Wir dokumentieren die Predigt von Kardinal Lehmann am Hochfest Weihnachten, 25. Dezember 2015, im Hohen Dom zu Mainz. Es gilt das gesprochene Wort.
Texte: Jes 52,7-10; Hebr 1,1-6; Joh 1,1-18
Hebr 1,1-4: Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt; er ist um so viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt.
Schon als Kind und vor allem als Ministrant kam mir der Weg der drei für Weihnachten vorgesehenen heiligen Messen wichtig vor. Es war schön, im Dunkeln der Nacht das Kommen Jesu als das Licht der Welt zu feiern. Das war wirklich Offenbarung in einem tiefen Sinne. Am frühen Morgen des Weihnachtsfeiertages feiert man die sog. Hirtenmesse. Es gehen uns mit dem Licht des Morgens gleichsam die Augen darüber auf, was sich da in der Nacht ereignet hat. Dazu gehören vor allem einfache Menschen, die das Geschehen unbefangen zur Kenntnis nehmen und sich freuen über die Ankunft des Kindes, das der Welt den Frieden bringen soll. Aber doch hat diese Messe am Morgen noch etwas vom Erwachen. Deswegen ist die dritte Messe dann die volle Offenbarung. Jetzt werden wie bei einer Premiere zum ersten Mal die Vorhänge ganz aufgezogen. Jetzt ist es hell genug, um nicht nur zu ahnen, was hier Seltsames geschehen ist, sondern auch für alle Welt die Dimensionen und die Folgen dieses Geschehens zu ermessen. Dafür muss man schon etwas nachdenken, um nicht nur das bleibend Wundersame zu erkennen, sondern die Linien dieses trauten Geheimnisses in ihrer Bedeutsamkeit für die ganze Welt auszuziehen. Kein Wunder, dass diese Texte uns zunächst schwieriger erscheinen. Aber wenn wir uns Mühe geben, dann entdecken wir die wirkliche Tiefe des Weihnachtsgeheimnisses nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt.
So ist es auch schon mit dem Beginn des Hebräerbriefes, der neutestamentlichen Lesung am heutigen Tag. Ohne Vorspruch und Begrüßung fängt es gleich wie eine kräftige Ouvertüre an: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen ..." Gott und das Verständnis von ihm stehen am Anfang. Darum geht es. Es ist ein bestimmter Gott - im Griechischen mit Artikel -, nicht eine allgemeine Vorstellung von einem Gott oder gar von etwas Numinosem, Göttlichem. In diesen wenigen Sätzen am Anfang des Hebräerbriefes wird uns ein tiefer Einblick in die Religions- und Heilsgeschichte geboten. Sie ist bei aller Weite dennoch ganz vom biblischen Erfahren Gottes geprägt.
Für die Religion ist es ganz und gar nicht ausgemacht, dass Gott „spricht", zum Menschen und zur Welt hin. Ist nicht Gott gerade dadurch bestimmt, dass er jenseits unserer Händel, aber auch menschlicher Handlungen liegt, zu der auch das Sprechen gehört. Denken wir nur an Streit und Fluch durch Worte. Also muss etwas anderes gemeint sein, wenn gesagt wird, dass Gott gesprochen hat. Es ist ein Gott, der sich der Welt und dem Menschen zuwendet; Immanuel, „Gott-mit-uns" ist einer seiner Namen. Schon auf der ersten Seite der Bibel wird dieses Sprechen Gottes ganz wichtig. Aber es ist nicht nur ein Reden über etwas, sondern wenn Gott spricht, dann schafft er auch. Durch sein Wort entstehen alle Dinge. Darum ist für die biblische Religion, ja auch noch für den Islam - wir sprechen ja von einer gewissen Gemeinsamkeit der sog. Abrahamitischen Religionen, die sich in Judentum, Christentum und Islam auf den gemeinsamen Stammvater Abraham berufen - die ganz enge Zusammengehörigkeit von Gott und Sprache bzw. Wort fundamental.
Diese Art des Sprechens im Alten Bund wird nun sehr genau näher bestimmt. Gott hat viele Male und auf vielerlei Weise einst zu den Vätern gesprochen ... Man wird regelrecht an die vielgestaltige Religionsgeschichte erinnert: Viele Male und vielerlei Weise. Der ganze Reichtum dieser Art zeigt sich ja auch im Alten Testament. Es ist eine lange Geschichte über Jahrtausende, und es gibt ungeheuer viele Weisen, wie Gott redet und spricht, noch mehr als die Menschen: eine Erzählung, ein Lied, die Klage, ein Befehl, ein Traum. Wir liegen wohl nicht ganz falsch, wenn wir hinter diesen Worten auch das verschiedene Sprechen Gottes in den Religionen außerhalb der Bibel mithören, wie es besonders auch das Zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung „Nostra aetate" formuliert hat.
Dennoch spüren wir auch eine Einschränkung in diesen Worten. Gott hat „einst" zu den Vätern gesprochen. Nicht nur die Vergangenheitsform wird benutzt, sondern auch ausdrücklich gesagt: „einst". Es war einmal. Dies ist gewiss auch ein Zeichen der Unvollkommenheit. Aber es ist durchaus ein auch heute noch wichtiges Geschehen. Wir trauen der Wahrheit dieses Wortes, das zu den „Vätern" und „durch die Propheten" zu uns kam. Auch wir blicken ja zurück auf das Kommen Jesu, das sogar unsere ganze Zeitzählung bestimmt. Mit aller Deutlichkeit geht der Text auf einen eigenen und neuen Höhepunkt zu, wenn er sagt: „In dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn." „In dieser Endzeit" - dies heißt, dass wir in der letzten Zeit der Welt und der Geschichte leben. Nach uns kommt keine grundlegend andere und noch neuere Zeit, die etwas noch Aufregenderes, ja gewissermaßen Moderneres bringen könnte. Es ist Gottes letztes Wort. Aber dies ist nicht wie in unserer menschlichen Sprache und bei unserem menschlichen Reden eine Drohung im Sinne des Ausspruchs „Dies ist mein letztes Wort".
Aber es ist klar, dass es in diesem Sinn das letzte Wort ist, das man nicht mehr überbieten, verbessern oder vertiefen kann. In äußeren Dingen kann man dies natürlich immer. Man kann z.B. auch Gottes Wort besser übersetzen und noch angemessener verstehen. Die Bibelwissenschaften haben hier wirklich zu geradezu wunderbaren Einsichten geführt. Aber es kommt nichts Neues, gewissermaßen Grundstürzendes in die Welt. Der Text drückt es auf seine Weise aus, wenn er sagt, dass Gott „zu uns gesprochen hat durch den Sohn". In den Kulturen und Lebenswelten der Menschen gibt es wohl keine größere Nähe als das Verhältnis der Eltern zu den Kindern, besonders in der Alten Welt, aber auch bis heute überall zwischen Vater und Sohn. Wie dieser „Sohn" verstanden werden soll, wird nämlich erläutert: „den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat". Er hat ihn also sich selbst gleichgestellt, ihm die höchste Stellvertretung übergeben. Der Hebräerbrief formuliert sehr gut und in einem hohen Denken: „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens." Nicht zufällig hat sich die Kirche in den späteren Streitigkeiten um die Natur Jesu Christi auf diese Verse berufen, um die sog. Wesensgleichheit zu begründen, wie wir es heute noch im gemeinsamen Credo aller Christen bekennen: „Gott von Gott, wahrer Gott vom wahren Gott".
Er hat das All durch sein machtvolles Wort geschaffen und trägt es auch heute noch. Aber sein Wirken geht noch weiter: Er hat „die Reinigung von den Sünden bewirkt", er hat uns befreit von der Last der Schuld und uns neues Leben geschenkt. Aber wie geschieht dies? Blicken wir nur auf sein Kommen. Er kommt nicht mit äußerer Gewalt und Machtentfaltung. Er kommt, indem Gott selbst nicht nur spricht, sondern der Sohn wird das Wort, er wird einer von uns, nimmt Fleisch an und wohnt bei uns. Aber er streift sich nicht nur zum Schein einen menschlichen Mantel über, sondern er kennt auch von innen her menschliche Not, tiefste Ungerechtigkeit, Gottverlassenheit und den jämmerlichsten Tod seiner Zeit. Ja, noch mehr, dieser „Erlöser" und „Befreier" kommt nicht nur wie ein Kind, er kommt als Kind in unsere Welt.
Die Geschichte mit dem Sprechen Gottes lässt uns so tief in Gott hineinsehen wie nichts anderes. Ja, wir brauchen gar nicht in ihn und sein abgründiges Wesen hineinzusehen, sondern er kommt von sich aus zu uns und „entäußert" sich selbst. Und er kommt nicht zu uns mit einer erdrückenden Übermacht, sondern er kommt wirklich zu uns, indem er unser Los und Schicksal teilt. Ja, noch mehr: Er kommt zu uns dadurch, dass er auf Macht verzichtet, jedenfalls die Macht äußerer Gewalt, dass er schont und selbst das Verlorene liebt. Jetzt verstehen wir auch, dass man dies alles mit einem anderen Wort bezeichnen kann, das bei dem vielfältigen Sprechen Gottes eine zentrale Bedeutung hat: Gott ist barmherzig. So verstehen wir auch, dass Papst Franziskus eigens ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat, um uns in die Tiefe des Geheimnisses unseres Glaubens zu führen. Die erste Station auf dem Weg zur Barmherzigkeit beginnt mit dem Herablassen, dem Abstieg Gottes in unsere Welt. Aber es ist nicht ein stolzes, „gnädiges" Sich-Herablassen von oben herab, sondern er wird Mensch, wirklich einer von uns.
Es klingt wie ein Märchen. Deswegen hat Weihnachten in aller Welt auch eine so große Anziehungskraft. Auch Ungläubige staunen, ob die Weihnachtsgeschichte für sie wahr ist oder nicht. Aber Weihnachten ist nicht nur ein künstlerisches Spiel. Und es will uns auch wirklich zum Guten verändern. Ja, das Licht in der Nacht leuchtet in alle Winkel unserer Welt hinein, auch nach Syrien und alle Orte des Grauens in unserer Welt; es leuchtet auch auf den Flüchtlingsströmen - 60 Millionen Menschen sind nach der UNO unterwegs. Die Welt braucht dringend das Sprechen Gottes, das Licht für die Welt, die Hoffnung mitten in der Hoffnungslosigkeit. Wenn wir umkehren wollen, kann das gerade an Weihnachten sein. Amen.
(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz