„Gott - das bleibende Geheimnis"

Referat beim Symposion „Gottesfrage heute" anlässlich des 75. Geburtstages von Walter Kardinal Kasper am 12. April 2008 in Vallendar

Datum:
Samstag, 12. April 2008

Referat beim Symposion „Gottesfrage heute" anlässlich des 75. Geburtstages von Walter Kardinal Kasper am 12. April 2008 in Vallendar

Dieses Symposion ist mit der Feier des 75. Geburtstages von Walter Kardinal Kasper ganz besonders dem Band „Der Gott Jesu Christi" gewidmet, der soeben als Band 4 der Gesammelten Schriften mit einem stark erweiterten Vorwort zur Neuausgabe erschienen ist. In den über 25 Jahren, seit dieser Band erstmals veröffentlicht wurde und mehrere Auflagen und Übersetzungen erfahren durfte, hat er als eine Zusammenfassung heutiger Gotteslehre und gerade auch als eine neue Form von „Lehrbuch" einen großen Dienst erfüllt. Es ist deshalb lohnend, nach einem Vierteljahrhundert gemeinsam eine „relecture" zu versuchen: Wir tun dies mit Dank für das Geleistete und in Zuversicht für die Wirkung dieses Buches auch in der Zukunft.

Mein Beitrag ist überschrieben: „Gott - das bleibende Geheimnis". Ein gleichnamiger Aufsatz ist in der soeben veröffentlichten Festschrift für Walter Kardinal Kasper zum 75. Geburtstag erschienen. Ich möchte natürlich nicht den gedruckten Text einfach wiederholen, sondern dem Beitrag in der Festschrift gleichsam Prolegomena vorausschicken, die mehr aus historischer Perspektive die besondere Bedeutung der theologischen Arbeit Kardinal Kaspers und im besonderen seiner Gotteslehre hervorheben, und zwar hinsichtlich des Themas: Gott - das bleibende Geheimnis. Diese Perspektiven führen dann direkt zu meinem Beitrag in der Festschrift selbst.

I.

In Kardinal Kaspers Buch „Der Gott Jesu Christi" gibt es von Anfang bis zum Schluss eine Erörterung des Geheimnischarakters Gottes und der Offenbarung. Wie schon das Register ausweist, gibt es gleichsam einen roten Faden durch das ganze Buch. Dabei fällt auf, dass der Begriff des Geheimnisses in vielen Bereichen und Horizonten entfaltet wird. So ist von der menschlichen Erkenntnis die Rede und dem Hinweis, dass die Erfahrung der Endlichkeit von einem Überstieg über das Seiende zeugt. Die Bedingung der Möglichkeit endlicher Erkenntnis ist aber immer ein Vorgriff auf das Sein, in dem die Wirklichkeit Gottes schon mitbejaht ist. Damit ist die Geheimnishaftigkeit menschlicher Erkenntnis angesprochen. Alle Erfahrung kommt letztlich von einem umfassenden und bergenden Horizont her, der sich als das Geheimnis schlechthin herausstellt.

An diesem Punkt liegt bereits ein erster wichtiger Unterschied zur durchschnittlichen Behandlung des Themas „Geheimnis Gottes" in der Gotteslehre, sofern dies überhaupt geschieht. Es ist nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang gewöhnlich weniger vom Geheimnis im Singular, sondern von den Glaubensgeheimnissen im Plural die Rede ist. Unter dieser Voraussetzung sind dann diese Glaubensgeheimnisse auch weithin direkt identifiziert worden mit den dogmatischen Wahrheiten. Dies hat auch zur Konsequenz, dass durch diesen Ansatz weitgehend Satzwahrheiten gemeint sind, die wenig zurückverfolgt werden auf ihren Ursprung und ihren Zielsinn. Denn schon Thomas von Aquin macht uns immer wieder darauf aufmerksam, dass Aussagen nicht isoliert oder gar absolut gesetzt werden dürfen, weil sie auf die Sache zielen. Dagegen ist dieser Ursprung des Geheimnisses in der menschlichen Erkenntnis, im Glauben und besonders in Gott selbst eher in den Hintergrund getreten. In aller Deutlichkeit kann deshalb Walter Kasper formulieren: „Wir haben die Dimension des Glaubens, welche die Dimension des Geheimnisses ist, weithin verloren. So sind wir theologisch auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen, unsere Erfahrungsfähigkeit ist weithin auf das sinnlich Erfassbare, auf das Zähl- und Machbare reduziert. In unserer säkularisierten Gesellschaft muss sich deshalb die dogmatische Theologie mehr als früher um ihre eigenen Verstehensvoraussetzungen kümmern. Diese Reflexion auf die Verstehensvoraussetzungen des Glaubens nennt man natürliche Theologie."

Natürlich gehörte immer schon zu jeder Theologie das Wissen um den Geheimnischarakter des Glaubens. Man sieht dies in der Konstitution „Dei Filius" des Ersten Vatikanischen Konzils, besonders im vierten Kapitel „Glaube und Vernunft". Dort ist von den „in Gott verborgenen Geheimnissen" die Rede, die nicht bekannt werden könnten, wenn sie nicht von Gott geoffenbart werden. Dabei sind drei Bestimmungen wichtig, die H. J. Pottmeyer herausgearbeitet hat:

1. Die Glaubensgeheimnisse sind in Gott verborgen und werden mit der Unbegreiflichkeit Gottes in Verbindung gebracht. Dabei wird Bezug genommen auf die paulinische Theologie des Geheimnisses in 1 Kor 2.
2. Die Glaubensgeheimnisse kommen nie in den Bereich unseres Erkennens, wenn sie uns nicht von Gott geoffenbart werden. Sie sind absoluten göttlichen Ursprungs. Die Offenbarung bildet also die absolute Voraussetzung und das bleibende Fundament aller Erkenntnis des Glaubensgeheimnisses.
3. Diese Geheimnisse übersteigen die geschaffene Vernunft, insofern sie auch nach ihrer Vermittlung durch die Offenbarung und die Annahme im Glauben gleichsam von Dunkel umhüllt bleiben, solange wir im Stand der irdischen Pilger sind. Gott wird also den Menschen nur in seiner freien Selbsterschließung zugänglich. „Gott ist kein Sachverhalt, vielmehr tut sich in ihm das Geheimnis einer Person auf, das unendlich und unergründlich ist und vom menschlichen Denken her nicht hinterfragt und umgriffen werden kann. Gott bleibt auch in seiner Selbsterschließung Gott."

Damit fällt auch der Begriff der Glaubensgeheimnisse im strikten Sinne („vera et proprie dicta mysteria"), der vor allem den neuscholastischen Hauptinhalt des Geheimnis-Begriffes bildete. Die Theologie hat diese Mysterien dann auch in vielfältiger Weise gestuft. Die genannten Geheimnisse im strengen Sinn wurden auch als Geheimnisse erster Ordnung bezeichnet. Das Konzil hat nicht festgelegt, welche Geheimnisse dazu gehören. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass man vor allem die Dreifaltigkeit Gottes, die Menschwerdung Jesu Christi sowie die gnadenhafte Erhebung des Menschen und seine übernatürliche Beziehung zu Gott im Auge hatte.

Dieser Begriff der „proprie dicta mysteria fidei" zeichnete sich vor allem auch dadurch aus, dass er fast ausschließlich in erkenntnistheroretischer Hinsicht formuliert war und damit die heilsgeschichtliche Dimension des Geheimnisses weitgehend abblendete. Man hat darauf hingewiesen, dass in diesem Begriff der Geheimnisse eine tiefe Spannung liegt. Auf der einen Seite folgt er durchaus biblischem Verständnis, indem die absolute Freiheit und Unverfügbarkeit Gottes in seinem geschichtlichen Heilshandeln unterstrichen wird. Dies ist ein positives Element, das auch bis zu einem gewissen Grad die Zurücknahme des Begriffs ganz auf Gott nahe legt. Eine Konsequenz besteht allerdings darin, dass die heilsgeschichtliche Dimension des Handelns Gottes fast zwangsläufig in einer Art „Offenbarungspositivismus" erscheint. Die andere Begründung ist in Spannung dazu eher ausschließlich negativ, indem nämlich aus der Begrenztheit der kreatürlichen Vernunft eine daraus sich ergebende Unerkennbarkeit Gottes gefolgert wird. Dies hatte dann zur Konsequenz, dass das biblische Verständnis nicht mehr ausreichend zum Tragen kommen konnte, und dass dieser Begriff des Geheimnisses „immer mehr als die Bezeichnung für etwas verstanden wurde, was auf die ratio, den intellectus, seine ihm eigenen principia bezogen wurde und dann das ist, was sich dem Anspruch dieser ratio nach Durchschauung, nach umgreifender Beherrschung und Aneignung entzieht, für immer oder vorläufig. Dabei wird dieser Anspruch der ratio als deren eigentliches Wesen verstanden, Erkenntnis also im Grunde begriffen als die Unterwerfung des Erkannten unter die apriorischen Gesetze des Erkennens, die mit dessen Wesen identisch sind und von ihm in absoluter Identität und in ruhiger Selbstverständlichkeit als das eigene Wesen besessen werden. Das Geheimnis wird so als das Widersprüchliche zum eigenen eigentlichen Wesen des Menschen als ratio empfunden, gleichgültig, ob man sich mit dieser Grenze abfindet oder sie schließlich doch zu überwinden hofft." Man hat darauf hingewiesen, dass man sich durch die Bekämpfung des so genannten Semirationalismus in eine fast unauflösbare Spannung begibt: Man setzt fast denselben Vernunftbegriff voraus, der immer wieder zur Aufhebung des Geheimnisses geführt hat, „sei es in Gnosis, sei es in der Aufhebung des religiösen Geheimnisses der Offenbarung in ein ‚System' hinein, wie im Rationalismus, Semirationalismus und (anscheinend) im deutschen Idealismus, für den die Religion ‚positiver', autoritätsmäßig geglaubter Sätze nur die Vorstufe vor der absoluten ‚Vermittlung' aller Glaubenssätze durch die absolute Vernunft an und für sich selbst ist." Es ist fast selbstverständlich, dass sich in diesem Zusammenhang auch eine Differenz im Verständnis der Verborgenheit Gottes ergibt, indem nämlich die Schrift mehr auf die Verborgenheit der göttlichen „Wege" und Ratschlüsse, des göttlichen Handelns und der Heilsgeschichte und überhaupt in der Weltgeschichte, weniger auf das Wesen Gottes in sich selbst blickt. G. Söhngen schrieb 1965: „Es ist an der Zeit, auch in der katholischen Theologie und im katholischen Theologiebegriff gebührenden Raum zu schaffen der heilsgeschichtlichen Verborgenheit Gottes, ohne dass darüber die ontologische Ergründung des göttlichen Innenwesens verkürzt werde."

Diese Entwicklung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts relativ rasch erfolgt. Sie ist zunächst innerhalb der scholastischen Philosophie selbst geschehen. Dies braucht hier nicht im Einzelnen dargestellt zu werden. Als ein maßgebendes Stichwort muss die Neufassung der Analogie verstanden werden, die jetzt nicht mehr ein kleines, begrenztes Thema behandeln wird, sondern als Strukturprinzip katholischer Theologie entfaltet und verstanden wird. Es ist das große Verdienst vor allem des frühen Erich Przywara, diesen Durchbruch geleistet zu haben. Einen hervorragenden Einblick in diesen Wandel gibt G. Söhngen wiederum in seinem Artikel „Analogie" im Handbuch theologischer Grundbegriffe. Es sei nur nebenbei erwähnt, dass mit dieser Neuerschließung der Analogie als einer Grundstruktur in allen Seins- und Wissensregionen auch eine vertiefte Wiederentdeckung der „negativen Theologie" gehört, worauf später noch zurückzukommen sein wird.

Es sind aber wohl noch andere geistige Umbrüche gewesen, die ein neues Denken über das Geheimnis ermöglicht und befördert haben. Diese sind nicht primär theologischer Herkunft, wenngleich sie auch theologische Implikationen haben und manchmal auch religiösen Überlegungen entstammen. Dies setzt natürlich auch so etwas wie ein „neues Denken" voraus.

II.

Wie kann man dann auf neue Weise wieder einen ursprünglichen Zugang gewinnen zu dem, was Geheimnis wirklich heißt? Gerade wenn es um Gott geht braucht es offensichtlich die richtige Weise zu denken. Die neuere Zeit hat ungewöhnlich fruchtbare Denkweisen (wieder-) hervorgebracht. Aber wir haben manche andere Denkweise daneben und dahinter vielleicht vergessen. Wir sind Meister im analytischen Denken, wir können etwas auseinandernehmen, sezieren, zerlegen, zergliedern, entschleiern, „hinterfragen". Rechnen und Berechnen haben den Vorrang, stellen etwas als ein „Objekt" vor uns und können es dadurch ein Stückweit auch beherrschen; wir bemächtigen uns der Dinge dieser Welt. Wir erkennen sehr oft dadurch, dass wir auch zugleich erobern, und dass wir dabei natürlich auch alles durchschauen wollen: völlige Transparenz, lückenlose Diagnosen. Wir wollen hinter alles kommen.

Das mag für viele Wirklichkeiten unseres Lebens und für den Umgang mit der Realität berechtigt und notwendig sein. Aber dürfen wir mit aller Wirklichkeit so umgehen oder geraten wir in Gefahr, dass wir die Wirklichkeit auf einen Typ, auf einen Stil des Umgangs mit ihr beschränken? Werden wir dadurch nicht ärmer?

Das Denken im 20. Jahrhundert hat diese Fragen aufgegriffen. Schon früh und durch die ganzen Jahrzehnte hindurch. Zum einen geschah dies in der Phänomenologie: Hier wird versucht, in einer neuen Weise zu denken, die sehr nahe am Sehen liegt. Sehen, was ist, nicht einfach begreifen, nicht einfach das Netz der Begriffe darüber werfen, nicht einfach sezieren: Ganzheitlich, intuitiv sehen; das andere kommen lassen, nicht dauernd schon vorweg greifen; zu den Sachen selbst uns zuwenden, unsere Vorurteile einmal aufheben; all das einklammern, was wir schon längst zu wissen meinen. Und dann die Entdeckung der Endlichkeit des Menschen gegenüber einer idealistischen Erhöhung: Wir sind beschränkt, wir sind endlich. Wir durchschauen nicht alles, wir stecken selber immer schon in tiefen Bedingtheiten unseres Lebens. Nicht alles darf nach dem Muster eines Problems behandelt werden, nach dem Muster des Verifizierbaren. Es gibt Dinge, die uns anders angehen, nicht nur als Objekt und als Problem. Es waren Gabriel Marcel, Karl Jaspers und viele andere, die aufgezeigt haben, dass wir nicht alles als Problem angehen dürfen, was wir in den Griff bekommen, sondern dass es manches gibt, was uns einfach umfängt, was uns als Menschen zentral mitbestimmt, ohne dass wir es durchschauen und beherrschen können und sollen. Diese Autoren haben dafür das Wort „Geheimnis" benutzt, besonders Gabriel Marcel.

Sodann war es die Entdeckung des dialogischen, des personalen Denkens, das sich ganz anderer Kategorien bedient. Personales Kennen strebt nicht einfach nach Durchschauen. Wenn uns jemand einfach nur durchschauen will, werden wir skeptisch und misstrauisch. Personales Kennen will im Grunde anerkennen, möchte ja sagen, möchte nicht alles von mir aus vereinnahmen, freut sich an der Eigenart des Anderen, zieht nicht alles herab sozusagen auf die eigene Art und Weise des Strebens, des Denkens und Wollens. Personales Kennen will die in Liebe bejahte Eigenart des Anderen annehmen und sich daran freuen. Schließlich hat alles, was ist, seine besondere Art und Weise, sich zu geben, wenn man es nicht schon von außen einfach durch fremde Kategorien erdrückt.

So hat Gott seine eigene Sphäre. Man hat dies das Heilige genannt, das uns entzogen ist, und das wir nicht beherrschen können: das Unverfügbare, oder, wie viele Jahrzehnte unseres Jahrhunderts gesagt worden ist: das ganz Andere, der ganz Andere, den wir nicht einfach verrechnen können mit dem, was wir aus unserem Alltag kennen; der immer wieder für Überraschungen gut ist. Und gerade die Wiederentdeckung des patristischen und des ursprünglichen mittelalterlichen Denkens hat uns geholfen, besser zu sehen, wie Gott ganz anders ist, in welchem Sinne er ein Geheimnis ist. Das große Buch von Henri de Lubac „Auf den Wegen Gottes" hat gezeigt, wie reich die Überlieferung des Denkens, der Philosophie und der Theologie ist, um dieses ganz Andere, Unaussprechliche, Unbegreifliche, Geheimnishafte Gottes auf eigene Weise sagen zu können. In der Religionsphänomenologie, besonders aber im Denken von R. Otto, M. Heidegger und vor allem B. Weltes und seiner Schule wird mehr und mehr diese Kategorie des Heiligen entfaltet, gewiss immer mit der notwendigen Unterscheidung der Geister.

Daher ergibt sich ein ganz neuer Ansatz, Gott als Geheimnis zu denken, besonders, wenn noch der ganze Ertrag der biblischen Wissenschaften aus vielen Bemühungen eingebracht wird. Wir sehen, dass Gott auf seine Weise weltüberlegen ist - bei aller Zuwendung zur Schöpfung -, dass er eine eigene Souveränität hat gegenüber aller Geschichte, und dass diese Geschichtsmächtigkeit Gottes das Geheimnis einer Wahrheit ist, wie nämlich Gott in der Geschichte wirkt: sehr oft verborgen. Dadurch hat sich auch der Begriff Geheimnis wieder anwenden lassen auf Gott selbst. Die Theologie hat dies immer gemacht, die großen Konzilien, und nicht zuletzt das Vaticanum I haben es in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Aber man kann nicht übersehen, dass in der Theologie dieses Wort „Geheimnis" doch meist eher etwas negativ bestimmt wird: die Grenze unseres Verstehens, das bloß vorläufige Erkennen und Wissen gegenüber einem Letzten.

Es waren dann vor allem Denker, die Anstöße aus der Philosophie unseres Jahrhunderts aufgenommen haben, um das, was Geheimnis heißt - angereichert durch die große Überlieferung -, neu zu denken. Unvergesslich ist, was Erich Przywara dazu beigetragen hat, und was Karl Rahner in drei großen Vorlesungen, die in seinen Schriften zur Theologie im vierten Band und in einer Reihe von Lexikonartikeln abgedruckt sind, uns dazu hinterlassen hat. Plötzlich wird dieses Thema nicht einfach nur in ein paar Nebensätzen abgehandelt, so unbegreiflich ein Geheimnis ist, sondern es ist der rote Faden aller Theologie geworden, der Anfang und Ende durchwirkt und bestimmt. Der personale Mitteilungscharakter gerade auch von Offenbarung ist immer deutlicher geworden. Offenbarung und Geheimnis, das widerspricht sich nicht, das gehört ganz eng zusammen. Nur wenn Gott ein Geheimnis ist und bleibt, dann gibt es auch wirklich Offenbarung, etwas Neues in ihr, etwas Unableitbares, etwas Befreiendes, etwas, was wir nicht einfach schon kennen, etwas Überraschendes. Zum Geheimnis gehören Offenbarung und Verborgenheit.

Darum kam man dann bald viel weiter hinaus über eine nur negative Kennzeichnung von Geheimnis als Grenze. Ja, Geheimnis kam ganz nahe - man sieht es besonders bei Karl Rahner und bei Henri de Lubac - an das Verständnis dessen, was kreatürlicher Geist ist. Geist, vor allem kreatürlicher Geist, ist ganz nahe an dem, was Gott heißt, und zwar durch einen ursprünglichen Sinn für das Geheimnis. So ist das Geheimnis nicht das bloß Vorläufige, das einstweilige Rätsel, sondern das Ursprüngliche, das Erste, nicht bloß bedauerliche Grenze, sondern göttliche Überfülle. Der Mensch begreift in seiner tiefsten Erkenntniskraft - gerade dann, wenn er am meisten zu denken wagt, bis an die Grenze geht -, dass Gott unbegreiflich ist. Geheimnis ist also das, bei dem die Erkenntnis ankommt, wenn sie zur Vollendung gelangt.

Aber sie ist nicht einfach nur Erkenntnis, schon gar nicht im Sinne des analytischen Denkens allein; wenn personale Erkenntnis immer auch Anerkennung ist, ja sagt, freie Anerkennung, Sympathie und Konnaturalität bedeutet, dann wird diese Erkenntnis vollendet, indem sie zur Liebe wird. Anbetung ist letzten Endes nichts anderes als diese Einheit der Erkenntnis und der Liebe vor einem unaussprechlichen Geheimnis. Erkenntnis muss Liebe werden, oder sie scheitert an ihrem eigenen Wesen. Unzufrieden bemächtigt sie sich dann dessen, was nicht zu bezwingen ist. Geheimnis dagegen ist also eine Positivität ganz eigener Art, ist das Verhältnis zwischen kreatürlichem Geist und Gott und wirklich die Vollendung des Menschen.

Die klassische negative Theologie hat dies schon deutlich gewusst und immer wieder von der Unaussprechlichkeit Gottes gehandelt, von dem Schweigen, das man lernen muss, um ihn zu verstehen. Angelus Silesius sagte es einmal in einem wichtigen Sinnspruch: „Je mehr du Gott erkennst, je mehr wirst du bekennen, dass du je weniger Ihn, was Er ist, kannst nennen". Aber dennoch ist auch die Warnung wichtig, nicht zu früh Zuflucht zu nehmen zu einer theologia negativa, diese nicht gleichzusetzen mit Trägheit des Geistes. Geheimnis hat nichts mit Denkfaulheit zu tun. Gott ist nicht in dem Sinn unaussprechlich, dass er nicht verstehbar wäre, dass er uns nicht eine Überfülle von Licht, von Orientierung schenken würde. Er ist unaussprechlich, weil er stets über allem steht, was über ihn ausgesagt werden kann. Er ist wirklich der immer größere Gott. Darum müssen alle unsere Begriffe, erst recht alle unsere Vorstellungen, erst recht alle unsere Vorurteile zerbrochen werden, da sie einen Käfig bilden, in dem wir Gott oft fangen und beherrschen möchten. Gottes Bilder müssen immer wieder zerbrochen werden, sonst kommen wir nicht zum wirklichen, zum göttlichen Gott. Darum ist auch Negativität, wenn wir sagen, was Gott nicht ist, nicht einfach Verneinung, sondern es hält sich durch, dass wir eigentlich bejahen. Der menschliche Geist erschöpft sich nicht darin, dass er Revolte ist, Opposition oder Ablehnung, sondern er ist durch alle Negation hindurch, bei der er gleichsam Schale nach Schale ablegt, Zustimmung. So gibt es in der Logik der negativen Theologie so etwas wie einen ständigen Wechsel zwischen der Rede über das, was Gott nicht ist, wie wir ihn uns nicht vorstellen dürfen, und den Aussagen darüber, dass wir doch etwas mehr verstehen von dem, wie er ist, dass wir es nicht einfach nur dabei belassen, dass die Worte uns unzureichend erscheinen, sondern dass es Worte sind, die ihn auch durchaus benennen. Und doch sagt gerade eine Theologie und eine Philosophie, die unablässig nach ihm sucht, dass wir dies nicht überschätzen dürfen. Ich erwähne nur Thomas von Aquin, der einmal sagte: „Der ‚Unnennbare' ist der schönste aller seiner Namen, denn er setzt ihn von vornherein über alles, was man versuchen könnte, über ihn auszusagen".

Es gibt viele Beispiele für diese Ambivalenz der Rede über Gott, auch schon in der Heiligen Schrift, Themen, die uns heute wieder beschäftigen. Dürfen wir z.B. zu Gott einfach Vater sagen? Denken wir diesen Vater nicht oft nach dem Muster menschlicher Vatererfahrungen, wo es auch Despoten, schlimme Patriarchen, Willkür gibt? So darf Gott als Vater nicht gedacht werden. Vater heißt aber auch, dass wir im Ursprung von ihm herkommen, dass wir immer wieder seine Güte und seinen Schutz erfahren, dass wir uns ihm verdanken. Aber Vater dürfen wir - das sagt uns schon die Heilige Schrift - nicht einfach denken in der Weise menschlicher Geschlechter, sondern - genauer gesehen - hat dieser Gott-Vater auch in der Heiligen Schrift schon Züge des Mütterlichen in sich aufgenommen. Der Weltkatechismus der katholischen Kirche sagt in einem eigenen kleinen Absatz über Gott als Vater, dass Gott auch mütterliche, frauliche Züge hat, dass weder das Mannsein noch das Frausein einfach ausreichen, um zu sagen, wer Gott ist und wie er ist; sondern dass wir immer wieder an diesen Krücken menschlicher Worte entlang gehen müssen, um uns mit ihnen aufzuschwingen, um einzelne oft blitzartige Einblicke zu haben in das, was Gott ist, noch mehr, wer er ist. Damit wird auch jedes falsche „System" zunichte, das meint, irgendeine Geschlossenheit erreichen zu können; jedes theologische System, das meint, es käme zu irgendeiner Perfektion.

III.

Wir sind schon ein Stück vorausgeeilt und müssen nun wieder etwas zurückkehren. Es ist evident geworden, wie sehr gerade das neuzeitliche Denken in hohem Maß im Verständnis der Erkenntnis, vor allem aber im Hinblick auf Gott es überhaupt vermieden hat, von „Geheimnis" zu reden. Deswegen hat sich auch ein Teil progressiver evangelischer Theologie regelrecht dagegen gestellt, in diesem Zusammenhang von Geheimnis überhaupt zu sprechen. So sehr war mindestens bei Kant und im deutschen Idealismus der Begriff der Vernunft auf die Funktion nur der Selbstentdeckung und der Selbstsicherheit abgestellt, dass das Wort Geheimnis keinen legitimen Platz beanspruchen konnte. Kant selbst entdeckte gewiss die Tiefen und Untiefen des menschlichen Seins und Erkennens. „Sobald die Unsicherheit am Rande des Abgrundes erfahren wird ..., muss die Vernunft ihr zur eigenen Sicherheit den Rücken kehren. Mit dem Mysterium ist es zwar nicht nichts schlechthin, aber es ist nichts für die Vernunft, die Selbstsicherheit will. Und der Grundsatz der Selbstsicherung der Vernunft ist in Wahrheit der oberste, wenn auch unausgesprochene Grundsatz der kantischen Vernunft." Darum war allein im philosophischen Bereich auch eine tiefe Wende notwendig, wie wir sie skizzenhaft dargestellt haben, um überhaupt zu einem neuen Denken über das Geheimnis zu kommen. So kann A. Halder seinen Aufsatz mit dem Ergebnis schließen: „Die Konsequenzen sind, dass es mit dem Geheimnis prinzipiell nichts ist. Soll es aber mit ihm etwas sein, so ist ein anderer Ansatz zu nehmen. Das Philosophieren der Gegenwart versucht dies in vielfältiger Weise. Man mag hier an das Philosophieren denken, das von der Existenz, von der Freiheit, der Liebe und Treue, dem geschichtlichen Sein, der Personalität, der Sprache, der Kommunikation und dem Dialog usw. ausgeht. In jedem Fall wird sich hier in neuer Weise bestimmen und klären müssen, als was sich jetzt das menschliche Begreifen selbst zu verstehen hat, wenn es nämlich das Geheimnis belassen, bewahren, d.h.: es gerade nicht als das Unbegreifliche oder Unbegriffene nur sich selbst entgegensetzen will." Hier sei auch noch hingewiesen auf das Denken über das Geheimnis bei M. Heidegger, J. Patočka und E. Levinas.

Dieses neue Denken hat sich auch im Bereich der Theologie - freilich recht unterschiedlich - durchgesetzt. Dies gilt schon längere Zeit für die Religionsphilosophie von B. Welte, aber in der evangelischen Theologie z.B. für G. Ebeling und E. Jüngel. Es ist nicht zu übersehen, dass die Philosophie im theologischen Raum diese Schritte auf eine tiefere Bestimmung des Geheimnisses in vielfacher Hinsicht unterstützt hat. Ich denke z.B. an die wichtigen Untersuchungen von E. Coreth, R. Schaeffler und manche Untersuchungen aus jüngerer Zeit.

Es ist nicht notwendig, diese Tendenzen genauer zu verfolgen, denn Walter Kasper hat in „Der Gott Jesu Christi" diese Einsichten ja bereits in sein Gesamtkonzept integriert. Wir wollen auch nicht näher verfolgen, wie er diese Einsichten nun auch anwendet z.B. auf „Die Trinität als Geheimnis des Glaubens". Er zeigt, dass das dreieine Geheimnis sich in drei Geheimnissen entfalten lässt, wie schon erwähnt: das dreifaltige Wesen Gottes, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, das Heil des Menschen im Heiligen Geist, das sich endzeitlich in der Begegnung des Menschen mit Gott von Angesicht zu Angesicht vollendet. „In diesen drei Mysterien geht es in je unterschiedlicher Weise um das eine Mysterium, der sich selbstmitteilenden Liebe Gottes: in sich selbst - in Jesus Christus - an alle Erlösten. Das Mysterium des dreifaltigen Gottes in Gott selbst ist dabei sowohl die Voraussetzung, der innere Grund, wie der tiefste Gehalt des Geheimnisses der Menschwerdung und der Begnadung. Die Trinität ist das Geheimnis in allen Geheimnissen, das Geheimnis des christlichen Glaubens schlechthin."

Ich will in diesem Zusammenhang nicht aufzeigen, wie weit es im Vorfeld von „Der Gott Jesu Christi" bereits Ansätze in dieser Richtung gibt. Man müsste dabei auf M. J. Scheebens Frühwerk „Die Mysterien des Christentums", die verschiedenen Auflagen der Gotteslehre von M. Schmaus und besonders auch die Gotteslehre im ersten Band von „Mysterium Salutis" zurückkommen. Aber dies würde nicht so weit führen, denn W. Kasper hat in „Der Gott Jesu Christi" die eingangs schon skizzierte konstitutive Bedeutung des „Geheimnisses" ungleich tiefer und grundlegender zusammengefasst und fortgeführt. Dabei finden sich auch in zahlreichen theologischen Entwürfen anderer Länder parallele Ausführungen, auf die jetzt nicht weiter einzugehen ist. Wir sehen auch ab von gewichtigen Vorarbeiten und Begleitstudien Walter Kaspers selbst. Wichtiger wäre ein Gang zu den Quellen und Voraussetzungen für Kaspers Denken, zu denen auch seine intensive Beschäftigung mit der Spätphilosophie von F. W. J. Schelling gehört. Walter Kasper selbst weist in seinem „Vorwort zur Neuausgabe" immer wieder auf diese Herkunft hin. Es ist schließlich ein wichtiger neuer Zugang zur Gottesfrage überhaupt, nicht nur vom Bewusstsein, sondern von der menschlichen Freiheit auszugehen.

IV.

Walter Kaspers Gotteslehre hat im besten Sinne des Wortes Schule gemacht. Er hat das große Verdienst, dass er diese vielen „membra disiecta" in einer hervorragenden Synthese nicht nur zusammengefasst, sondern zueinander gebracht, koordiniert und vor allem systematisch entfaltet hat. Dies setzt eine außerordentliche denkerische Anstrengung voraus. Der Gedanke des Geheimnisses durchzieht wirklich wie ein roter Faden das ganze Werk. Dabei ist ihm auch eine sehr gute sprachliche Vermittlung gelungen, die vieles verständlicher gemacht hat, als es in den zwischenzeitlichen Ausarbeitungen gelungen war. Das Buch zeugt also nicht nur von dem immensen Bemühen, die neuen Erkenntnisse zu sammeln, sondern es ist dem Verfasser auch hervorragend gelungen, diesen Zentralbegriff in neuer Weise systematisch zu entfalten.

Es ist zudem ein besonderes Verdienst von Kardinal Kasper, dass er diese Synthese in Form eines erneuerten klassischen Traktats der Gotteslehre veröffentlicht hat. Dieser unterscheidet sich gewiss von den herkömmlichen Manualien. Das Werk hat zweifellos auch die Züge eines sehr gründlich informierenden Sachbuches. Es scheut sich aber nicht, den Charakter eines Handbuches anzunehmen. Dieses ist auch für die Studierenden durch die Klarheit der Diktion und die Verständlichkeit der Sprache ausgezeichnet gelungen. Das Werk eignet sich dadurch als „Lehrbuch", weil es den Stoff hervorragend gliedert, eine kluge Literaturauswahl vornimmt und durch kursiv gedruckte Merksätze dem lebendigen Gedächtnis eine Stütze verleiht.

Es scheint mir, dass es für die Theologie unserer Zeit ein besonderer Dienst war, angesichts der Orientierungsschwierigkeiten in der nachkonziliaren Zeit, und zwar auch in der Gottesfrage, und dem zweifellosen Gewinn vieler Einsichten, die aber noch keine geglückte und überzeugende Synthese gefunden hatten, eine solche Zusammenschau zu bieten. Darum erklärt sich auch die große Nachfrage und das ausgezeichnete Echo, welches das Buch nicht nur im deutschsprachigen Bereich gefunden hat. In bescheidener und überzeugender Weise wird der Leser schon im Vorwort von 1982 mit einem Augustinuszitat zum Mitdenken eingeladen: „Möge daher jeder, der dies liest, wo er meine sichere Überzeugung teilt, mit mir weiterschreiten, wo er mit mir schwankt, mit mir suchen, wo er einen Irrtum seinerseits erkennt, zu mir zurückkehren, wo einen meinerseits, mich zurückrufen. So wollen wir gemeinsam auf dem Weg der Liebe einhergehen, uns nach dem ausstreckend, von dem es heißt: ‚Suchet sein Antlitz immer' (Ps 104,4)."

So haben wir anlässlich des Erscheinens dieser Neuausgabe im Rahmen der Gesammelten Schriften und des 75. Geburtstags von Walter Kardinal Kasper Grund genug, ihm auch heute noch von Herzen für dieses wegweisende Werk zu danken. Es ist gerade wichtig, um auch in unserer Zeit Tradition und Innovation - konkret hier auch das Erste und das Zweite Vatikanische Konzil - zu verbinden und zu vermitteln. Ich bin überzeugt, dass dieses Buch uns auch in der heute neu fälligen Auseinandersetzung mit dem Atheismus beste Dienste tun wird. Schließlich aber tut das Buch auch heute und künftig einen guten Dienst, wenn es uns bei einem spirituellen und pastoralen Neubuchstabieren dessen hilft, was wir mit dem Wort „Gott" bezeichnen, und uns zu dem hinführt, was wir heute gerne Mystagogie nennen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Verweisen enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz