Freiheit braucht Ethik

6. Berliner Rede der Friedrich-Naumann-Stiftung zur Freiheit - am Brandenburger Tor, 25. April 2012 in Berlin

Datum:
Mittwoch, 25. April 2012

6. Berliner Rede der Friedrich-Naumann-Stiftung zur Freiheit - am Brandenburger Tor, 25. April 2012 in Berlin

Zunächst möchte ich mich für die Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung „Berliner Rede zur Freiheit" und die Begrüßung durch den Vorstandsvorsitzenden, Herrn Dr. Wolfgang Gerhardt MdB, herzlich bedanken. Eine solche Rede unmittelbar neben dem Brandenburger Tor stellt einen hohen Anspruch. Ich weiß mich dankbar auch den fünf ersten Rednern und ihren Ausführungen verbunden.

I. Zum Vorverständnis von Freiheit
Jeder hat eine konkrete Vorstellung von Freiheit. Dies soll nicht heißen, dass es nicht einen gemeinsamen Sinn von und für Freiheit gibt. Aber die Vorstellungen sind so verschieden wie die Lebensanschauungen der Menschen. Es ist darum auch eine intellektuelle Anstrengung, zu einem gemeinsamen Begriff der Freiheit zu gelangen, der eine überzeugende Aussagekraft hat und so etwas wie ein Auffangbecken für die einzelnen Optionen darstellt.

Die Freiheit ist vor allem ein Schlüsselbegriff der europäischen Neuzeit. Sie unterscheidet sich von anderen Epochen vielleicht gerade durch den Rang, den die Freiheit in ihrem Verlauf gewonnen hat. Ihr Verständnis ist freilich nicht einfach. Ich will wenigstens einige Mehrdeutigkeiten erwähnen. Es gibt zunächst einmal Freiheit im emanzipatorischen Sinn, der vor allem auf die Unabhängigkeit bzw. die „Freiheit wovon" zielt. Man wendet sich besonders gegen alle Zwänge, ob physisch, sozial oder auch geistig-moralisch. Diesem Verständnis steht ein mehr konstruktiver Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung gegenüber. Es ist also mehr die „Freiheit wozu". Eine andere Mehrdeutigkeit betrifft die unterschiedlichen Bereiche, z. B. den Markt, zivil- und öffentlich-rechtliche Verhältnisse. Die personale Freiheit eines natürlichen Subjektes ist etwas anderes als die rechtliche und politische Freiheit. Manchmal ist die Freiheit auch als eine bereits gegebene Wirklichkeit verstanden, z. B. in einem Gemeinwesen die Gruppe der „Freien"; viele sehen aber im Stichwort Freiheit eine Forderung, einen Aufruf, einen Anspruch (z. B. auf Rechtsschutz), ja ein regelrechtes Fanal in Richtung einer Revolution. Darin liegt ein „Potenzial zu einer Universalisierung, die das Privileg gewisser Gruppen bricht und die Freiheit zum Merkmal jedes Menschen werden lässt. Als Vorrecht jetzt aller Menschen verliert es seine diskriminatorische Kraft: Mit der Abschaffung der Sklaverei wird jeder Mensch zu einem freien Rechtssubjekt."

Schließlich gibt es Stufen in der Realisierung von Freiheit. Manchmal verfügen einige bereits über die Freiheit. Andere müssen erst befreit werden. Dabei gibt es keine gradlinige Evolution von den wenigen zu den vielen. Vielmehr gibt es Rückschritte und Fortschritte, Brüche und Revolutionen. Freilich sind auch den Menschen in verschiedenen Situationen Stufen der Freiheit zu eigen, z. B. dem Kind in anderer Weise als dem Erwachsenen, dem Armen anders als dem Reichen, dem Kranken weniger als dem Gesunden. „Ferner hat jemand desto mehr Freiheit, je mehr er aufgrund von Intelligenz und Erfahrung Handlungsmöglichkeiten sieht und je mehr aufgrund von Temperament und Charakter die Möglichkeiten auch zu ergreifen vermag. Weiterhin ist man um so befreiter, je weniger Zwänge die Gesellschaft und der Staat ausüben." Man sollte auch eine letzte Bedeutung von Freiheit nicht verschweigen, die es seit den Griechen gibt. Nach Aristoteles ist frei, wer, statt an seinem Vermögen zu hängen, geizig zu sein oder es aber auch zu verschwenden, mit den äußeren Gütern und Ressourcen souverän umgeht, was sich dann auch durch Großzügigkeit und Freigebigkeit äußert. Dies ist ja der ursprüngliche Sinn von liberalitas, Liberalität.

II. Freiheit und ihre Entgegensetzungen
Es ist deutlich, dass bereits in der Antike das Verständnis der Freiheit mit verschiedenen Entgegensetzungen verbunden ist. Man wehrt sich gegen verschiedene Ketten, an die man gebunden ist oder wird. Damit sind Zwänge und Notwendigkeiten, „Schicksal" und Zufall gemeint, aber auch Aberglaube und andere bestimmende Faktoren können die Freiheit behindern und erschweren. Dabei muss man sich hüten, rasch auf die so genannte „innere Freiheit" auszuweichen, wenn viele äußere Hindernisse das Freisein beeinträchtigen. Diese Reduktion auf die inwendige Freiheit erfolgt vor allem dann, wenn eine Gemeinschaft, wie z. B. die antike Polis, keine ausreichende Freiheit mehr gewähren kann.

In manchen Phasen der europäischen Geschichte wird diese Freiheit so verstanden, dass sie die Vollmacht ist, aus sich selbst zu handeln. Dadurch wird der Entscheidungscharakter freiheitlichen Handelns schärfer hervorgehoben. Die Freiheit bezieht sich im neuzeitlichen Denken vor allem auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und meint die negative und positive Ermöglichung, „zu tun, was er will". Dieses Handeln unterscheidet sich vom unwillkürlichen Verhalten und bezeichnet in einem sehr präzisen Sinne ein „Wollen-Können". So ist der Mensch selbst Ursprung seines konkreten So-und-nicht-anders-Wollens.

Nun muss man gewiss auch stets bedenken, dass der Mensch in der Spannung steht zwischen dem, was er erstrebt sowie bewirken möchte und dem, was ihm real möglich ist. Es ist eigentlich eine Täuschung, wenn man die Freiheit allein für sich sieht und sie ganz abtrennt von Notwendigkeiten außer ihr. Die Freiheit beginnt nicht dort, wo die Notwendigkeit aufhört. Freiheit kann nicht in radikaler Absetzung von der Notwendigkeit definiert werden. Sie hat immer einen Bezug dazu und muss sich damit auseinandersetzen. „Nur die gründliche Verkennung des Wesens der Freiheit kann so denken. Sie besteht und lebt, ganz im Gegenteil, im Sichmessen mit der Notwendigkeit - gewiss auch in dem, was sie ihr zuguterletzt abgewonnen hat und dann mit eigenem Inhalt erfüllen kann, aber mehr noch und zuerst im Abgewinnen selber mit all seiner Mühe und immer nur halbem Erfolg. Die Abscheidung vom Reich der Notwendigkeit entzieht der Freiheit ihren Gegenstand, sie wird ohne ihn genauso nichtig wie Kraft ohne Widerstand."

Wir brauchen aber auch den Bezug zur Natur als einer von uns unabhängigen Voraussetzung eines jeden Freiheitsgeschehens. Eine radikale Emanzipation von unserer Natur ist überhaupt nicht möglich. „Wir sind nicht nur, wer wir sein wollen, sondern auch, was wir immer schon sind. Wir können als Menschen nicht anders, als immer auch unsere Natur zu haben - in Freiheit ... Das bedeutet, jeder Versuch, ohne Bezug auf die Natur - in radikaler Emanzipation vom Natürlichen - frei zu sein, verkennt nicht nur das, was Freiheit eigentlich ist, sondern führt auch zu einem Rückfall in das bloß Naturwüchsige. Der Akt der Freiheit wird, wenn Freiheit absolut gesetzt wird, zu einem Akt bloßer Natur. Diesen Bezug der Freiheit auf die Natur nicht zu sehen, bedeutet daher letztlich, Freiheit zu negieren. Alles wird dann nichtig oder - je nach Perspektive - gleichgültig, Ausdruck oder Gegenstand der Willkür oder beliebigen Macht." Nichts anderes sagen Th. W. Adorno und M. Horkheimer: „In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewusstsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewusstsein selber, nichtig."

III. Gegenwärtige Herausforderungen der Freiheit
Damit sind wir in der Lage, verschiedene Herausforderungen der Überzeugung aufzugreifen, dass der Mensch frei sei. Dies sind hauptsächlich die Absolutsetzung der Freiheit, die Beschränkung von Freiheit und die deterministisch motivierte Leugnung der Freiheit.

Ein Beispiel der ersten Herausforderung, der Absolutsetzung der Freiheit, finden wir im frühen Denken von J.-P. Sartre. Freiheit ist für ihn nicht eine Eigenschaft des Menschen, sondern gleichbedeutend mit Existenz. Der Mensch muss sich immer wieder schaffen. Er ist nichts anderes als das, zu dem man sich selbst geschaffen hat. Er ist ein Produkt seines eigenen Tuns. Der Mensch wird nur durch das Handeln bestimmt: „In Wirklichkeit kann der Mensch nur handeln; seine Gedanken sind Entwürfe und Verpflichtungen, seine Gefühle Unternehmungen; er ist nichts anderes als sein Leben, und sein Leben ist die Einheit seiner Verhaltensweisen." Es gibt keine Natur des Menschen, es gibt kein Wesen, das diesem Handeln vorausliegt. Die Existenz ist der Essenz vorgeordnet, also umgekehrt wie in der Tradition, die die Essenz der Existenz voraussetzt. Der Mensch ist nach Sartre immer frei, weil er wählen kann, ob er sein Schicksal resigniert hinnimmt oder sich dagegen auflehnt.

Die Wirklichkeit erscheint somit nur als mögliches Objekt des menschlichen Eingreifens und als Resultat des menschlichen Handelns. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass der Mensch sich nicht einfach der Auseinandersetzung mit so etwas wie Notwendigkeit entziehen kann, dass er auch immer wieder die Natur voraussetzen muss, in die alle Vernunft verflochten ist; schließlich wird noch zu zeigen sein, wie auch eine radikale Emanzipation aus der Gemeinschaft mit anderen nicht möglich ist. Wir stehen immer schon in einem Verhältnis der Verantwortung zu anderen Menschen, die eben nicht nur die „Hölle" für uns sind, wie Sartre meinte.

Eine zweite Herausforderung für das Verständnis von Freiheit ist die Beschränkung, die sie immer wieder erfährt. Wir haben dies schon früher im Blick auf das Verhältnis zur „Notwendigkeit" und zur „Natur" erörtert. Die Beschränkung fällt aber besonders ins Gewicht, wenn wir auf das Gebiet der Politik schauen. Die Freiheit wird gerade auf dem politisch-gesellschaftlichen Feld durch eine vielfache Bedrohung in Frage gestellt und bedrängt. Der Terrorismus seit dem 11. September 2001 und die folgenden politischen Entscheidungen haben z. B. das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit verschärft. Um der Sicherheit willen muss die Freiheit der Bürger beschränkt werden. Die größere Sicherheit kann oft nur auf Kosten der Freiheit des einzelnen Menschen erreicht werden (vgl. auch die Auseinandersetzungen über die „informationelle Selbstbestimmung"). Diese Spannung gehört wohl zu jeder Betrachtung der Freiheit im Horizont der sozialen und politischen Situation der Menschen. Sie hat einen klassischen Ausdruck gefunden in der Formulierung von J.-J. Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten." Dies schafft im Verständnis der Freiheit im Blick auf die gesellschaftliche Situation ein unübersehbares Pathos, geradezu einen Aufruf zur revolutionären Auflehnung.

Eine dritte Herausforderung besonders für das heutige Bedenken der Freiheit bezieht sich hinsichtlich ihrer Herkunft auf die immer wieder im Lauf der Neuzeit geäußerte Überzeugung, dass besonders die menschliche Willensfreiheit in Wirklichkeit nur sehr eingeschränkt oder gar nicht existiere, sondern durch und durch determiniert sei. In den letzten Jahren ist diese Ansicht vor allem durch einige Vertreter der Neurowissenschaften und besonders der Hirnforschung vertreten worden. Hier kann dieses Problem nicht eingehend behandelt werden. Als Beispiel sollen die gewiss extremen, aber nicht singulären Äußerungen von W. Prinz dienen: „Die Idee eines freien menschlichen Willens ist mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren ... Ich halte das Ich für ein soziales Konstrukt." Wir sind jedenfalls nicht die freien autonomen Subjekte, für die wir uns halten. Die Willensfreiheit ist letztlich eine Illusion. Selbstverständlich gibt es neben dieser extremen Position viele Zwischentöne. Gewiss haben die Neurowissenschaften unser Menschenbild verändert und erweitert. Die Komplexität des Zusammenspiels der rund hundert Milliarden Nervenzellen ist jedoch viel größer, als dass man sie mit einem einzigen Begriff, z. B. der Illusion, genügend umschreiben könnte. Jedenfalls gibt es Experimente, z. B. von K. Libet und A. Pascual-Leone, die zeigen, dass es für komplexe Handlungen, die aus einem vielstufigen Abwägungsprozess entstehen, durchaus eine Annahme von Willens- oder Handlungsfreiheit gibt. Ich weise im Übrigen darauf hin, dass extreme Anschauungen auch für andere menschliche Grunderfahrungen Konsequenzen haben, z. B. für Verantwortung, Scham, Schuld und letztlich Menschenwürde. Dass dies Konsequenzen hat für unser Rechts- und Moralsystem, sei nur erwähnt. Es gibt gewiss nicht einen einzigen Zugang des Menschen zu sich selbst. Mindestens gibt es eine Objekt- und eine Subjektperspektive. In jedem Fall stehen wir immer wieder vor einer vieldimensionalen Wirklichkeit des Menschen.

IV. Das Phänomen der Freiheit: Wesensmitte und Dimensionen
Nachdem die Herausforderungen für ein heutiges Verständnis der Freiheit wenigstens angedeutet worden sind, besteht nun die Notwendigkeit einer eingehenderen Reflexion auf das Phänomen der Freiheit. Dabei muss man sich der bereits am Anfang genannten Schwierigkeiten bewusst bleiben. Man kann Freiheit nicht unmittelbar aufweisen. Sie ist ein Reflexionsbegriff, der eher verschiedene Einsichten und Erkenntnisse zusammenfasst. Wir sind auch gewohnt, bei der Dominanz naturwissenschaftlicher Erkenntnis etwas allein durch den Rückgang auf Ursachen zu erklären. Die Tat der Freiheit lässt sich aber mit einem solchen Denken nicht erfassen.

Was menschliche Freiheit ist, kann man wohl nur verstehen, wenn man ihr ihre ganz bestimmte Struktur belässt. Im Grunde gehen wir oft noch von einem allmächtigen Verständnis von Freiheit aus, wie es sich vielleicht am deutlichsten bei J.-P. Sartre zeigte. Dahinter steht ein Begriff von Subjektivität, die viele Bedingtheiten der menschlichen Existenz abgestreift hat. Deshalb ist es wichtig, die Endlichkeit menschlicher Freiheit hervorzuheben. Theologisch sprechen wir von Kreatürlichkeit. Die verschiedenen Dimensionen der menschlichen Freiheit lassen sich auf diesem Weg besser erfassen. Sie sollen nun wenigstens stichwortartig entfaltet werden.

Der Mensch zählt in der zeitgenössischen Anthropologie als ein - biologisch verstanden - „Mängelwesen", das nicht so instinktsicher gelenkt wird wie viele Tiere. Es ist jedoch ein Vorteil, dass der Mensch nicht in eine begrenzte Umwelt hineingebannt ist, sondern dass er über das angestammte Milieu hinaus eine Orientierung besitzt. In diesem Sinne ist die Weltoffenheit des Menschen eine wichtige Voraussetzung seiner Freiheit. Er kann einen Spielraum von alternativen Möglichkeiten des Verhaltens erkennen und eine davon auswählen. Der Mensch kann die Ziele und Wege seines Lebens ohne äußeren Zwang entwickeln und kann bewusst und freiwillig etwas wollen oder nicht wollen. Die eigenen Kräfte erlauben es eben, das auszuführen, was er will. Diese Öffnung des Menschen über seine Umwelt hinaus und das Transzendieren über sie zeigen nicht nur die Stellung des Menschen im Gesamt aller Dinge, sondern ist auch eine Voraussetzung des Menschseins, darin die Freiheit wurzelt. In diesem grundlegenden Sinn gehören ganz besonders die Möglichkeiten der Wahl und der Entscheidung zu den herausragenden Qualifikationen des Menschen. Dabei durchläuft seine Freiheit gewiss ein sehr differenziertes System von Stufen, angefangen von noch relativ spontanen Handlungen bis zu tiefen Bindungen, die ein ganzes Leben prägen können.

Diese Offenheit des Menschen reicht durch seine Anlage auch in den Bereich des Unendlichen. Insofern ist jedem Freiheitsakt auch ein unbedingtes Moment eingestiftet. Aber wir können als endliche Menschen nie nur oder in absoluter Weise frei sein. Der Akt der Freiheit ist ein Vollzug, der immer schon in einem Verhältnis zur Mit- und Umwelt steht. Endliche Freiheit ist immer auf diese Faktoren des Lebens überhaupt verwiesen. Sie ist deshalb immer auch von einem Verhältnis, einer Beziehung zu dem, was ist, geprägt. Wir haben dies im Blick auf so etwas wie „Notwendigkeit" und „Natur" bereits gesehen. Diese Perspektive zeigt uns auch deutlich, dass der Mensch seine Freiheit nicht bloß vom schöpferischen Entwerfenkönnen her verstehen darf, sondern dass er auch nicht nur in der Natur, sondern immer schon in einer Geschichte steht, aus der er kommt („Herkunft") und die er bei aller Zukünftigkeit seines Lebens und Wirkens, freilich in verschiedener Weise, mitnimmt. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat gegenüber allen idealistischen Versuchungen, sich wie ein absolutes Wesen zu gebärden, diese „Befindlichkeit" und Verwurzelung in Natur und Geschichte als Signatur menschlicher Endlichkeit neu entdeckt.

Wir können uns aber auch nicht einfach aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen emanzipieren. Dies gilt schon in einem sehr realen und buchstäblichen Sinn. Fast immer ist ein anderer Mensch in unserer Nähe, nebenan, nimmt einen festen Platz ein. Damit begrenzt er uns auch. Dies ist aber nicht nur so gemeint, dass wir an einer beliebigen Ausdehnung unserer Existenz mit ihren Möglichkeiten begrenzt sind. Das Verhältnis zu anderen Menschen ist nicht einfach neutral. Auch in dieser Hinsicht hat das Denken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende Neuentdeckung des Anderen, des Du und des biblisch verstandenen Nächsten vollzogen. Gerade die Dialogik des jüdischen Denkens hat hier zu einer Wende in unserer Einstellung geführt. Wir haben zum Anderen stets auch die Verpflichtung der Verantwortung. Besonders E. Lévinas mahnt immer an diese grundlegende Verpflichtung, die wir dem Anderen gegenüber haben. „Der Empfang des Anderen, der Anfang des sittlichen Bewusstseins ist es, der meine Freiheit in Frage stellt ... Das sittliche Bewusstsein empfängt den Anderen ... Die Moral beginnt, wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet."

Dies hat auch zur Konsequenz, dass wir in unserer Lebenswelt denselben Raum der Freiheit miteinander teilen, was mit der Leiblichkeit des Menschen zusammenhängt. Unsere Freiheit vollzieht sich im Medium raumzeitlicher Wirklichkeiten. Damit wird auch ein „innerer" Akt ein leibhaftiger, der dem Eingriff von außen offensteht. Es ist damit auch der eine offene Raum gegeben, in dem Subjekt und Welt, Subjekt und Subjekt kommunizieren. „Freiheit vollzieht sich unbeschadet ihrer ursprünglichen Subjektivität in einem gemeinsamen Raum der Einheit geschichtlicher Subjekte. Jede Freiheitstat des einen verändert daher die vorgegebenen objektiven Möglichkeiten der Freiheitstat des Nächsten, erweitert, verändert, begrenzt den Freiheitsraum des Anderen, und zwar im voraus zu dessen freier Setzung." Dieser Freiheitsraum ist sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht geschichtlich variabel und in einer kontinuierlichen geschichtlichen Bewegung. „Zwar soll jeder in diesem einen Raum wirklich einen Raum seiner Freiheit haben, aber Größe und Eigentümlichkeit dieses Freiheitsraumes, der dem Einzelnen eingeräumt wird, sind in einer dauernden geschichtlichen Veränderung begriffen und können nie ein für allemal festgelegt werden. Es gibt keine Instanz in der Welt, die diesen Raum autonom und dauernd und ganz verplanen könnte. Die unverfügbare Pluralität handelnder Subjekte impliziert auch eine allerletzte Unplanbarkeit des Freiheitsraumes, schon darum, weil selbst in einem allertotalitärsten System wenigstens ein Subjekt planend sein müsste und nicht adäquat geplant sein kann."

Freiheit ist also nicht allein die Eigenschaft eines individuellen Subjekts, das ausschließlich allein für sich bestehen und begriffen werden könnte. Ein Mensch allein kann nicht frei sein. „Freiheit ist nur dort möglich, wo Freiheit sich anderer Freiheit öffnet ... Das Kommerzium der Freiheit ist transzendental früher als das Subjekt, und im Begriff des Subjekts ist der Begriff der Intersubjektivität als der transzendental-logisch frühere Begriff schon enthalten." Dadurch ist nicht nur die eigene Freiheit präsent, sondern auch die andere Freiheit wird bejaht. Freiheit begründet sich auch dadurch, dass sie eine solche andere Freiheit bejaht. Darin liegt natürlich auch der bekannte Imperativ Kants begründet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." Oder mit anderen Worten: „Es ist nicht genug, dass wir unserem Willen, es sei aus welchem Grunde, Freiheit zuschreiben, wenn wir nicht ebendieselbe auch allen vernünftigen Wesen beizulegen hinreichenden Grund haben." Dies setzt auch einen engen Zusammenhang zwischen Freiheit und Sittlichkeit voraus. Das Grundgesetz jeder Gemeinschaft ist in diesem Sinne die Anerkennung der Freiheit eines jeden in ihr. Darin gründen auch die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität, aber auch jede Staatsverfassung. „Doch das Kommerzium der Freiheit geschieht nicht im geschichtslosen Raum einer totalen oder jenseitigen Welt, sondern im geschichtlichem Raum einer öffentlichen und allgemeinen Rechtsordnung, die die Freien ebenso schaffen wie sie ihrer bedürfen." Wenn man die Teilung dieses einen Freiheitsraumes nicht beachtet, gewinnt man auch keinen Sinn für die notwendige Kommunikation in diesem Raum. Deshalb ist Freiheit eben auch ein „Kommunikationsbegriff". Ohne diese Eigenschaft wird Freiheit maßlos, erscheint als Fluch, als Last und eben auch als Überforderung.

Dies zeigt noch auf ein weiteres Element endlicher Freiheit. Es ist nicht zufällig, dass die Freiheiten - bewusst im Plural -, lange Zeit den Begriff der Freiheit in der eher abstrakten Form des Singular überlagern. Sie sind ein Ausdruck dafür, wie die Freiheit sich konkret, geschichtlich und in Beziehungen realisiert. Konkrete Freiheiten können dann allerdings auch nicht Freiheit schlechthin, also die transzendentale Freiheit erschöpfen. „Konkrete Freiheiten sind ambivalent; einerseits sind sie die Konkretionen oder die Objektivierungen wirklicher Freiheit, anderseits sind diese ihre Konkretionen unter Bedingungen gestellt. Insofern der wirklichen Freiheit aber ein transzendentales Moment der Unbedingtheit innewohnt, ist eine konkrete Freiheit immer erfüllte und unerfüllte Offenheit zugleich. Diese Ambivalenz ist strukturell bedingt; d. h. sie ist geschichtlich nicht aufhebbar. Darum ist der Staat, der die totale Befreiung des Menschen zu bringen vorgibt, ebenso schlecht wie jener, der die geschichtliche Befreiung des Menschen verhindert oder rückgängig macht; die wirkliche Freiheit des Menschen wird die Ambivalenz von unbedingtem Sich-Öffnen und endlich erfüllendem Gehalt nicht überspielen können. Jedwede wirkliche Freiheit enthält die Dimension, durch die sie über ihre eigene Konkretion hinaus offen ist und über sich hinausweist; diese Defizienz charakterisiert sie als endliche Freiheit. Gleichwohl wohnt jedem Akt der Freiheit die Bejahung der eigenen Unbedingtheit inne. Darin liegt ein Anspruch und ein Vorgriff auf vollkommene Freiheit. Solcher Anspruch und Vorgriff bedeuten, jedwedes Sich-Öffnen der Freiheit auf Freiheit hin in seiner geschichtlichen Konkretion zugleich festzuhalten und loszulassen."

Damit ist auch deutlich geworden, dass Freiheit, mindestens aus einer solchen Sicht, nicht einfach identisch ist mit einem landläufigen Individualismus. Gewiss ist dieses Verständnis der Freiheit, das hier zu entfalten versucht wurde, identisch mit Subjekthaftigkeit, Kreativität, Selbstbestimmung und auch personaler Unverwechselbarkeit, mit Mut zu Neuem und zu unangepasster Wachheit. Aber es widerspricht nicht einer grundlegenden Solidarität, einem Teilen der Lebenschancen, einer Ordnung und Bindung, die die eigenen Interessen und Bedürfnisse relativiert. Es darf nicht vergessen werden, dass jede Inanspruchnahme und Erweiterung des Freiheitsraumes für den einen unvermeidlich die Begrenzung des Freiheitsraumes eines Einzelnen oder auch vieler zur Konsequenz hat. Entscheidend ist aber, dass man den einen endlichen Freiheitsraum sinnvoll und gerecht unter allen verteilt. „Das wahre Problem besteht darin, dass die Forderung nach Freiheit, die reale Forderung nach größerem Freiheitsraum ist, selber unvermeidlich auch eine Bedrohung der Freiheit des anderen, eine Verringerung von dessen Freiheitsraum impliziert. Ein liberalistischer Liberalismus will dies nicht sehen. Er tut so, als ob ein Kampf für Freiheit reine Bemühung um Befreiung von Fesseln sei. In Wahrheit aber ist z. B. die Freiheit der Propaganda einer bestimmten Idee und Haltung in der Öffentlichkeit unweigerlich eine Bestimmung, Veränderung, Verengung meines Freiheitsraumes ... Die libertinistische Freiheit jedes, für jedwedes die Freiheitssituation aller in Anspruch zu nehmen, wirkt wie eine Art geheimer Gehirnwäsche, von anonymen Mächten vorgenommen, die zwar die Freiheit nicht notwendig aufhebt, aber den Freiheitsraum verändert und einengt im voraus zur freien verantwortlichen Entscheidung des Einzelnen ... Ein libertinistischer individualistischer Liberalismus ist, ob er es weiß oder will oder nicht, die implizite Leugnung des Freiheitsraumes der anderen."

V. Der Preis für die Freiheit in der Moderne ist die Ethik
Wir haben von der Veränderung und dem Wandel des Freiheitsraumes gesprochen. Dies verlangt eine weitere Darlegung. Er hat sich erheblich erweitert z. B. durch die Folgen der technisch-zivilsatorischen Errungenschaften, die Emanzipation der Geschlechter, den Abbau der gleichen verpflichtenden Strukturen des gesellschaftlichen Lebens, der dazu gehörenden Tabus und auch der gültigen Gepflogenheiten. Reisen in die ganze Welt und die Präsenz der Medien allüberall beschleunigen diesen Prozess.

Ob diese Erweiterung des Freiheitsraumes damit auch schon gleichsam von selbst einen echten Zuwachs an Unabhängigkeit und Selbstbestimmung bedeutet, steht auf einem anderen Blatt. Wir haben zwar z. B. mehr Auswahlmöglichkeiten, aber es ist dabei auch vieles vorgegeben. Unser Freiheitsspielraum ist durch anonyme Mächte, eine gigantische Werbeindustrie und viele subtile Verführungen infiziert, die bewusst heimlich auch das Reich des Unbewussten in uns zu bestimmen versuchen. Unkontrolliert wird die öffentliche Meinung gelenkt, es werden raffiniert Vormeinungen produziert, Konsumbedürfnisse geweckt, die oft gar nicht einem wirklichen Bedarf entsprechen. Es gibt auch populistische Inszenierungen in der Politik, die eine gewaltige Macht freisetzen, wenn sie entfesselt werden. Es wird dadurch auch eine Stimmung erzeugt, aus der heraus Menschen dazu aufgestachelt werden, egoistisch eigene Anliegen durchzusetzen, ohne an die Folgen für das Gemeinwesen zu denken. Private Interessen im Nahbereich finden dabei besondere Aufmerksamkeit. Politische Bildung, Medienpädagogik und Verbraucherberatung wollen Hilfen geben, um solche Verschleierungen aufzudecken.

Es gibt also eine eigentümliche Verflechtung der Erweiterung und der Einengung des Freiheitsraumes. „Beide ... stehen so in einem seltsam-rätselhaften Abhängigkeitsverhältnis, weil die Ursachen der Erweiterung des Freiheitsraumes (Rationalität, Technik, Automation und Entwicklung der Sozialität des Menschen) auch ebenso viele Möglichkeiten, ja Faktizitäten bieten, die eben diesem Freiheitsraum einengen, die früher unmöglich waren." Diese grundlegende Ambivalenz darf nicht übersehen oder gar überspielt werden.

Man kann gewiss sagen, dass in manchen Bereichen unseres Lebens die Macht der Menschen überhaupt und des Einzelnen im technischen Können und in der rechtlichen Befugnis enorm gewachsen ist. Ich denke hier besonders an den Anfang und an das Ende des menschlichen Daseins. Stichworte genügen: Geburtenregelung, künstliche Befruchtung, Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, aktive Sterbehilfe, assistierte Selbsttötung usw. Diese Möglichkeiten steigern die realen Entscheidungsalternativen und natürlich auch die Verantwortung, und dies sowohl bei Betroffenen als auch rechtlich beauftragten Personen und besonders einzelnen Berufsgruppen. Dabei genügt es nicht, nur auf die subjektive Freiheit des Einzelnen zu schauen, sondern man muss besonders auch die Folgen für den Betroffenen, die Familien, die Menschenwürde und die Konsequenzen für die Gesellschaft bedenken. Dadurch wird manches in grundlegenden menschlichen und ethischen Einstellungen veränderbar und umgestaltet. Dies kann soweit führen anzunehmen, dass wir nicht nur die Ausgestaltung, sondern auch die Grundbedingungen des Lebens selbst in der Hand zu haben glauben. Die Technik transformiert sich selbst in eine Größe, die man wie ein Schicksal wahrnimmt und behandelt. Dadurch verändern sich ethische Verhaltensweisen, wie z. B. die Mitwirkung und damit auch Mitverantwortung des Einzelnen. „Nun ist Leben in Gemeinschaft zwiespältig: Freiheit des Anderen kann die eigene Freiheit befreien, sie aber auch bedrängen. Man geht selbst auf den Anderen zu, schließt sich ihm auf, macht sich verletzlich und setzt sich aus."

Eine zunehmende Pluralisierung und Vernetzung ist ein Kennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft. Handeln ist in ein vielfältiges Beziehungsgeflecht eingespannt. Darum gilt es auch, die Freiheit nicht nur der unmittelbar Beteiligten, sondern der Gesellschaft insgesamt zu schützen. Auf Grund der bisherigen Überlegungen wird jedenfalls evident: Freiheit braucht Ethik, ja noch zugespitzter formuliert: Die gegenwärtige Ausübung der Freiheit mit ihren gesteigerten Möglichkeiten, aber auch mit ihren oft verborgenen Verstrickungen und Fallen verlangt noch viel dringlicher als bisher eine orientierende und korrigierende Ethik. Eine noch stärkere Beachtung der Ethik ist der Preis für das Gelingen moderner Freiheit.

VI. Die Grenzen der Freiheit als Stärke
Diese Sicht hat ein mehrfaches Umdenken zur Folge. Es gab einen Liberalismus, der ein blindes Ressentiment hatte gegen jede gesellschaftliche Bindung und Ordnung, „die Phobie gegen alles und jedes, was die Willkür des Individualismus begrenzt, ein gesellschaftlicher Libertinismus, der Freiheit und Toleranz ruft und Willkür und Zügellosigkeit, wenn vielleicht auch unbewusst, meint." Dies ist der Liberalismus von vorgestern, von K. Rahner gewiss mit sehr harten und auch pauschalen Worten bezeichnet. Er muss sich jedenfalls von seiner „genetischen Last", dem Individualismus, verabschieden, sofern dies noch nicht geschehen ist. „Der Liberalismus tut sich ungemein schwer, die notwendige Verflochtenheit von Individualität und Sozialität im allgemeinen, erst recht die wesensnotwendig korporative und damit öffentliche Existenzform von Religion im besonderen zu verstehen und zur Geltung zu bringen." Es ist ein Gewinn, dass schon seit einiger Zeit kompetente Vertreter eines reflektierten Liberalismus dies klar sehen und zum Ausdruck bringen. Ich habe schon öfter R. Dahrendorf genannt. So schrieb Marion Gräfin Dönhoff im Mai 1999 an ihre polnischen Freunde: „In der heutigen westlichen Welt herrscht mancherorts die Vorstellung, die wahre Freiheit sei ohne Grenzen. Dies ist ein schlimmer Irrtum, .... denn letzten Endes würde dies wieder zum autoritären Staat führen. Meine Freiheit muss dort ihre Grenzen finden, wo die Freiheit des anderen beginnt. Wenn ein jeder tut, was ihm gefällt, dann führt das zum Chaos und schließlich zum Ruf nach dem starken Mann, der alles wieder in Ordnung bringen soll. Freiheit muss begrenzt sein durch ethische und moralische Prinzipien, weil eine Gesellschaft auf Dauer nur dann bestehen kann, wenn es bestimmte Spielregeln und Normen gibt, an die sich alle halten; Normen, die nicht nur von den Erfordernissen des politischen Alltags bestimmt sind, sondern die im religiösen und philosophischen Bereich wurzeln. Bei aller Verschiedenheit der geschichtlichen und kulturellen Epochen geht doch durch alle Zeiten die Erkenntnis, dass es etwas gibt, ‚das höher ist als alle Vernunft'. Von Konfuzius über die christlichen Evangelisten und die Philosophen des Mittelalters bis zu Kant wussten sie alle: Der Mensch ist nicht die letzte Instanz - es gibt eine Macht über ihm. In ihrem Fortschrittstaumel und ihrer Sucht nach Reichtum meinen heute viele Leute, jene Werte seien inzwischen veraltet und man brauche sie nicht mehr zu beachten. Aber solche Arroganz rächt sich. Sie dürfen ihr nicht verfallen, auch wenn die Versuchung groß ist, Geld für das Wichtigste im Leben zu halten. Sie müssen eingedenk sein ihrer Verantwortung als Bürger der Gemeinschaft und dem Staat gegenüber." Erwähnenswert ist auch das Wort bei der Feier ihres 85. Geburtstages: „Es fehlt an einem verbindlichen ethischen Konsens."

In diesem Sinne lohnt sich die Begegnung und Auseinandersetzung z. B. auch mit dem großen liberalen Denker Friedrich August von Hayek, etwa mit dem Kapitel „Warum ich kein Konservativer bin" aus dem klassischen Werk „Die Verfassung der Freiheit". Es darf hier bei der Stiftung, die seinen Namen trägt, auch Friedrich Naumann erwähnt werden, der vor allem bei den Verfassungsberatungen 1919 die Freiheitsrechte vertrat.

Dies alles hat Konsequenzen für das Verständnis der Freiheit und der zu ihr gehörenden Ethik. Ethos heißt in der griechischen Sprache: gewohnter Ort des Lebens, Sitte, Charakter. „Dort, wo überkommene Lebensweisen und Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren, sucht die philosophische Ethik, von der Idee eines sinnvollen menschlichen Lebens geleitet, auf methodischem Weg und ohne letzte Begründung auf politische und religiöse Autoritäten ... oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte allgemeingültige Aussagen über das gute und gerechte Handeln." Nach Aristoteles und der von ihm inspirierten Schulrichtungen der Ethik gehören auch die Politik und die Ökonomie dazu. Sie entsprechen der Verwirklichung von Freiheit.

Damit hat sich auch der Zusammenhang von Freiheit und Ethik aufgehellt. Sie spiegeln gerade in unserer Lebenswelt ein vielfältiges Beziehungsgeflecht. „Entscheidungen sind so gesehen keine Monaden. Sie tragen die Hypothek einer Mit- und Vorgeschichte in sich und setzen sich mit ihr auseinander. Das gilt nicht nur für die eigene Biografie, auch die großen Traditionsströme sind betroffen. An Auseinandersetzung führt darum kein Weg vorbei. Konkrete Entscheidungen lassen sich Kreuzungspunkten vergleichen, an denen Fremdes und Eigenes einander begegnen. Da gilt es, die eigene Identität zu stärken, damit sie nicht hilflos überrollt werde. Ein mehr oder weniger angefochtenes Gleichgewicht muss gewahrt bleiben. Das geht nicht ohne kleine und große Krisen ab. Zwar sind viele Handlungskonstellationen eingespielt und lassen eine bewährte Tradition erkennen. Aber die glatte Oberfläche täuscht leicht über die großen und kleinen Dramen des Untergrunds hinweg."

VII. Anerkennung als Frucht gelingender Vermittlung von Freiheit und Ethik
Ich habe in diesem Beitrag auf die Darstellung und die Diskussion des Verhältnisses zwischen Liberalismus und Christentum verzichtet. Hier hat sich vieles entspannt, wenn man sich freilich auch über die regelmäßig stattfindenden politischen Sachgespräche hinaus wieder mehr grundsätzliche Themen in den Begegnungen und Dialogen wünschen darf.

Wir sorgen uns in diesem Zusammenhang nicht nur um Freiheit für uns. Sie ist ein universelles Gut für alle Menschen. Sie ist ein Grundrecht. Dabei ist die Religionsfreiheit nach aller Erfahrung ein untrüglicher Test, ob in einem Land wahre Freiheit herrscht. „Toleranz ermöglicht ein von Freiheit und Humanität bestimmtes Zusammenleben. Sie endet dort, wo es um die Missachtung der Rechte anderer geht ... Toleranz ist ein Zeichen von Selbstüberwindung ... und von Ichstärke, weil sie die Interessen anderer grundsätzlich anerkennt und die Auseinandersetzung mit fremden Meinungen nicht scheut. Toleranz vollendet sich im lebendigen Interesse an der Lebens- und Kulturform anderer und ist dann eine säkularisierte und zurückhaltende Weise von (Nächsten-)Liebe. Die Toleranz dient auch der Wahrheit; denn die freie Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen befreit von Vorurteilen und setzt neue Erkenntnis frei."

In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, warum in der neueren Ethik Anerkennung einen Schlüsselbegriff darstellt. Es ist eine Synthese und Brücke von Freiheit und Ethik, eine Wechselbeziehung des gegenseitigen Respekts, der sich weder zwischen einzelnen Menschen noch zwischen Gruppen und sogar Kulturen und Religionen gleichsam von selbst einstellt. Anerkennung ist das Gelingen, ja das Geschenk der Einheit von Freiheit und Ethik, ein unverzichtbarer Baustein menschlicher Beziehungen. Deswegen ist aber auch angesichts der vielfältigen Gefährdung der Freiheit so etwas wie „Freiheitsvorsorge" - nicht nur „Daseinsvorsorge" - durch aktive Stützung und Förderung notwendig.

Entscheidend sind immer auch anregende Vorbilder des gelebten Lebens. Ich habe schon einige angeführt. Am Ende möchte ich ein Zeugnis des Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankl wiedergeben: „Selbstverständlich ist der Mensch determiniert, das heißt Bedingungen unterworfen, mag es sich nun um biologische, psychologische oder soziologische Bedingungen handeln: In diesem Sinne ist er keineswegs frei - er ist nicht frei von Bedingungen, er ist überhaupt nicht frei von etwas, sondern frei zu etwas, das will heißen, frei zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen; und eben diese eigentliche menschliche Möglichkeit ist es, die der Pandeterminismus so ganz und gar übersieht und vergisst. - Niemand braucht mich erst aufmerksam zu machen auf die Bedingtheit des Menschen; schließlich bin ich ein Facharzt für ... Neurologie und Psychiatrie, und als solcher weiß ich sehr wohl um die biopsychologische Bedingtheit des Menschen; aber ich bin nicht nur Facharzt für zwei Fächer, sondern auch Überlebender von vier Lagern, Konzentrationslagern, und so weiß ich denn auch um die Freiheit des Menschen, sich über all seine Bedingtheit hinauszuschwingen und selbst den ärgsten und härtesten Bedingungen und Umständen entgegenzutreten, sich entgegenzustemmen, kraft dessen, was ich die Trotzmacht des Geistes zu nennen pflege."

(c) Karl Kardinal Lehmann

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz