„Gesundheit – unser höchstes Gut?“

Festvortrag beim Abschluss der Jahrestagung der Mittelrheinischen Chirurgenvereinigung am 22. September 2007 an der Fachhochschule in Worms

Datum:
Samstag, 22. September 2007

Festvortrag beim Abschluss der Jahrestagung der Mittelrheinischen Chirurgenvereinigung am 22. September 2007 an der Fachhochschule in Worms

Der starke Wandel der heutigen Gesellschaft hat auch die Einrichtungen für Gesundheit und Krankheit erfasst, obgleich es sich dabei um ziemlich gleichbleibende menschliche Phänomene handelt. Deshalb ist es gut, mitten in dem zum Teil beängstigenden und rasanten Wandlungsprozess nach dem bleibenden Wesen und dem unveräußerlichen Kern dieser Institutionen zu fragen. Ich möchte meinen Auftrag so erfüllen, dass ich zuerst die Beeinträchtigung des menschlichen Lebens durch das Kranksein bedenke, die biblischen Grundlagen für seine Wertung darstelle und schließlich auf die Bedingungen von Heil und Gesundheit eingehe. Wer sich dem Thema „Gesundheit“ stellt, muss sich auch fragen, wie er mit ihrem Mangel oder gar ihrem Fehlen umgeht. Deshalb geht es immer wieder auch um Krankheit und Maßnahmen zu ihrer Heilung.

I. Gesundheit und Krankheit als anthropologische Situation

Die Gesundheit erscheint uns meist als ganz selbstverständlich, obgleich sie keineswegs so eingeschätzt werden darf. Aber in unseren durchschnittlichen Bewusstsein ist die Gesundheit eher verborgen und uns gar nicht direkt zugänglich. Wir entdecken sie eigentlich erst, wenn sie beeinträchtigt wird, d.h. wenn wir uns nicht wohl fühlen oder wenn wir regelrecht krank sind. Dann geht alles darum, dass wir die Gesundheit wiedergewinnen. Darin liegt das Wunder der Rekonvaleszenz und das Geheimnis der Gesundheit.

Der kranke Mensch ist in einer besonderen Situation. Er ist auf vielfache Hilfe angewiesen. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass er äußere Hilfe z.B. beim Gehen oder Aufstehen braucht. Er ist in vielen Fällen rundum, d.h. mit Leib und Seele, auf Unterstützung angewiesen. Dies ist gerade heute keine einfache Situation. Wir haben oft einen übertriebenen oder gar falschen Begriff von menschlicher Autonomie, werden ganz auf Selbstbestimmung hin erzogen und schämen uns nicht selten, wenn wir andere für die Aufrechterhaltung unserer Lebensbedingungen brauchen. Wir bringen Krankheit leicht mit einer regressiven Fremdbestimmung und einer Art von Infantilität in Zusammenhang. Wir fürchten besonders, dass der kranke Mensch in hohem Maß seine Freiheit, seine Würde und seine Intimität verlieren könnte. Dieses Erleben von Angst, Aggression und Ohnmacht gehört für viele Menschen zur Erfahrung des Krankseins. Wer krank ist, ist in seiner Autonomie und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt. Es wäre Ausdruck eines falschen Menschenbildes, wenn wir dagegen nur protestieren würden, vielleicht sogar enttäuscht und verbittert. Es gehört zur Kreatürlichkeit des Menschen, dass er an vielfache Grenzen, auch an Schranken seines leiblichen Daseins, stößt.

Wir Menschen sind in dieser Endlichkeit grundlegend aufeinander angewiesen und brauchen einander. Dies heißt auch, dass wir füreinander eintreten sollen und müssen, wenn wir in Not sind. Wir sind stets und immer schon durch andere herausgefordert, die von uns mit Worten oder schweigend Hilfe erwarten. Darin zeigt sich, dass die Solidarität unter den Menschen grundlegend in der Kreatürlichkeit verwurzelt ist. Daraus muss dann im doppelten Sinne Mitmenschlichkeit entspringen: Wir gehören zum selben Menschengeschlecht; wegen der Würde jedes Menschen bedarf es der Rücksicht und der Unterstützung des anderen. Diese Mitmenschlichkeit im Sinne konkreter Humanität und christlicher Nächstenliebe sollte die Menschen von ihrer Natur her, aber besonders in ihrem Ethos miteinander verbinden.

Eine solche Situation ist für alle Beteiligten nicht bloß eine Herausforderung im allgemeinen Sinne, sondern sie muss mitmenschlich konkret angenommen und bewältigt werden. Der kranke Mensch muss seine Grenzen und seine Ohnmacht, auch wenn sie nur vorübergehend sind, einsehen und akzeptieren. Es ist gar nicht leicht, sich wirklich helfen zu lassen. Wir wollen zunächst gar nicht zugeben, dass wir hilfsbedürftig sind. Viele lehnen sich deshalb auch gegen ärztliche Hilfe und Pflege auf, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Die Annahme der Krankheit versetzt uns Menschen in eine Situation der Schwäche und der Ohnmacht, die man in einer Haltung von Demut annehmen muss. Für den modernen, auf Autonomie bedachten Menschen kann dies sehr schmerzlich sein und ihn geradezu zur Rebellion gegen seine Endlichkeit und Sterblichkeit führen.

Es ist aber auch eine Herausforderung für den Helfenden, und hier nicht nur für den Arzt. In der Situation der Ohnmacht eines anderen bekommt man leicht die Oberhand. Es stellt sich fast von selbst eine Art von Verfügungsmacht über andere ein. Deshalb hat man rasch den Eindruck, der Helfende könne unter der Hand rasch zum Herrschenden werden. Es gibt in der Tat im Verhältnis des Arztes und der pflegenden Kräfte zu kranken Patienten die Gefahr eines solchen Herrschaftsverhältnisses. In der Routine des Alltags, wo es gewiss gerade auch um der sachgerechten Heilung und Pflege willen Weisung und Autorität braucht, kann diese Gefahr leicht unterschätzt werden. Deshalb ist es gut, wenn alle Helfenden den Kranken als Ihresgleichen betrachten und immer auch eingedenk sind, dass sie selbst einmal Hilfe brauchen können. Darum müssen auch alle bestrebt sein, im Maß des Möglichen kranke Menschen voll in ihrer Würde anzunehmen und sie an Entscheidungen zu beteiligen, soweit dies möglich ist.

Eine solche Situation wie das Kranksein kann leicht zur Einsamkeit und zur Vereinsamung führen. Deshalb ist es ein elementares Gebot der Humanität, Kranke zu besuchen. Sie dürfen nicht von der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden und sollten so „normal“ wie eben möglich leben. Die Hospizbewegung versucht einen solchen Umgang mit dem Kranken bis in den Sterbeprozess hinein. Es ist auch erstaunlich, wie die neueren Arbeiten zum Umgang mit Behinderten manche Isolierung durchbrechen konnten und in vielen Fällen so etwas wie „Normalität“ erreichen konnten. Jedenfalls braucht der kranke Mensch in einer ganz elementaren Weise Kommunikation und Begleitung. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, die ein hohes technisches Können und Wissen für den Kranken bereithält. Der Kranke darf gerade unter den Bedingungen einer hochtechnisierten Medizin nicht nur als ein „Objekt“ der Pflege betrachtet werden, sondern man muss sich an die Seite des Kranken stellen, ihn ein stückweit auf seinem Lebensweg begleiten und bei ihm bleiben, besonders wenn es in seinem Leben dunkel wird. Begleitung ist ein Element bleibender und kontinuierlicher Fürsorge, die alle Stationen und Krisen mitzugehen bereit sein muss. „Begleitung“ gewährt freilich auch eine gewisse Distanz, die die Integrität und Personalität des Kranken wahrt und den Pfleger vor zu strapaziöser Identifikation schützt. Der professionelle Abstand kann darum auch für den Kranken durchaus wohltuend sein. Wenn der professionelle Abstand jedoch in übergroßem Maß vorherrscht, geht leicht jede Sensibilität verloren.

Die fachkundige Pflege ist gerade auch im schlichten menschlichen Helfen, das sehr alltäglich und unscheinbar sein kann, Verwirklichung von Liebe. In einer wirklichen „Begleitung“ liegt ein Geschenk an den kranken Menschen, das unersetzlich ist. Darum sind viele Kranke auch von Herzen dankbar, wenn sie eine solche menschliche Zuwendung erfahren. Es ist ganz entscheidend, dass zwischen vielen Apparaten und technisch orientierten Behandlungen ein konkretes menschliches Angesicht erscheint und sichtbar bleibt, ob es sich nun um einen Arzt, eine Schwester oder einen Pfleger handelt.

Manchmal können dies auch ehrenamtliche Dienste und Kräfte im Krankenhaus erreichen. Die „Grünen Damen“, d.h. Frauen, die ehrenamtlich die Kranken besuchen und kleine Dienste besorgen, und alle Besuchsdienste verrichten hier eine besonders wichtige Aufgabe, weil sie nicht so unmittelbar vom Stress professioneller Pflege erfasst sind. Sie haben die besondere Chance, gleichsam unverzweckt den Kranken zu begleiten. Dies äußerst sich gerade darin, dass jemand Zeit für einen anderen hat. In besonders konzentrierter Form gilt dies für die Kranken- und Krankenhausseelsorge. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre.

In diesem Sinne kann man auch eine Antwort auf die im Titel gestellte Frage geben: „Gesundheit – unser höchstes Gut?“ In unserer irdischen Betrachtung ist „Leben“, das noch über Gesundheit hinausgeht (vgl. Kranke, Alte, Behinderte), das höchste Gut. So ist es auch in unserer Verfassung beschrieben. Allein dies zeigt schon, dass Gesundheit zwar ein sehr hohes, sehr kostbares Gut ist, aber dass man nicht sagen kann, es sei das höchste Gut. Sonst würden wir Leben, das beschädigt ist und über die „Normalität“ hinaus begrenzt ist, nicht hoch genug schätzen. Dies ist sicher auch eine unbeabsichtigte Nebenwirkung einer Absolutsetzung von „Gesundheit“ in unserer Gesellschaft. Man muss sich dann außerdem fragen, welche Form von Gesundheit gemeint ist, denn manche sehen hier weitgehend nur körperliche Ertüchtigung, muskelprotzende Gestalten oder auch nur „Wellness“.

Aber es gibt auch eine Antwort, die noch tiefer greifen muss. Es gibt nämlich Träumereien von einem unbegrenzten Gesundsein und Gesundbleiben. Zwar weiß jeder, dass diese Wünsche weitgehend Utopien sind. Aber sie bewegen den Menschen immer wieder, manchmal bis in die Wissenschaft hinein. Insofern ist das Ganze auch eine anthropologische Grundfrage. Wir sind endliche, kreatürliche Lebewesen, die unvollkommen, begrenzt und sterblich sind. Es ist die Frage, wie wir damit umgehen. Dies ist zwar nicht unmittelbar das Thema dieses Vortrags, aber jede Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist auch eine Positionsnahme in dieser Hinsicht. Es scheint mir, dass die Bibel darauf eine sehr klare Antwort hat, und zwar aus dem Munde Jesu selbst. Dabei ist es bezeichnend, dass dieses Thema in einer relativen Nähe steht zum Rang des Reichtums. Auch dies ist ein weiteres Thema. Vielleicht gibt uns Jesus einen Hinweis, wie wir auch mit der falschen Selbstsicherheit umgehen: Ein Mann hatte eine gute und reiche Ernte. Er überlegte sich, wie er sich damit über die Jahre hindurch sichern könnte, sodass er zu sich sagen kann: „Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink, und freue dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.“ (Lk 12,16-21, bes. 19-21)

Gerade auch im Blick auf unser Leben und noch mehr auf die Gesundheit bewegen wir uns in dieser Offenheit. Das Wissen um die Endlichkeit soll uns nicht ängstigen oder gar bitter werden lassen. Wenn wir um die Begrenztheit unserer Zeit und unserer Gesundheit wissen, können wir erst recht dankbar sein für das, was uns in dieser Zeit gelingt. Dann haben wir auch die besten Voraussetzungen für das Bestehen eines guten Lebens. Dazu gehören vor allem Dankbarkeit für die eigene Existenz und besonders das Gesundsein. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns jeden Morgen mit eigenen Kräften aus dem Bett heben und aufstehen (dieses Wort hat eine vielfache Bedeutung, gerade zwischen Leben und Tod). Dies schafft dann eine besondere Lebensfreude, aber auch eine Gelassenheit. Dabei lernen wir auch, mit knapperen Kräften umzugehen und eine Minderung unserer Gesundheit zu tragen.

II. Biblische Grundlagen für den Umgang mit Kranksein

Dies sind weitgehend allgemeine menschliche Voraussetzungen, die auch für das Verhältnis zwischen Patienten und allem medizinischen Personal gelten. Die biblische Sorge um den Menschen macht uns aber in verschärfter und vertiefter Weise darauf aufmerksam. Dies möchte ich nun am Beispiel des barmherzigen Samariters (vgl. Lk 10,25-37) kurz aufzeigen.

Es wird zunächst sehr anschaulich und beinahe wie in einem nüchternen Protokoll beschrieben, wie ein Mann unterwegs von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fiel: „Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.“ (10,30b) Ein Priester und ein Levit kamen zufällig vorbei, beachteten aber den Verletzten nicht. Dies darf man gewiss auch als einen Hinweis lesen, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion, ja auch das Innehaben von Diensten und Ämtern aus sich allein noch keine Zuwendung zum bedürftigen Menschen garantiert. Auch das christliche Krankenhaus ist von sich aus noch keine Gewähr für Menschenfreundlichkeit. Gewiss sind dafür auch die Rahmenbedingungen wichtig, aber die konkrete Menschenfreundlichkeit geht doch vor allem von den Menschen aus, die in den Institutionen arbeiten.

Gegenüber dem Kranken ist die Wahrnehmungsfähigkeit von ganz besonderer Bedeutung. Diese Fähigkeit kann jedoch gerade heute ganz schnell abstumpfen. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt ist es die Reizüberflutung in den Medien, die hier negativ wirkt. Man braucht nämlich eine gewisse Sensibilität, um Leid überhaupt wahrzunehmen. Wir sehen gerne über Ohnmacht und Schwäche hinweg. Der Kirchenvater Origenes sagte einmal, die Ursünde des Menschen bestehe in der „Anästhesie“, d.h. in der Unempfindlichkeit des Menschen gegenüber Leid und Leiden. Wir verhalten uns dann wie Menschen in der Fühllosigkeit der Narkose, so segensreich sie medizinisch gesehen auch ist. Es ist schon niederschmetternd, wenn der biblische Bericht das Verhalten jeweils von Priester und Levit angesichts des Verletzten lakonisch mit denselben Worten wiedergibt: „er sah ihn und ging weiter“ (10,31/32).

Ganz anders ist es mit dem Samariter, der zunächst gar nicht zum auserwählten Volk gehört, und von dem man darum auch keine besondere Hilfe meint erwarten zu können. Dennoch hat gerade er eine ganz feine „Witterung“, d.h. er sieht wirklich den anderen in seiner Hilfsbedürftigkeit und Ohnmacht. Dies kann man eigentlich nur, wenn man mit den Augen des Herzens sieht. Wer so sieht, geht nicht in eine grundlegende Distanz, die bald der Gleichgültigkeit ähnlich ist, sondern er bleibt in der Nähe des Verletzten. Aus dem Wahrnehmen des Leidens wird Mit-Leid. Darum sagt die Erzählung: „Als er ihn sah, hatte er Mitleid“ (10,33). Das Kranksein von Menschen muss uns immer dazu bewegen, dass wir selbst, gleichsam an unserem eigenen Leib, das Verwundetsein und die Hilfsbedürftigkeit erfahren. Dann entsteht aus dem Mitleid echtes Erbarmen.

Dabei bleibt die Erzählung vom Samariter aber nicht stehen. Denn es geht ja um Hilfe und Abhilfe. Aus dem Sehen und dem Mitleid muss Konkretes folgen. Das Evangelium ist sehr genau in der Beschreibung dessen, was nun geschieht: „Als er (der Samariter) ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.“ (10,34a) Mit unüberbietbarer Nüchternheit geht der mit den Augen des Mitleids Sehende zur Hilfe über. Er geht nicht einfach weiter in dem Sinne, dass er seinen eigenen Geschäften nachgeht, sondern hält an und unterbricht sein eigenes Tun, weil er sich anrühren lässt von der Hilfsbedürftigkeit des Bruders. Es ist sehr wichtig, diese Serie und Abfolge von Momenten zu sehen, die ohne jede Floskel und auch ohne fromme Sprüche das ganze Geschehen beherrscht: Er sieht ihn, er hat Mitleid mit ihm, er verbindet ihn und bringt ihn – Nachsorge könnte man dies nennen – in das nächste Gasthaus, wo er sich auskurieren kann. Das Sehen ruft, wenn es wirklich wahrnehmen will und Erbarmen aus sich entlässt, das Eingreifen hervor, wie es auch in der Medizin aufgrund der Diagnose zu einem Eingriff kommt, der dem Kranken das Leben retten kann.

Die biblische Auffassung vom Helfen geht jedoch noch weiter. Sie erinnert uns alle zunächst an die Zerbrechlichkeit und Begrenztheit des Lebens und wirft auch Fragen nach Schuld und Sinn auf. Manchmal ist es so, dass das Kranksein eine Krise im menschlichen Leben offenbart oder mit sich bringt. In einer solchen Situation müssen oft bisherige Lebensmuster überprüft werden. Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen sich, um das Leben neu zu gestalten. Im einzelnen Fall kann die Krankheit als prägendes Moment in einer ganzen Biographie integriert sein und gibt – freilich oft erst später erkennbar – einen „Sinn“, von dem aus man sein Leben neu zu orientieren vermag. Freilich muss man äußerst behutsam damit umgehen, denn dieses „Aufarbeiten“ der Krankheit geschieht nie automatisch, bleibt immer ein Geschenk und lässt sich schwer auf allgemein gültige Formen bringen. Sie ist und bleibt zuerst Leid und Schmerz. Dies darf man nicht überspringen.

Das christliche Menschenbild weiß, dass der Mensch mit seinen Grenzen, ja auch seinem Schicksal leben muss. Dies schließt gewiss ein, dass wir alles heilen müssen, was heilbar ist. Wir sollten das Unheil beseitigen. Wo dies nicht ganz möglich ist, sollten wir das Leid wenigstens vermindern. Vermeidbares Leid ist eine schlimme Sache. Aber dennoch wird es Leid geben, das wir auf diese Weise nicht gänzlich vermeiden können. Nicht zufällig sprechen wir von unheilbaren Krankheiten. Der Christ nimmt auch nüchtern zur Kenntnis, dass es Leid und Krankheiten gibt, bei denen er keinen „Sinn“ entdecken kann. Hier braucht es zunächst einmal die Geduld, solche Situationen auszuhalten. Man darf nicht das Sinnlose zur Beruhigung in Sinn umdeuten. Vor allem das Kreuz Jesu Christi erinnert uns daran, dass es eine bleibende Absurdität und eine oft nicht aufzuhellende Widersinnigkeit in unserem Leben gibt. Aber gerade in solchen Situationen darf der Christ den Leidenden und den Kranken nicht allein lassen, sondern muss ihn auch auf den letzten Wegen begleiten und ist ihm in dieser Ohnmacht besonders nahe, trägt vielleicht sogar den Kranken regelrecht.

Das Verständnis des Neuen Testaments für Krankheit und Leid kommt in der Rede Jesu vom Weltgericht zu einem gewissen Höhepunkt (vgl. Mt 25,31-46). Dort sagt Jesus Christus: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht“ (25,36). Als die Menschen staunen und fragen: „Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?“ (25,39), bekommen sie die unerhörte Antwort: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir angetan.“ (25,40). Jesus identifiziert sich also unmittelbar mit dem Kranken. Er richtet damit ein besonderes Maß und Motiv auf für die Sorge um die Kranken, nicht zuletzt auch den Krankenbesuch. Dies gehört tief in das Evangelium Jesu Christi hinein. Schon in den alttestamentlichen Verheißungen des kommenden Messias heißt es, dass er den Blinden das Augenlicht schenkt und die Zerschlagenen in Freiheit setzt (vgl. Lk 4,18 und Jes 61,1f.). Darum wendet sich Jesus vom Beginn seines Wirkens an den Kranken zu. Seine Krankenheilungen verstärken grundlegend diesen Zug. In diesen Heilungen bricht Jesus die destruktiven Dimensionen auf. Heilungen geschehen, wo Kranke sich dem Arzt Jesus öffnen (vgl. Mk 6,54). Jesus wird schließlich sogar selbst ein „Kranker“ und nimmt die Krankheiten heilend hinweg (vgl. Mt 8,17). So wird das stellvertretende Leiden zu einem Medium der Erlösung der Welt. Die Überwindung und besonders Heilung der Krankheit gehört zu den Zeichen, an denen das Kommen des Reiches Gottes angekündigt wird, auch wenn der Tod noch nicht besiegt ist. An dieser Stelle wird ja auch deutlich, dass bereits im Alten Testament Jahwe als Arzt interpretiert wird und dass Jesus im Neuen Testament, ganz besonders wie ein heilender Arzt verstanden und dargestellt wird (vgl. das Wort „Heiland“).

Die christliche Gemeinde hat dieses Verhalten Jesu als einen eigenen Auftrag gesehen und die ersten Schritte für eine Krankenseelsorge grundgelegt. So heißt es im Jakobus-Brief: „Ist einer von euch bedrückt? Dann soll er beten. Ist einer fröhlich? Dann soll er ein Loblied singen. Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.“ (5,13ff). Hier sieht man sehr deutlich, wie die Urchristenheit auf Jesu Verhalten reagiert und mit der Ausbildung einer umfassenden „Therapie“ für den Kranken beginnt, wobei es sich hier ganz deutlich um die Sorge für den Menschen mit Leib und Seele handelt, also um das Gebet, das eine ganzheitliche Heilung einschließt. Der Segen (vgl. Mk 5,23; Lk 4,40; Mk 16,18) ist ebenfalls ein Zeichen dieser Zuwendung und gehört zu jedem Krankenbesuch. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil können auch Laien diesen Segen spenden.

III. Die Entstehung der Krankenhäuser aus dem Geist des Christentums

Es kann hier nicht ausführlich dargelegt werden, wie sich schon relativ früh in der Konsequenz dieses Heilshandelns Jesu und der Sorge der Kirche um die Kranken so etwas wie Krankenhäuser ausbilden. Dabei ist es verständlich, dass sich diese ersten Ansätze noch ganz in einer umfassenden Versorgung der Kranken, Armen und Alten bewegen. Erst in späterer Zeit gibt es gewisse Differenzierungen in verschiedene Einrichtungen. Man darf deshalb auch die Krankenhäuser nicht erst in der Neuzeit ansetzen, obgleich es richtig ist, dass sie sich in dieser Zeit gegenüber anderen Einrichtungen spezialisieren, abgrenzen und viel stärker ausgebaut werden. Bis in die Neuzeit hinein waren Hospitäler Zufluchtsstätten für Notleidende aller Art, unter denen die Kranken nur eine Gruppe unter vielen bildeten. Aber es gab natürlich auch eine ausgedehnte Krankenpflege, die man nicht übersehen darf.

Um 140 schreibt der christliche Philosoph Aristides von Athen: „Sie (die Christen) lieben einander. Die Witwen missachten sie nicht, die Waisen befreien sie von dem, der sie misshandelt. Wer hat, gibt neidlos dem, der nicht hat. Wenn sie einen Fremdling erblicken, führen sie ihn unter ihr Dach und freuen sich über ihn wie über einen Bruder.“ Besonders die Witwen und die Diakonissen, deren Wirken wir im Osten bis zur Jahrtausendwende verfolgen können, haben sich der Kranken angenommen. Reiche Frauen haben nicht selten ihre Häuser in Hospitäler umgewandelt, um darin Kranke zu versorgen.

Vor allem die Entwicklung des 18. Jahrhunderts bringt eine Ausdifferenzierung der Einrichtungen in Richtung des Krankenhauses im engeren Sinne: Menschen werden für eine begrenzte Zeit, nämlich ihrer Krankheit, aufgenommen; es gibt eine sachkundige krankenpflegerische und ärztliche Betreuung der Patienten; die Krankenhäuser werden so auch Zweckbauten, die auf die stationäre Krankenpflege zugeschnitten sind; es gibt eine ärztliche Überwachung der Krankenpflege insgesamt. Bald finden sich auch geburtshilfliche Abteilungen, Infektionsstationen, Militärlazarette und innere bzw. chirurgische Abteilungen. Eine wichtige Differenzierung erfolgt für den deutschen Sprachraum durch den österreichischen Kaiser Joseph II., der die Wohlfahrtsanstalten in vier Kategorien einteilt: „Krankenhäuser“, „Gebäranstalten“, „Irrenanstalten“ und „Waisenhäuser“. Zugleich erfolgt in diesem Zusammenhang ein entscheidender Schritt zur Säkularisierung des Krankenhauswesens in Mitteleuropa.

In Deutschland entstanden vor allem im 19. Jahrhundert viele kirchliche Krankenhäuser, besonders im Zusammenhang der Entstehung zahlreicher Frauenorden. Oft waren zunächst freilich nur die Armen in den Spitälern. Im Krankenhaus gab es ja kaum mehr technische Einrichtungen und Pflegemöglichkeiten als in einem Privathaus, in das der Arzt gerufen wurde. Nach den revolutionären Bewegungen von 1848, die viele Länder Europas betrafen, haben die Initiativen von Vereinen und Verbänden, bürgerlich-kirchlichen Stiftungen und von Ordensgemeinschaften fast explosionsartig zugenommen und in der neu gewonnenen Freiheit der Kirche zahlreiche Krankenhäuser gegründet. So hat z.B. der bekannte „Sozial-Bischof“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler sie im Bistum Mainz nach seinem Amtsantritt im Jahr 1850 sehr intensiv gefördert. Es ist darum nicht zufällig, dass auch ein Teil der kirchlichen Krankenhäuser den Initiativen dieser Zeit ihr Dasein verdanken.

Es gibt viele Ordensgründungen, die sich in neuer Weise um die sozialen Nöte und die schwierigen Lebensbedingungen vieler Menschen mit der Folge von Krankheit kümmern. Das hohe Maß, mit dem sich gerade die aktiven weiblichen Frauenorden und -gemeinschaften der Armen und Elenden angenommen haben, gehört zu den Ruhmestaten in der Sozialgeschichte. Viele soziale Berufe, die uns heute selbstverständlich in unserer Gesellschaft begegnen, wurden von den Ordensgemeinschaften ins Leben gerufen und entfaltet. Die Ordensschwestern boten in genügender Zahl qualifizierte Kräfte, arbeiteten unentgeltlich und ermöglichten dadurch ein spezialisiertes Krankenhaus. Man darf hier besonders an die Krankenschwestern, aber auch an die Erzieherinnen, an die Schwestern im Krankendienst der kirchlichen Gemeinden und an die Sorge für bestimmte Bevölkerungsgruppen denken, wie z.B. für Dienstboten, Knechte, Mägde, Gesellen und Tagelöhner. Sammlungen und Spenden trugen solche Häuser ebenso wie Stiftungen.

Hier ist auch sehr viel Pastoral und Sozialpädagogik, wenigstens in den Grundlinien, ausgebildet worden. Es ist besonders wichtig zu sehen, dass vornehmlich die Schwestern von sich aus aufgebrochen sind, um jenen Kranken zu helfen, die sich selbst oft nicht genügend bewegen konnten. Schon damals gibt es also eine „Geh-Hin-Struktur“ und nicht bloß die Erwartung, dass die Betroffenen kommen. So heißt es etwa exemplarisch bei der Gründung der Schwestern vom Göttlichen Erlöser im Elsass (1849) und bei uns im Bistum Mainz in Darmstadt, Gießen und auch hier in Worms (gegr. 1868): „Die erste Absicht der Schwesterngemeinschaft gilt den Armen, die durch Krankheit mittellos geworden sind. Sie will zu ihnen gehen, sie in ihren armseligen Hütten, in den abgelegenen Weilern oder in den Dachkammern der Industrievorstädte aufsuchen. Aus dieser ursprünglichen Hinwendung erwachsen die Antriebskraft, die Bereitschaft und der Einfallsreichtum, alle möglichen Formen von Elend zu bekämpfen, die dem wahren Glück des Menschen und seiner Begegnung mit Jesus Christus, dem Erlöser, im Wege stehen.“

Es ist eine tragisch anmutende Entwicklung, dass gerade die im 19. Jahrhundert entstandenen Frauenorden, die sich nicht zuletzt in den Krankenhäusern der Not der Menschen widmeten und viele soziale und karitative Berufe mit ausgebildet haben, in den letzten Jahrzehnten einen einschneidenden Rückgang von Berufungen verzeichnen mussten, sodass sie auch ihre Einrichtungen nicht mehr im bisherigen Maß mit Schwestern der eigenen Gemeinschaft ausstatten konnten. Es bleibt jedoch bemerkenswert, dass es in vielen Fällen gelungen ist, diese Krankenhäuser zu erhalten und sie – unterstützt durch die Schwesterngemeinschaften – überzeugend mit Laienkräften fortzuführen und auszubauen.

IV. Das christlichen Menschenbild in den heutigen Konflikten

Die tragende Mitte stellt das christliche Menschenbild dar. Man könnte es von drei Dimensionen her begründen.

·Fundament ist unsere Überzeugung, dass die Würde eines jeden Menschen unabhängig von seiner physischen oder psychischen Verfassung, seiner Religion oder Weltanschauung, seiner Rasse oder sozialen Herkunft von Gott selbst begründet ist. Die Überzeugung, dass jeder Mensch Geschöpf und Bild Gottes ist, verleiht ihm von vornherein eine unantastbare Menschenwürde, wie sie als oberstes Prinzip in vielen Verfassungen und in mancher Charta der Menschenrechte verbürgt wird. Kein Mensch kann über diese Menschenwürde verfügen, denn sie hängt nicht von der Anerkennung durch Menschen ab, sondern ist vor allen unseren Unterscheidungen in Arm und Reich, Gesund und Krank, Rasse und Klasse von Gott selbst gegeben. Sie ist nicht käuflich und nicht veräußerbar.

·Dieses Fundament wird respektiert und entfaltet in der Art und Weise, wie wir den Kranken sehen. So heißt es in den hessischen Leitlinien: „Die uns zugesagte, liebende Nähe unseres Gottes lässt uns im Kranken den hilfsbedürftigen Nächsten sehen und in ihm das Antlitz Gottes entdecken. So können wir den Menschen, für die wir arbeiten, angemessen und zuversichtlich gegenübertreten.“ Diese Würde des Menschen muss man immer wieder suchen und wahren. An dieser Stelle müsste ausführlicher davon die Rede sein, dass diese Würde ganz besonders für den Anfang und für das Ende des Lebens gilt.

·Ein drittes Element ist die ganzheitliche menschliche Sorge um die Kranken. Der Einzelne ist mehr als die Summe seiner medizinischen Daten und Befunde. Er bringt seine Geschichte und seine Überzeugungen, sein Schicksal und sein Leben mit. Wir sollten versuchen, diese gesamtmenschlichen Faktoren im Sinne einer Hilfe zur Gesundung und Heilung zu berücksichtigen. Wir wissen aber auch, dass selbst bei eingeschränkter Gesundheit ein sinnerfülltes und menschenwürdiges Leben möglich ist und sollten Menschen, die mit solchen Einschränkungen und vielleicht sogar Behinderungen leben müssen, dabei begleiten und Hilfe anbieten. Wir wollen auch Menschen, die ihren irdischen Weg beenden müssen, nicht allein lassen, sondern ihnen bis hinein in ein würdiges Sterben beistehen und ihnen die Hoffnung des Glaubens stärken oder vermitteln, dass nämlich mit dem Tod nicht alles aus ist.

Dieses Menschenbild gibt dem Handeln im christlichen Geist seine Richtung. Wir verstehen das Leiden des Patienten nicht nur als „Defekt“, sondern sehen die mit dem Leiden verbundene Not. Es geht nicht um bloße Reparatur, sondern um Heilung in einem den ganzen Menschen umfassenden Sinn, wie er vielfach beschrieben worden ist. Auch wenn es schematisierende und quantifizierende Abrechnungsmuster („Fallpauschalen“) und andere Systeme der medizinischen und bürokratischen Erfassung von Erkrankungen und erkrankten Menschen gibt, so darf niemand bloß ein Fall bleiben. Es liegt nicht nur ein „Blinddarm“ im Bett, sondern ein ganzer Mensch. Hier scheint mir für die Zukunft die größte Gefährdung zu liegen. Die verschiedenen Entgeltsystem dürfen nicht das konkrete Antlitz des einzelnen Menschen mit seiner Herkunft und seiner Geschichte verwischen.

Auch wenn wir großes Verständnis für ökonomische Aspekte haben, so wollen wir uns nicht dem Diktat allein wirtschaftlicher Kriterien beugen. Es darf nicht geschehen, dass die Behandlung nur auf das „medizinisch Notwendige“ eingeschränkt wird. Hier habe ich eine gewisse Sorge vor einem Wettbewerb, den ich nicht wegen der Konkurrenz fürchte, sondern deswegen, weil sich derjenige durchsetzen könnte, der den Menschen nicht ganzheitlich sieht, sondern als „Fall“ mit bestimmten „Defekten“ klassifiziert. Hier verläuft eine sehr schmale Grenze, die zu Gratwanderungen führen kann: Notwendige ökonomische Einschränkungen („Budgetdeckelungen“, Personalreduzierungen, Verweildauer usw.) dürfen ein humanes Maß nicht unterschreiten. Bürokratische Erfordernisse müssen immer wieder auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden. Sie dürfen nicht so überhand nehmen, dass menschliche Begegnung, Zeit für ein Gespräch usw. zu kurz kommen oder gar ein schlechtes Gewissen verursachen.

Das Gesundheitswesen, besonders im Krankenhaus, ist im hohen Maß verletzlich und anfällig. Es sind sehr viele Komponenten und Faktoren, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Dafür braucht es Klugheit und Erfahrung, Geduld und Augenmaß. Es ist z.B. nicht unmöglich, sondern durchaus wünschenswert, dass die angebotenen Sozialdienste und das ärztliche Handeln in Krankenhäusern überprüft und als Qualitätskriterium anerkannt wird, so dass auch in diesem Bereich mehr Wettbewerb entsteht. Aber der Markt regelt nicht alles, wie manche auch für den Gesundheitsbereich annehmen wollen. Es ist für mich nicht einsichtig, wie man auf der einen Seite dieses Marktsegment im Krankenhaus ausbauen möchte, auf der anderen Seite jedoch mitten in der so genannten Sozialen Marktwirtschaft eine rigorose Planung und Begrenzung z.B. von Leistungen vorschreibt, die im Grunde jeden echten Wettbewerb ruinieren und eher einer verordneten Planwirtschaft ähnlich sind.

Es gibt Zielkonflikte, an deren Auswirkungen heute niemand vorbeikommt. Die Arbeitslosenquote ist sehr schwer zu senken. Die Folgen der demographischen Entwicklung bringen viele Probleme für die Sicherheit der Sozialversicherungssysteme, gerade auch der Krankenkassen. Der Beitrag vieler Menschen zum Sozial- und Gesundheitswesen entfällt oder wird geringer. Dies steht in Gegensatz zur steigenden Lebenserwartung, zum medizinischen Fortschritt und zur teuren Technik. Es geht ja immer mehr um die Einsicht, dass unsere Mittel angesichts der vorhandenen Möglichkeiten begrenzt sind. Wir haben nicht einfach eine Kostenexplosion, sondern mehr noch eine Leistungsexplosion. Es ist sehr schwierig, dieses insgesamt ambivalente, fast widersprüchliche Phänomen und „System“ zu reformieren. Viele Reformen der letzten Jahre haben m.E. diese Zielkonflikte, die niemand wegdiskutieren kann, nicht aufgelöst, sondern manchmal sogar neue geschaffen. Ich denke an die Begrenzung des Budgets (Deckelung), die Trennung von Behandlungsformen, die Trennung von Zuständigkeiten, die Verlagerung von Verantwortungsbereichen und an viele Einzelvorschriften.

Fast 25 Jahre erlebe ich, wie sich dies in Krankenhäusern auswirkt. Es irritiert mich, immer wieder sehen zu müssen, dass diese Zielkonflikte unter Menschen und Berufsgruppen, die zum größten Teil schon ein hohes Engagement mitbringen, Spannungen und Auseinandersetzungen schaffen, die das Klima eines Hauses und vieles andere negativ beeinträchtigen. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Krankenhäuser viele innere Kräfte haben, die sie zum produktiven Verarbeiten dieser Konflikte einsetzen können. Hier sollten wir weniger klagen, sondern uns gemeinsam bemühen, die zweifellos vorhandenen schöpferischen Reserven zu mobilisieren.

Freilich, eines quält mich dabei immer mehr: Die täglichen Auseinandersetzungen und ständig wechselnden Strategien in der Gesundheitspolitik nehmen uns ein Stück weit den Atem, um innovative Wege zu suchen und zu finden, die einerseits tatsächlich vorhandene Mängel beseitigen und andererseits auch auf eine überzeugende Weise neuen Nöten der Menschen, die krank sind, kreativ begegnen. Deshalb begrüße ich es, wenn es gerade in der Zusammenarbeit mit den Kassen möglich ist, Experimente gezielter Art durchzuführen, wie z.B. die integrierte Versorgung älterer Menschen durch mehrere Institutionen.

Ich möchte auch an dieser Stelle und gewiss auch in Ihrem Namen allen danken, die sich in großer Zahl und mit hohem Engagement dieser Aufgabe und letztlich den kranken Menschen widmen. Damit denke ich zuerst an Ihre Verantwortung. Dies ist auch für die Kirche keine beliebige Aufgabe neben vielen anderen, sondern sie gehört zentral in die Mitte des Dienstes aus dem Glauben und zur Nachfolge Jesu Christi. Der Dienst am Kranken und das Krankenhaus sind und bleiben für die Christen auch in unserer Zeit und vielleicht erst recht in Zukunft ausgezeichnete und unersetzliche Orte der Solidarität, der Diakonie und damit auch der Nächstenliebe, selbst wenn sie heute nicht selten eher verborgen geleistet wird.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen enthalten 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz