„Gerufen in sein wunderbares Licht"

Predigt von Kardinal Lehmann beim Gottesdienst des Mainzer Bistumsfestes am 22. Mai 2011 auf dem Marktplatz in Mainz

Datum:
Sonntag, 22. Mai 2011

Predigt von Kardinal Lehmann beim Gottesdienst des Mainzer Bistumsfestes am 22. Mai 2011 auf dem Marktplatz in Mainz

Lesungstext: 1 Petr 2,4-9

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, hier auf dem Mainzer Marktplatz und an den Bildschirmen zu Hause!

Es lässt sich nicht leugnen, dass in der Kirche von heute immer noch eine Krisenstimmung vorherrscht. Es ist nicht nur der Skandal um den sexuellen Missbrauch, der ja von relativ wenigen Menschen der Kirche verübt wurde, während viele Jahrzehnte lang einen untadeligen Dienst ausüben, sondern es sind vielfache Enttäuschungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die sich nun zu einer Vertrauenskrise zusammengeschlossen haben. Manchmal verstärken wir selbst von innen diese Stimmung. Schon Buchtitel verraten dies: „Kirchendämmerung", „Ist die Kirche noch zu retten?" - Gibt es da noch Gründe zum Feiern?

Wir sind mit diesen Fragen nicht allein. Die Lesung aus dem Ersten Petrusbrief (2,4-9) kommt aus einer ähnlichen Situation. Der erste Schwung der Begeisterung nach dem Christwerden ist gebremst. Im jungen Christentum breitet sich eine Stimmung von Müdigkeit und Enttäuschung aus. Viele ziehen sich wieder zurück. Andere werden in ihrem Glaubenszeugnis lau oder resignieren gar. Die Christen fühlen sich als nicht selten angefeindete Minderheit. Sie spüren Fremdheit und Ablehnung in der unmittelbaren Umgebung. Ja, es gibt geziele Einschüchterung, sogar gewalttätige Unterdrückung.

Der Erste Petrusbrief spricht in eine solche Situation hinein. Er nimmt sie ernst. Er weiß um die Anfechtung der Christen in einer solchen Lage. Wir haben keine Schrift im Neuen Testament, wo so viel vom „Leiden" die Rede ist wie hier. Auch in unseren Tagen leiden vergleichsweise viele, wenn auch aus recht unterschiedlichen Gründen. Die Rede von Bedrängnis und Leiden ist aber nicht das letzte Wort. Im Gegenteil, der Erste Petrusbrief ist ein ausgesprochenes Zeugnis lebendiger Hoffnung. Es kommt ihm gerade darauf an, in einer solchen angefochtenen Situation zum Mut und vor allem zur Standfestigkeit aufzurufen. Wie kann dies geschehen? Sollen wir uns nicht einfach traurig zurückziehen?

Der Brief erinnert die Christen vor allem und zuerst an ihre Erwählung durch Gott. Gott hat Interesse am Menschen. Er wendet sich uns in der Geschichte des Alten und Neuen Bundes immer wieder neu zu: durch sein stärkendes Wort, durch die lebenserhaltenden Weisungen und Gebote, durch seine mutigen Propheten, schließlich durch seinen Sohn. Gott selbst begleitet sein Volk. Er verlässt es nicht, auch wenn dieses durch stürmische Zeiten hindurchgeht. Dies gilt aber nicht nur für das ganze Volk, sondern ebenso für jeden einzelnen Menschen mit seiner konkreten Lebensgeschichte. Dabei kann dieser Gott manchmal für eine kürzere oder längere Zeit verborgen sein. Wir müssen auch als Glaubende das Antlitz Gottes immer wieder suchen, um ihn mit frischer Freude zu finden. Er bleibt bei uns, wenn es - wie bei den Emmaus-Jüngern - Abend wird, wenn wir uns wie in der Fremde fühlen und wenn wir vielfach bedrängt werden. Für den Beter in den Psalmen gehört zu diesem Suchen auch der Schrei der Klage, die Gott aus seiner Verborgenheit regelrecht herbeiruft. In Auschwitz und ähnlichen Stätten des Grauens verschlägt es einem die Stimme.

In Situationen der Anfechtung, des Verlustes und der Trostlosigkeit vergessen wir oft diese liebende Zuwendung Gottes zu seinem Volk und zu jedem Einzelnen. Wenn wir in einer solchen Krise stecken, lassen wir nicht selten den Mut zum Glauben sinken. Dies ist aber genau das, was die Bibel und die großen Lehrer des Glaubens uns verwehren: In aller Bedrängnis und Anfechtung - von innen und außen - dürfen wir uns nicht von der lebendigen Hoffnung, die uns im Evangelium geschenkt ist, abbringen lassen. Dann darf es nicht ein Weniger an Glaubensbereitschaft und Vertrauen zu Gott geben, sondern dann ist ein Mehr an Zuversicht notwendig. Doch statt uns dazu aufzuschwingen, lassen wir in solchen Situationen oft die Flügel hängen. Dann wird alles aber nur noch schlimmer und abgründiger.

Wir dürfen persönlich und gemeinsam in Situationen der Schwäche und der Niedergeschlagenheit die positive Kehrseite der Zuwendung und Ermutigung durch Gott nicht vergessen. Wir müssen Verluste und Fremdheit, Ablehnung und Enttäuschung nüchtern annehmen, dürfen aber das bleibende Ja Gottes zu uns und zur Welt nicht verdunkeln lassen. So ist ja auch das Kreuz Jesu Christi nicht nur das Symbol des Leidens und des Todes, sondern ebenso der Auferweckung und des Lebens: Gott sagt Ja zu diesem geschundenen Sohn. Der Erste Petrusbrief will mit solchen Hinweisen in uns die Stärke des Glaubens, der uns in der Taufe geschenkt, später aber oft verschüttet wurde, wieder zum Leben wecken. Deshalb erinnert er uns an die Sternstunden des Glaubens und auch die Höhepunkte unserer guten Erfahrungen in der Kirche.

Freilich kann man dies nur erfahren, wenn man auch wirklich das Kommen Gottes in unsere Welt und besonders zu seinem Volk annimmt. Wir wollen Gott Wohnung in dieser Welt gewähren, nämlich durch unser Zeugnis in Wort und Tat ihm die Wege auf dieser Erde für sein Kommen bereiten. Dann spüren wir auch neu die Kraft Gottes mitten im Elend, seine Führung in aller Orientierungslosigkeit und die Heilung trotz so vieler Wunden. So ruft uns dieser Brief zu: „Liebe Brüder (und Schwestern), lasst euch durch die Feuersglut, die zu eurer Prüfung über euch gekommen ist, nicht verwirren, als ob euch etwas Ungewöhnliches zustoße!" (4,12) Wir sind oft grenzenlos wehleidig geworden. Wir müssen mit dem Leiden anders umgehen. Deshalb der Aufruf: „Wenn einer von euch leidet, weil er Christ ist, dann soll er sich nicht schämen, sondern Gott verherrlichen, indem er sich zu diesem Namen bekennt" (4,16).

So verbindet dieser Brief in einzigartiger Form den Lobpreis Gottes und die aufrichtende Ermahnung. Gott hat uns eine echte Chance geschenkt, mit seiner Gnade eine neue Zukunft zu eröffnen. Wir können wirklich wegkommen von Blindheit und falschen Wegen, sowohl im Erkennen als auch im Wollen und im Tun. Wir müssen die neue Chance der Wahrheit und des Friedens annehmen und uns für sie auf den Feldern unseres Lebens und unserer Gesellschaft mutig einsetzen. Gott hat uns eine grundlegende Wende in unserem Leben geschenkt: „Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden." (2,10) Zusammen mit dem Glauben bedeutet die Taufe Befreiung von den Mächten der Finsternis. Sie öffnet uns die Augen für das, was wirklich geschieht, und erleuchtet uns.

Darum spielt das Licht eine so große Rolle im Ersten Petrusbrief und in unserem Glauben. Es bringt eine befreiende Erhellung des ganzen menschlichen Daseins. Das Licht vertreibt die Ängste, das Dunkel der Unwissenheit, das Zwielicht der Lebenslüge, die Verblendung des Kreisens nur um sich selbst, die Missgunst und die Abneigung, den Unfrieden und den Hass. Wir brauchen diese Erleuchtung, weil es so viel Dunkelheit gibt und in dieser Dunkelheit viele Irrlichter, die uns verzaubern und verführen (vgl. auch 2 Kor 4,6; Hebr 6,4; 10,32). So können wir schließlich jene Spitzenaussage unseres Briefes verstehen, die wir zum Leitwort dieses Bistumsfestes gewählt haben: Ihr seid zum Glauben erwählt, „damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" (2,9; vgl. auch Apg 2,11). Alles kommt darauf an, dass wir diesen Mut zum Verkündigen, zum Zeugnis unseres Glaubens haben, damit andere ihn überhaupt sehen können. Nur so kann die Welt die befreiende Veränderung des Menschen erkennen. Dann können wir erlöst werden von unseren Götzen: von der Sucht nach immer mehr Besitz, Ansehen und Prestige, von der Kälte unseres Herzens gegenüber anderen Menschen, von der Abneigung gegenüber dem Fremden, von der Perversion dessen, was wir oft Liebe nennen, aber auch dauernd schmählich verraten, von der Besinnungslosigkeit in vielfältigem Rausch hin zu jener Nüchternheit, die zugleich Begeisterung ist.

Der Erste Petrusbrief weiß, dass wir in dieser Welt und Zeit Gäste und Pilger sind. Wenn wir uns wirklich von unseren Idolen bekehren, entschlossen ein neues Leben im Glauben beginnen, dann leben wir gewiss nicht in einer falschen Sicherheit, bleiben bei allem Gelingen immer noch im Unvollkommenen, sodass Erneuerung und Reform zu unserer Lebenseinstellung gehören. Aber so haben wir wirklich ein neues Leitbild für die Zukunft: Wir sind als Christen bei aller vielfältigen Anfechtung auf einem guten Weg, der zu einem Ziel führt. Dafür braucht es Geduld und Standfestigkeit, gerade auch in der Anfechtung und im Leiden. „Deshalb umgürtet euch und macht euch bereit! Seid nüchtern ... und lasst euch nicht mehr von euren Begierden treiben wie früher, in der Zeit eurer Unwissenheit. Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch euer ganzes Leben heilig werden." (1,13-15)

Im Strahlungsfeld dieser unverbrüchlichen Hoffnung können wir gewiss sein, dass wir unser Leben nicht auf Sand bauen, vielmehr auch in der Trübsal und im Leiden aus dem Dunkel in das wunderbare Licht kommen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz