Grußwort zur Eröffnungsveranstaltung der Woche für das Leben am 25. April 2009 im Erbacher Hof in Mainz

„Gemeinsam mit Grenzen leben"

Datum:
Samstag, 25. April 2009

„Gemeinsam mit Grenzen leben"

Das Leitthema der Woche für das Leben 2008 bis 2010 lautet: Gesund oder krank - von Gott geliebt. Für dieses Jahr ist innerhalb des dreijährigen gemeinsamen Zyklus der Hauptakzent gesetzt auf das Wort: Gemeinsam mit Grenzen leben. Wir haben das in diesen Tagen besonders anschaulich gemacht und konkret vor Augen geführt in der Beschäftigung mit dem Krankheitsbild von psychisch besonders belastenden Menschen, ganz besonders, wenn sie an Psychosen leiden. Hier werden die Grenzen handgreiflich evident. Besonders das Phänomen, dass wir uns vor solchen Menschen scheuen, ja, wie unsere Sprache sagt, sie „ausgrenzen", ist ein schlimmes Zeichen.

Aber vielleicht können wir uns auch dem Thema besser nähern, wenn wir von dem grundsätzlichen Aufruf herkommen: Gemeinsam mit Grenzen leben. Mit Grenzen haben wir es überhaupt schwer. Dies versteht sich ein wenig vom Menschen her. Wir streben immer wieder über alles bisher Erreichte hinaus. Der Mensch ist ein Wesen, das sich immer wieder überschreitet. Wir sind ja auch mit Recht stolz, dass wir auf vielfache Weise Grenzen verlassen können und Neuland entdecken. Sonst würden wir kaum Neues finden, das uns wirklich voranbringt, befreit und nicht selten auch heilt. Wir sind nicht gerne an Grenzen gebunden, ja geradezu an sie gefesselt.

Deswegen revoltieren wir gerne gegen Grenzen, die uns auferlegt sind. Wir wollen alle Fesseln abschütteln, möchten immer höher hinaus, legen uns mit Grenzen vor allem an, wenn sie uns von außen auferlegt werden und unsere Freiheit einschränken. Dies ist ja auch so etwas wie eine tiefe Versuchung des Menschen. Er will eigentlich keine Grenzen anerkennen. Er möchte ‚sein wie Gott'. So ein kleiner oder großer Allmachtswahn steckt im Keim in uns allen. Und die vielen Erfolge unserer Zeit, nicht zuletzt auch durch die imponierenden Leistungen der Technik und der Wissenschaften, schaffen eine entsprechende Mentalität. Ist der Mensch überhaupt eine Fehlkonstruktion?

Da empfinden wir uns immer wieder zurückgeworfen auf unsere Endlichkeit und Begrenztheit, auf die Unvollkommenheit und die Schwächen des Menschen. Dies gilt ganz besonders dann, wenn die Grenzen zu Gebrechen werden, also keinen Fortschritt, keine grundlegende Besserung und keine Heilung versprechen. Da zerschellt der Mensch oft, wenn er an allen Stäben rüttelt, an seinen Grenzen. Und oft lassen wir besonders belastete Menschen mit solchen Grenzen allein, grenzen sie aus, wie dies schon in der Bibel des Alten und Neuen Testaments erkennbar wird, bei den Menschen mit Grenzen und ihrem Verhältnis zu den so genannten „Normalen": den Behinderten, den Aussätzigen und den Krüppeln jeglicher Art. Wenn wir sie isolieren, zementieren wir diese Grenzen in ganz schlimmer Weise. Wir machen einen Bogen um sie. Wir liefern sie für immer ab in Heimen. Wir schließen die Augen zu, wenn wir ihnen begegnen. Wir bezahlen ihnen alle möglichen Leistungen, damit sie endlich zufrieden sind und uns in Ruhe lassen. Wir tun gewiss vieles für alle Ausgegrenzten, aber sie rühren uns selten im Kern wirklich an.

Dabei verkennen wir uns eigentlich selbst. Nicht nur in dem Sinne, dass wir selber immer wieder früher oder später, leichter oder schwerer, vorläufig oder endgültig an Grenzen stoßen und uns ein ähnliches Schicksal erreichen kann. Es geht darum, dass wir uns als begrenzte Menschen annehmen. Wir sind keine Götter. Wir sind auch keine Engel. Wir sind Menschen-Geschöpfe, die endlich sind und damit auch Grenzen haben, aber wir sind positive, gute Wesen. Religiös und theologisch sprechen wir von Kreatürlichkeit. Auch wenn wir Grenzen haben, so darf uns dies nicht mürrisch und aufsässig, verdrossen und missmutig machen. Wir sind auch als begrenzte Menschen in Gottes Augen und Absicht gut geschaffen. Dazu gehört freilich auch, dass wir uns mit dieser Endlichkeit bescheiden. Wo wir erlaubter- und sinnvollerweise über etwas Erreichtes hinausstreben und vor allem etwas verbessern können, stehen uns viele Wege offen. Wenn wir aber unsere Schranken erfahren und uns als die Bedingten annehmen müssen, dann brauchen wir auch Mut und Gelassenheit. Dies sind Fremdwörter geworden, die wir fast nur noch im Kabarett gebrauchen. Ja, sagen wir es offen: zu der Begrenztheit und Endlichkeit unseres Lebens gehören auch die Fehlbarkeit an Leib und Seele, schließlich auch das Alt- und das Schwachwerden, ja das Sterben und der Tod. Wenn wir alle Grenzen sprengen und vermeiden wollen, kommen wir in die Versuchung, unsere Sterblichkeit zu leugnen.

Gerade deshalb gilt das Wort: Gemeinsam mit Grenzen leben. Wenn wir von Natur aus Grenzen haben, dann können wir sie besser tragen und ertragen, wenn wir einander mit diesen Grenzen annehmen. Die „Annahme seiner selbst" (R. Guardini) ist ja eine wichtige Voraussetzung für ein wirklich gelingendes menschliches Leben. Dann kommen wir viel besser mit uns zurecht, als wenn wir uns träumen. Dann können wir aber auch, wenn wir unsere eigenen Grenzen erkennen, andere mit ihren Grenzen besser annehmen. Ja, im Falle von Behinderten, Kranken, gerade auch seelisch Kranken nehmen wir besseren Anteil, wenn wir unsere eigenen Grenzen erkennen und eingestehen. Dann haben wir, wenn uns manche Grenzen erspart bleiben, oft besonders Grund zur Dankbarkeit und damit auch zur Solidarität, ja zur Hilfe.

Ich glaube, dass wir in den letzten Jahrzehnten nicht überall, aber auf manchen Gebieten besser gelernt haben, was es heißt, gemeinsam mit Grenzen zu leben. So bin ich der Überzeugung, dass wir im Umgang mit behinderten Menschen solche positiven Erfahrungen machen können. Je mehr wir sie in unsere Nähe kommen lassen, sie kennen lernen, und eben annehmen, um so mehr zeigen sie ihre Verwandtschaft mit uns, ihre Liebenswürdigkeit, ihre Vorteile und Vorzüge, ja manchmal auch ihre Überlegenheit, mit der sie z.B. Grenzen „wegstecken", wie wir gerne sagen. Wenn wir sie so als „Normale" akzeptieren, dann können sie viel mehr mit uns, eben gemeinsam zeigen, was in ihnen steckt. Deswegen ist die Integration so wichtig, und zwar auf allen Ebenen, im Kindergarten, in der Schule und eben auch in unseren Wohn- und Lebenswelten.

Grenzen haben immer einen zweideutigen Charakter. Sie verlocken uns ja auch, bis an die Grenze zu gehen, wie wir sagen. Gleichsam zu zündeln und auszuprobieren, wie es an der Grenze und darüber hinaus ist. Die Grenze können wir nach innen und nach außen, nach unten und nach oben sehen. Von Grenze können wir nur reden, weil wir auch über sie hinausgehen, sie verlassen und überschreiten können. Dies kann zu Unheil führen, lässt uns aber auch ahnen, wie es jenseits der Grenze ist.

Dies gilt besonders für alles, was wir in Glaube, Hoffnung und Liebe tun. Dann können wir Berge versetzen, Unglaubliches vollbringen. Denken wir nur an die Macht der Liebe, die Paulus in seinem Hohen Lied der Liebe besingt
(1 Kor 13). Dann können wir auch andere in wunderbarer Weise über Grenzen hinaus mitnehmen. Und dies kann auf vielfache Weise geschehen: indem wir sie nicht ausgrenzen, sondern sie annehmen; indem wir in ihnen wirklich unsere ebenbürtigen Geschwister entdecken, nicht nur ihre Defekte; indem wir ihre Besonderheit, vor allem auch ihre Liebenswürdigkeit wahrnehmen, nicht nur die Unvollkommenheiten beklagen. Und wenn wir dies gemeinsam tun, dann geht es leichter. Dann tut es am Ende auch uns selber gut. Dabei muss man nicht immer viele Worte machen. Manchmal ist es wichtig, einfach z.B. bei einem Kranken zu bleiben, einem Mühsamen und Beladenen die Hand auf die Schultern zu legen, ihm sein begrenztes Leben liebenswert und lebenswert machen zu helfen.

Dies sollten wir in dieser Woche für das Leben 2009 wieder lernen. Der Glaube hilft uns dazu. Ich möchte Sie alle herzlich dazu einladen.

Karl Kardinal Lehmann
Bischof von Mainz 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz