn mit allem verbinden. Wir dürfen suchen, erkennen, forschen. Oft sind die größten Entdeckungen gemacht worden auf diesem absichtslosen Weg.

Meine lieben Schwestern und Brüder, das wird in unseren Bildungsdebatten, auch in der Pisa-Studie und in vielen anderen Dingen heute oft vergessen. Bildung und Erziehung bilden in diesem Sinne doch eine eigene Einheit. Unser abendländisches Verständnis von Bildung und Wissen über viele Jahrhunderte haben dazu geführt, es so zu verstehen. Ich denke, die Unwissenden zu lehren ist ein Werk der geistigen Barmherzigkeit, aber die anderen gehören hier dazu und alle zusammen. Den Zweifelnden Recht raten, die Betrübten trösten usw.: Das kann man wirklich nur, wenn man selbst eine entsprechende Tiefe hat; wenn man selbst genügend gelernt hat in dieser Tiefe. Dann kann man auch wirklich Rat geben; nur dann kann man am Ende auch Recht raten.

So sind wir dankbar, dass wir mit Domkapitular Ernst Kalb und mit den anderen Mitbrüdern, die in ganz besonderer Weise in der Schule tätig waren und Bildungswerke aufgebaut haben, Priester haben, die auch in der Seelsorge immer das getan haben: Unwissende zu lehren. So freuen wir uns, dass wir immer wieder Männer und Frauen finden, die diesen Auftrag annehmen und ihn für uns alle als Dienst erfüllen. Darin sehen wir auch den Auftrag der Kirche. Noch nie hat es z.B. wirkliche Mission gegeben, ohne dass gerade auch dieser Auftrag eine ganz entscheidende Bedeutung hatte: die Menschen zu befreien von Ängsten, von magischen Praktiken, von allen möglichen irreführenden Vorstellungen. Im Glauben an Gott können sie so wirklich auch zu wahrer Freiheit geführt werden. So wollen wir danken und unseren Mitbrüdern ein herzliches Vergelt´s Gott sagen. Wir wollen uns daran ein Beispiel nehmen und versuchen, dass wir alle, jeder und jede an seinem Platz, mithelfen, diesen Auftrag zu erfüllen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Leicht bearbeitete Bandabschrift

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz