Gesellschaftlicher Kitt durch den Sport

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Juli 2008

Datum:
Freitag, 4. Juli 2008

Gastkommentar für die Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Juli 2008

Es ist und bleibt frappierend, wie die Europameisterschaft die Menschen besonders in unserem Land in Atem gehalten hat. Bei allem oft leidenschaftlichem Einsatz für die DFB-Elf war es offensichtlich nicht nur der sportliche Erfolg allein, der diese Begeisterung weckte. Aber was steckt sonst dahinter?

Unsere Gesellschaft ist, wie viele Untersuchungen und Urteile belegen können, in der Gefahr, durch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Haltungen und Meinungen, Interessen und Lebensformen auseinanderzufallen und sich immer mehr zu atomisieren. Die großen verbindenden Ideen und Motive sind spärlicher geworden. Über lange Zeit war es die Nation, die eine wichtige Bindung unter sehr verschiedenen Menschen schuf. Da so viel Hass und Zerstörung durch einen übertriebenen Nationalismus entstanden war, hat das nationale Element an solcher Bindungskraft eingebüßt. Im Zeitalter eines näheren Zusammenrückens in der Europäischen Union und der weltweiten Globalisierung tritt die Nation in ihrem prägenden Rang auch zurück. Gerade darum haben wir aber eine neue Zuneigung zum eigenen Land, zu unserer Sprache und Kultur notwendig, was man mit dem gut gemeinten, aber doch nicht mehr so treffenden Wort „Patriotismus" zu umschreiben pflegt. Wir müssen die neue Bedeutung des Nationalen in einer anders gewordenen Welt wieder entdecken. „Heimat" darf nicht verloren gehen.

Wir suchen nach Formen, in denen die Gemeinsamkeit der Menschen in unserem Land zum Ausdruck kommt. Dies können nicht nur, so wichtig dies ist, das Grundgesetz als unsere Verfassung und z.B. die wichtigsten verbindlichen Spielregeln sein. Es braucht auch Raum für Begeisterung, Emotionen und Leidenschaft. Im Unterschied zu früher kann der Staat dies auch aufgrund der Zurückhaltung, die ihm auferlegt ist, kaum mehr anschaulich leisten. Früher haben z.B. Militärparaden, nationale Gedenktage, Rekrutenvereidigungen und ähnliche Veranstaltungen dies übernommen. So ist heute ein ziemliches Vakuum entstanden, um diese Gemeinsamkeit auch visuell und erlebnismäßig, dazu noch auf einer sehr breiten Basis lebendig darzustellen und zur Wirksamkeit zu bringen.

Natürlich sind es viele Faktoren und Lebensbereiche, die in unserer Zeit diese Bindungen unter den Menschen stärken. Dazu gehören nicht nur Kunst und wirtschaftlicher Erfolg, Wissenschaft, Medien und Religion/Kirchen. Aber sie sind natürlich alle von der grundsätzlichen Pluralität unserer Gesellschaft mitgeprägt und haben nicht diese Reichweite, wie sie eben der Sport bekommen hat. Er hat wirklich eine sehr weit ausgreifende verbindende Kraft, wozu natürlich die Medien den fast wichtigsten Beitrag leisten

Der Sport, gerade auch in großen internationalen Veranstaltungen, übernimmt also eine gewisse universale Bindekraft in unserer Gesellschaft. Er ist wie ein neuer Kitt, um die auseinanderstrebenden Bereiche unserer Gesellschaft zusammenzufügen. Er ist dafür auch geeignet. Er verlangt kein Bekenntnis und keine Lebensentscheidung. Er ist offen und unverbindlich, dennoch schafft er ein Wir-Gefühl, das uns sonst abgeht.

Viele sind gegenüber einer solchen Entwicklung skeptisch. Sie sehen in den Beifallstürmen und in den kollektiven Begeisterungsszenen so etwas wie säkulare Liturgien. Man kann dies aber auch gelassener betrachten, wenn man sieht, warum wir in unserer bindungsschwachen Gesellschaft solche zusammenführenden Kräfte brauchen. Gewiss gibt es einzelne Tendenzen, den Sport und gerade auch den Fußball zu überhöhen, ja manchmal auch absolut zu sehen. Leicht werden religiöse Worte und Rituale übertragen, wie z.B. die Rede vom Fußballgott. Es gibt auch regelrechte Hymnen, die mit einem pseude-religiösen Repertoire die Fans in Begeisterung versetzen wollen. Dies kann durch Übertreibung tatsächlich abartig werden. Aber man darf hier nicht durch solche Einzelphänomene das Urteil verfestigen.

Schließlich zeigt sich, dass der Sport durch das Fehlen anderer wirksamer Bindungskräfte einen wichtigen Beitrag leisten kann zu dem, was man heute „Integration" nennt. Dies meint den Zusammenhalt nicht nur der Deutschen, sondern auch ihr Verhältnis zu den Fremden, den Einwanderern. Es war schon erstaunlich, wie friedlich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - es nach dem Spiel gegen die Türkei zuging. Die Atmosphäre nach dem Endspiel war auch zwischen Spaniern und Deutschen offenbar verträglich. So kann der Sport wohl über das ohnehin schon bekannte Maß hinaus relativ unauffällig und unspektakulär zur Integration beitragen. Jedenfalls geht es bei diesen Fragen nicht nur um den Kopftuchstreit. Aber er darf dabei nicht die einzige Instanz bleiben. Diese Versuche sind nämlich gewiss sehr verletzlich und auch sehr vergänglich. Es braucht noch andere Bindekräfte, die sich z.T. durchaus mit dem Sport verbinden können. Dazu gehören Wirtschaft und Kultur, die Medien und auch die Kirchen - mit ihrem eigenen Leben und mit dem Dialog der Religionen untereinander.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz