Halbherzigkeiten

Über unseren Umgang mit dem demografischen Wandel

Datum:
Donnerstag, 10. Januar 2013

Über unseren Umgang mit dem demografischen Wandel

Monatskolumne für die Kirchenzeitung "Glaube und Leben" im Januar 2013

In diesen Tagen wird in Ansprachen zum Weihnachtsfest und zum Jahreswechsel immer mehr Bilanz gezogen. Auch werden Aufgaben und Nöte im Blick auf die Bewältigung der Zukunft erwähnt und manchmal auch beschworen. Manche Themen, wie eine immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich, werden mit Recht fast überall zur Sprache gebracht.

Über ein Thema wird hier aber weniger gesprochen, obgleich es uns bis in eine fernere Zukunft hinein ziemlich bedrängen wird. Es ist der demografische Wandel. Am ehesten kommt man noch auf die wachsende Zahl älterer Menschen zu sprechen, ganz besonders im Blick auf die künftigen Pflegeprobleme.

Es ist schon eigentümlich: Wir wissen um die steigende Zahl älterer Menschen und die Lasten, die künftigen Generationen aufgeladen werden, besonders wenn wir auch an die Schulden denken, die wir manchmal wenig verantwortungsvoll im Blick auf unsere Nachfahren machen. Das Problem wird uns überall bedrängen. Mit Recht hat die Sozialministerin und wohl auch künftige Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz Malu Dreyer den demografischen Wandel zu einem Hauptthema ihrer Regierungsarbeit gemacht und das entsprechende Stichwort in die Umschreibung ihres Ministeriums aufgenommen.

Manchmal hat man den Eindruck, dass wir uns mit diesem demografischen Wandel deshalb so schwer tun, weil wir ganz auf unsere nächste Gegenwart und ihre Probleme fixiert sind. Wir reden zwar viel von Planen und Zukunft, begrenzen aber unseren Horizont ziemlich eng bei unseren eigenen Bedürfnissen. Dies gilt auch für die ökologischen Probleme, z.B. die Folgen des Klimawandels, wo man auch im Weltmaßstab weniger auf die Bewahrung der Schöpfung und unserer Lebensbedingungen, sondern auf die Annehmlichkeiten unserer Lebensweise und die Möglichkeiten innerhalb unserer eigenen Lebenszeit schaut.

Es gibt einige Beispiele, die dies in besonderer Weise markieren. Dabei ist die Wirtschaft besonders beteiligt, auch wenn es uns alle angeht. Ich bringe einige Beispiele, die ganz gewiss näher analysiert werden müssen, aber doch schon wie Signale warnen: Nach verlässlichen Informationen haben sehr viele Männer im Alter zwischen 28 und 35 Jahren keinen unbefristeten Arbeitsvertrag. Wie kann man ihnen zumuten, eine Familie zu gründen und Kindern das Leben zu schenken, wenn sie eine so unsichere Zukunft haben! In dem höchst unerfreulichen Streit um das „Betreuungsgeld" haben sich auch einige prominente Wirtschaftsführer der allgemeinen Ablehnung mit dem Argument angeschlossen, man brauche die Frauen in den konkreten Arbeitsverhältnissen. Deswegen könne man den Ausfall der Frauen durch die Erziehung der Kinder in den Familien und zu Hause nicht ersetzen. Denkt man hier wirklich an die künftigen Probleme, die durch den demografischen Wandel angezeigt werden? Und schließlich noch ein Beispiel aus unseren Tagen. Die zum Jahresbeginn 2012 eingeführte Pflegezeit für Familien findet in den Unternehmen bislang kaum Anklang, wie aus einer Statistik des Bundesfamilienministeriums hervorgeht. Diese Chance, Beruf und Pflege eines Angehörigen besser miteinander zu vereinbaren, wird wenig genutzt - 200 Personen haben 2012 bisher einen Antrag gestellt. Aber vielleicht ist dies auch nur die Situation der ersten Anlaufzeit. Die Beispiele ließen sich vermehren, z.B. an der Kindertagesstättenpolitik mancher Bundesländer.

Es ist nicht zu spät, diese Verhaltensweisen im Blick auf die Zukunft selbstkritisch zu überdenken. Aber es wird höchste Zeit, dass wir unsere Einstellung ändern. Sonst holen uns die negativen Folgen bald ein. Auch wenn man der Wirtschaft nicht allein den Schwarzen Peter zuschieben darf, so muss man besonders darauf aufmerksam bleiben, dass die Wirtschaft um des Menschen Willen da ist, nicht umgekehrt. Dabei verkenne ich nicht die Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Lebens. Aber auch dieses braucht Fundamente, auf die es angewiesen ist.

Wir müssen zuerst - wie es fast immer ist - unser Denken und unsere Einstellung ändern. Der große deutsch-jüdische Denker Hans Jonas hat uns in seinem Buch „Verantwortung" das vielleicht zu den wichtigsten philosophischen Werken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, gezeigt, dass wir Verantwortung nicht bloß von der Vergangenheit her, für das was wir zu verantworten haben, und auch nicht bloß von der gegenwärtigen Stunde aus, sondern im Blick auf die Folgen unseres Tuns für die Zukunft verstehen müssen. Dann gewinnt das Thema vom demografischen Wandel konkrete Schärfe und ruft auch unser Gewissen auf für das, was wir heute tun und lassen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz