Hundert Jahre Abitur für Mädchen

Grußwort beim Festakt am 18. August 2008 in Mainz

Datum:
Montag, 18. August 2008

Grußwort beim Festakt am 18. August 2008 in Mainz

Frau Abgeordnete, Frau Staatssekretärin, Herr Generalvikar, Frau Dr. Pollak,

sehr geehrte Direktorinnen und Direktoren, Rektorinnen und Rektoren,

sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler!

Die Wahrnehmung des Menschen wird in vielen Feldern von seiner Gegenwart und von unmittelbaren Vergangenheit geprägt. So nehmen wir es heute als selbstverständlich und gegeben hin,

  • dass wir mittels Handy jederzeit und überall erreichbar sind - vor wenigen Jahren war dies noch eine Vision für Science-Fiction-Romane,
  • dass Züge mit 250 oder 300 Kilometern in der Stunde durch Europa fahren - 150 Jahre lang galten solche Geschwindigkeiten auf der Schiene als nicht umsetzbar und für die Menschen als gesundheitlich unerträglich,
  • dass in Tageszeitungen bunte Bilder gedruckt werden - Fortschritte in der Drucktechnik und die zunehmende Bildorientierung der Leser sind die neuen Bedingungen dafür.

 

So wenig wie bei diesen Alltagsphänomenen hinterfragen wir auch viele Erfahrungen in Schule und Bildung:

  • Koedukation in der Schule ist eigentlich eine Erscheinung der letzten fünfzig Jahre; bis dahin wurden Mädchen und Jungen in der Schule getrennt erzogen.
  • Der Einsatz von Frauen als Lehrerinnen war jahrhundertelang auf Ordensfrauen beschränkt; bis 1919 wurde von Lehrerinnen erwartet, dass sie unverheiratet blieben.
  • Und schließlich ist die Tatsache, dass heute mehr Mädchen als Jungen Abitur machen, noch für die heutige Großelterngeneration nahezu unvorstellbar gewesen.

 

Wir denken heute zurück an den 18. August 1908, als - vor genau 100 Jahren - in Preußen und den mit Preußen verbundenen Staaten die so genannte Preußische Mädchenschulreform verkündet wurde. Ab diesem Tag wurden in Deutschland Schülerinnen mit einer der „Knabenbildung" weitgehend angeglichenen Ausbildung offiziell zum Abitur und zum Studium zugelassen.

 

Durch den Ersten Weltkrieg und die politischen Wirren in der Gründungsphase der Weimarer Republik dauerte es in den meisten deutschen Landkreisen bis in die zwanziger Jahre hinein, bis Mädchen tatsächlich die Gelegenheit hatten, das Abitur und damit den Hochschulzugang zu erhalten. Trotzdem war das Ereignis der Preußischen Mädchenschulreform ein wichtiger Meilenstein in der langen Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung.

 

Es ist nicht zu übersehen, dass in dieser Geschichte die katholische Kirche in vielerlei Hinsicht einen erheblichen Anteil hat - vor allem auch durch herausragende Impulse von Frauen, die ihrer Zeit weit voraus waren. Nicht zufällig waren es oft weibliche Ordensgemeinschaften und ihre Gründerinnen:

  • Ich nenne hier beispielhaft die heilige Lioba, die bei ihren Klostergründungen schon im achten Jahrhundert dafür sorgte, dass alle mit ihr lebenden Schwestern neben der hauswirtschaftlichen und handwerklichen auch eine gute geistige Ausbildung erhielten.[1]
  • Ich erinnere an die heilige Angela Merici, die im 16. Jahrhundert zur Pflege der Caritas und zur Mädchenerziehung den Ursulinenorden gründete.[2] Viele Schulen gehen heute noch auf diese Ursprünge zurück.
  • Ich denke auch an Mary Ward, deren Orden sich - trotz zwischenzeitlichem Verbot - seit dem 17. Jahrhundert vor allem der Bildung und Erziehung von Mädchen widmete und widmet.[3]
  • Ich vergesse im Bistum Mainz nicht die „Schul- und Krankenschwestern von der Göttlichen Vorsehung", die unter Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler an 22 Orten im Bistum 24 Schulstellen verwalteten.[4]

 

Dies ist nur eine Auswahl von Personen, deren Wirken hier bei uns im Bistum Mainz zu spüren war und bis heute nachwirkt. Ähnliche Traditionen finden sich überall in Deutschland. Zusammen mit der im 19. Jahrhundert entstehenden Frauenrechtsbewegung waren sie Wegbereiter dafür, dass im Jahr 1906 etwa zwanzig Frauen als Beraterinnen der preußischen Kultusverwaltung zur Reform des höheren Mädchenschulwesens hinzugezogen wurden. Diese Arbeiten bewirkten schließlich die preußische Mädchenschulreform von 1908.

 

Natürlich ergeben sich solche Daten meist nicht urplötzlich. Die Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung ist differenziert. Es gab auch schon vor 1908 auf verschiedenen Wegen für Mädchen die Gelegenheit zum Abitur. Dies geschah durch eine Aufnahme als Externe in Knabenschulen. Es gab auch private höhere Mädchenschulen und verschiedene Kurse und Studienanstalten für Frauen, die zu höheren Schulabschlüssen führten. Deshalb gab es selbstverständlich auch vor 1908 Frauen, die auf diesem Weg Abitur machen. „Die Neuordnung von 1908 treibt die Normierung und Differenzierung innerhalb der höheren Mädchenschulen voran und bringt einen ersten Abschluss dieses Prozesses ... Weitaus einschneidender ist, dass das Abitur an den Studienanstalten den Frauen nun generell das Immatrikulationsrecht bringt. Mit der Öffnung der Universitäten folgt Preußen 1908 den hier ... fortschrittlicheren südlichen Ländern." (Baden 1900, Bayern 1903, Württemberg 1904, Sachsen 1906)[5] Natürlich dauert es länger, bis dies alles durchgeführt wurde. Immerhin machte z.B. Edith Stein im Jahr 1911 in Breslau ihr Abitur und konnte unmittelbar darauf an der Universität Breslau Psychologie studieren.[6] Viele Beispiele könnten vermehrt werden. Hier ist vor allem auch an Frauen wie Helene Lange und Gertrud Bäumer zu erinnern, die das Mädchenabitur und das Mädchenstudium besonders förderten.

 

II.

 

Es ist hier nicht die Zeit, dies alles in die Geschichte der „Frauenemanzipation" einzuordnen. Gewiss muss manches auch noch genauer erforscht werden.[7] Ich möchte jedoch wenigstens den Hinweis geben, dass die viel zu wenig bekannte katholische Frauenbewegung auch in anderer Hinsicht viele Initiativen vor allem zur Förderung der Mädchen und Frauen angestoßen hat, und zwar in pädagogischer, sozialer und rechtlicher Hinsicht, im Inland und im Blick auf die Mission. Dies gilt z.B. für den Sozialdienst katholischer Frauen.[8] Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, die theologischen Hintergründe für die Schaffung solcher befreiender Maßnahmen gerade von kirchlicher und katholischer Seite darzustellen. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, als ob es nicht auch manche Hindernisse gab. Aber das Verständnis der Frau in der Alten Kirche, nicht zuletzt auch das Entstehen der religiösen Gemeinschaften, der Jungfrauen usw. bilden hier einen wichtigen Motivationshintergrund, der die Selbstständigkeit der Frau, die nicht einfach vom Mann her gesehen wurde, unterstützte und bekräftigte, bis hin zur auch kirchenamtlichen Konzeption der christlichen Ehe im Mittelalter: eine Ehe kommt nur durch das Jawort von Mann und Frau zustande, nicht durch irgendeine Überlegenheit des Mannes, verschiedener Autoritäten usw. Daran ist hier nur global zu erinnern.[9] Unsere Frage muss aber in diesem Gesamtzusammenhang eingebettet und verstanden werden. Dies gilt gerade auch für die Erkenntnis, dass die Frauenorden das Mädchenstudium und das Mädchenabitur besonders gefördert haben. Auch muss man sich klar bleiben, dass die Durchsetzung des Abiturs und vor allem des Zugangs zur Universität für die Frauen noch manchen Schwierigkeiten begegnete.[10]

 

III.

 

Das Bistum Mainz hatte also gute Gründe, gerade Schülerinnen und Schüler der katholischen Schulen zu einem Wettbewerb über Frauenbild, Frauenbildung und Mädchenabitur aufzufordern. Heute werden nun die Siegerinnen geehrt, und ich freue mich mit Euch und Ihnen über die gute Resonanz und die schönen Ergebnisse. Sie machen unter anderem deutlich, dass sich die katholischen Schulen unseres Bistums mit den jeweiligen Anforderungen der Zeit wandeln, aber auch Eigenschaften bewahren, die sie als unangepasst, beispielgebend und der individuellen Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler verpflichtet erscheinen lassen.

 

Dabei ist es nicht unerheblich, dass neben koedukativen Schulen in unserer Diözese weiterhin Mädchenschulen und eine der wenigen reinen Jungenschule in unserem Land - wir haben sie gerade musikalisch live erlebt - bewusst erhalten und gefördert werden - ganz im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils, das in seiner Erklärung „Gravissimum Educationis" über die christliche Erziehung festgehalten hat: „Alle Menschen ... haben kraft ihrer Personenwürde das unveräußerliche Recht auf eine Erziehung, die ihrem Lebensziel, ihrer Veranlagung und dem Unterschied der Geschlechter Rechnung trägt ..."[11] Monoedukative Schulen haben auch heute noch ihre Berechtigung, indem sie die Talente und Interessen der Schülerinnen und Schüler auf eine Weise fördern, die anderen Schulen nicht oder nicht mehr möglich ist.

 

Verehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, leider kann ich wegen anderer Verpflichtungen nicht bis zum Ende der Preisverleihung bei Euch und bei Ihnen bleiben. Ich habe mich aber vorab über die Arbeiten der Preisträgerinnen informieren lassen und kann Euch und Ihnen versichern, dass die Jury gute Entscheidungen getroffen hat. Ich bedanke mich bei allen Teilnehmerinnen am Wettbewerb für die Mühe, die sie sich gemacht haben, danke den Initiatoren des Wettbewerbs und wünsche Euch und Ihnen allen noch einen spannenden Nachmittag - und unseren Schulen mit allen, die darin gemeinsam auf dem Weg sind, eine gute, gesegnete Zukunft.

 


[1] Vgl. dazu G. Muschiol, Königshof, Kloster und Mission - Die Welt der Lioba und ihrer geistlichen Schwestern, in: F.-J. Felten (Hg.), Bonifatius - Apostel der Deutschen = Mainzer Vorträge 9, Wiesbaden 2004, 99-115 (Lit.); L. E. von Padberg, Christianisierung im Mittelalter, Darmstadt 2006, 60 ff.

[2] Dazu K. Seibel-Royer, Die heilige Angela Merici, Graz 1966 (Lit.).

[3] Vgl. M. Köhler, Maria Ward, München 1984; M. I. Wetter, Maria Ward unter dem Schatten der Inquisition (1630-1637), München 2003.

[4] Die meisten Ausführungen dazu vgl. vorläufig in den einschlägigen Biografien und im Werk von Bischof von Ketteler.

[5] Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, IV: 1870-1918, hrsg. von Chr. Berg, München 1993, 289, zur Sache vgl. ausführlicher 237 ff., 287 ff. (dort weitere Literatur).

[6] E. Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie = Edith Steins Werke VII (vollständige Ausgabe 1985), Freiburg i. Br. 1985, 131 ff., bes. 144 f.; A. U.  Müller/M. A. Neyer, Edith Stein, Zürich 1998, 27 ff.

[7] Man staunt z.B. über das relativ schwache Echo dieser Frage in dem großen fünfbändigen Werk von G. Duby/M. Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 5, Frankfurt 1995, 504 f.

[8] Vgl. A. Wollasch, Von der Fürsorge „für die Verstoßenen des weiblichen Geschlechts" zur anwaltschaftlichen Hilfe. 100 Jahre Sozialdienst katholischer Frauen (1899-1999), Dortmund 1999; Ders., Der katholische Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder (1899-1945). Ein Beitrag zur Geschichte der Jugend- und Gefährdetenfürsorge in Deutschland, Freiburg i. Br. 1991; A. Kall, Katholische Frauenbewegung in Deutschland = Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B,  Paderborn 1983; G. Muschiol (Hg.), Katholikinnen und Moderne: Katholische Frauenbewegung zwischen Tradition und Emanzipation, Münster 2003.

[9] Für die frühe Kirche vgl. hier A. Roussele, Der Ursprung der Keuschheit, Stuttgart 1989; P. Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München 1991; Ch. Munier, Matrimonio e verginità nella chiesa antica = Traditio Christiana IV, Turin 1990 (auch französische Ausgabe). K. S. Frank, Angelikos Bios. Begriffsanalytische und begriffsgeschichtliche Untersuchung zum „engelgleichen" Leben im frühen Mönchtum, Münster 1964; F. Quéré, La Femme, et les Pères de l´Église, Paris 1997.

[10] Näheres dazu in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte IV, 290 ff. (Lit.).

[11] Vgl. K. Lehmann, Die Vermittlung des Evangeliums durch Erziehung. Der Auftrag katholischer Schulen in Ordenstradition, in: Vereinigung katholischer Schulen in Ordenstradition, Ordensdirektorenvereinigung (ODIV), Weite und Tiefe (= Materialien 3 - Neue Folge), Bonn 2006, 17-35. Auch mit dem Titel: „Durch Erziehung evangelisieren", in: KNA Dokumente, Nr. 1 / Januar 2006, Bonn 2006, 2-9; Ders., 40 Jahre Konzilsbeschluss „Garvissimum educationis" - Perspektiven und Auftrag für die katholischen Schulen, in: G. Pollak/C. P. Sajak (Hg.), Katholische Schule heute. Perspektiven und Auftrag nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br. 2006, 32-51.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort - Manuskript im Vortrag gekürzt

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz