Ich gehe ein Stück mit dir

Vortrag in der Reihe „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ anlässlich des Elisabeth-Jahrs in Erfurt am 4. April 2007

Datum:
Mittwoch, 4. April 2007

Vortrag in der Reihe „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ anlässlich des Elisabeth-Jahrs in Erfurt am 4. April 2007

„Ich gehe ein Stück mit dir“, dies ist beinahe ein täglich vorkommendes Wort unserer Umgangssprache, bei dem wir uns nicht mehr so viel denken. Wir begleiten jemand aus Freundlichkeit, Sympathie oder auch zur Unterstützung für eine mehr oder weniger kurze oder längere Strecke. Es scheint nichts Besonderes dabei zu sein.

Wenn man jedoch dieses Wort zur Überschrift eines Vortrags, ja zu einem heutigen „Werk der Barmherzigkeit“ wählt, dann muss es dafür auch noch zusätzliche Gründe geben, warum man darüber eigens spricht. Wir erleben schließlich heute viele Menschen, mit denen niemand ein Stück mitgeht. Warum dies so ist und welche Konsequenzen dies in unserem Leben haben kann, wollen wir eigens bedenken.

I.

Der Mensch ist immer schon ein Individuum und zugleich ein Gemeinschaftswesen. Er ist eine unverwechselbare, eigenständige, darum auch mit Würde ausgezeichnete Person. Er kann deswegen auch nicht einfach durch andere ersetzt werden. Er ist unvertretbar, wie wir sagen. Darum gibt es zur Sicherung dieser Personenwürde die Menschenrechte, die ihm dies in unserem gemeinsamen Leben garantieren. Zugleich lebt keiner für sich allein. Wir stammen von unseren Eltern ab und stehen in einer Abfolge von Generationen. Aber auch in unserer Gegenwart sind wir immer mehr und in vielen Dingen auf eine Arbeitsteilung angewiesen. Wir brauchen einander. Wir sind auch in diesem Sinne ein Gemeinschaftswesen, dass wir in die Zukunft schauen und unseren Beitrag leisten für die künftigen Generationen auf dieser Erde.

Das Verhältnis zwischen der Individualität und der Gemeinschaftsanlage, der Sozialität, ist nicht einfach eine feststehende Größe, sondern vom Wandel des Menschenbildes und besonders von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Wir können deshalb viele Phasen und Epochen in diesem Verhältnis feststellen. In der Neuzeit glauben wir eine besonders starke Tendenz zur Individualisierung festzustellen. Auch darüber gibt es viele Untersuchungen mit dem Versuch einzelne Individualisierungsprozesse zu unterscheiden.

Es ist kein Zweifel, dass es in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten viele geschichtliche und gesellschaftliche Vorgänge gibt, die eine Individualisierung fördern. Die Sippen- und Familienverbände, die lokalen Gruppen und die Stände lockern sich, ja werden manchmal geradezu aufgelöst. Dies gilt besonders auch für die herkömmlichen Milieus, in denen die Menschen oft einen Halt fanden. Die Gesellschaft ist viel differenzierter geworden. Dies hat in höherem Maße individuelle Entscheidungsmöglichkeiten zur Folge. Die Räume der menschlichen Erfahrung und die Lebenswege sind weiter geworden. Wir können sie auch wechseln. Dies hat das Bewusstsein von der Verschiedenheit und Einzigartigkeit des Menschen gesteigert. Die moderne sozialwissenschaftliche Diskussion nennt oft vier Dimensionen dieses Individualisierungsprozesses: 1. Die Menschen werden aus den herkömmlichen sozialen Bindungen, den Milieus und Kollektiven jeder Art frei gesetzt („Freisetzungsdimension“). 2. Die Menschen erleben dabei oft, dass die überkommenen gemeinsamen Deutungen unseres Lebens und der Welt gleichsam entzaubert werden und einen manchmal großen Verlust überkommener Sicherheiten erleiden („Entzauberungsdimension“). 3. So entsteht der Eindruck, die Fähigkeit, eine eigene Lebensgeschichte, eine Biografie, zu entwickeln, sei erst unter diesen Bedingungen gegeben oder realisierbar („Biografisierungsdimension“). 4. Vieles in unserer Welt wird zunächst von anonymen Institutionen bestimmt und gelenkt. Dennoch muss diese Abhängigkeit immer wieder auch am Einzelnen ausgerichtet und auf ihn hin gestaltet werden, wie vor allem der Arbeitsmarkt und die Bestimmungen des Sozialstaates zeigen („Kontroll- und Reintegrationsdimension“).

In jüngster Zeit war man auch der Ansicht, es gebe einen regelrechten Individualisierungsschub. Dabei werden drei strukturelle Dimensionen angeführt, die seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts diesen Schub hervorgerufen und gefördert haben: 1. Der materielle Lebensstand ist für einen Großteil der Menschen im Zuge einer Wohlstandsphase gehoben worden, sodass viele erst zur individuellen Wahl von Lebensmöglichkeiten befähigt werden. 2. Das formale Bildungsniveau vieler Menschen ist gesteigert worden, was zur Herauslösung aus gesellschaftlichen Bindungen und Bedingungen führte. 3. Das sozialstaatliche Sicherungssystem ist ausgebaut worden, sodass der Einzelne stärker sein Leben auf sich selbst bauen kann; das Anwachsen des Dienstleistungssektors unterstützt ihn bei dieser Wahl von Lebensmöglichkeiten.

II.

Wir sind gewohnt, solche Prozesse etwas voreilig zu deuten. Die einen sehen darin eine fantastische Entwicklung, die den Menschen erst zu seiner wahren Freiheit führt. Sie sehen darin nur die Gewinnung der Autonomie und der Emanzipation. Die anderen sehen im Individualisierungsprozess eher den Sieg eines schrankenlosen Individualismus, der letztlich egozentrisch geleitet sei. Dazu muss man sagen, dass die Individualisierung zunächst ein unvermeidliches gesellschaftliches, keineswegs moralisch bereits bestimmtes Phänomen darstellt. Es gibt bestimmte Zwänge dafür, die die moderne Lebensführung des Menschen in den grundlegenden Strukturen bestimmen. Es ist und bleibt auch ein ambivalentes System, das vielen sozialen Prozessen der neueren Zeit gemeinsam ist: Unsere modernen Lebensformen haben alle eine Vorder- und Rückseite, sie bieten viele Chancen und erhöhen in der Tat auch die individuellen Lebensmöglichkeiten, aber sie bieten auch nicht wenige Risiken, sodass der Mensch in seiner ihm nun zugemuteten Freiheit abstürzt und auch neuen Zwängen ausgesetzt ist. Dieses Phänomen der Ambivalenz prägt zweifellos auch den Individualisierungsprozess.

Diese Situation führte insgesamt zu einer sehr zwiespältigen Beurteilung des menschlichen Subjekts. Auf der einen Seite gab es eine riesige Übersteigerung der Autonomie des menschlichen Subjekts. Es entstand ein Individualismus, der alle Begrenzungen und Bedingungen menschlichen Lebens gering schätzte. Auf der anderen Seite war es unvermeidlich, dass diese extreme Selbstüberschätzung irgendwie auch zusammenbrach. Der Mensch entdeckte sich plötzlich geradezu gefangen von den gesellschaftlichen Bedingungen von Identität. Es gab eine solche Entleerung des menschlichen Subjekts von der Möglichkeit zur Selbstbehauptung, dass man geradezu von einem Verfall des Subjekts sprach. Man empfindet eine Entfremdung des Menschen durch die ständige Identitätssuche. Eine Reihe von Buchtiteln der letzten Jahre und Jahrzehnte zeigt dies rasch an: „Die Frage nach dem Subjekt“, „Verlust des Subjekts?“, „Das fragwürdige Subjekt“, „Das Verschwinden des Subjekts“, „Die Tücke des Subjekts“, „Verkehrte Subjektivität“. Das Subjekt wird überdrüssig an sich selbst und ist in der Gefahr sich preiszugeben. Man muss regelrecht nach einer „Hermeneutik des Subjekts“ suchen.

In dieser Situation kommt es auch zu neuen Einsamkeiten des Menschen. Hier muss man allerdings unterscheiden, vor allem zwischen Einsamkeit und Vereinsamung. „Vereinsamung ist eine Form des Verlustes. Es ist die Nähe zu anderen, die da in Verlust gerät. In der Erfahrung der Vereinsamung scheint mithin ein Leiden an der Einsamkeit zu liegen. Aber Einsamkeit ist in Wahrheit ein sehr ambivalentes Phänomen. Nicht nur für den Philosophen, sondern für jeden, der die Erfahrung der Einsamkeit denkend vor sich bringen will, treten zwei sehr verschiedene Aspekte von Einsamkeit sofort in den Blick. Nicht immer ist Einsamkeit ein Leiden. Zunächst stellt sie sich freilich so dar. Da ist die Verlassenheit von den Freunden – man denke an Ijob oder an Christus am Ölberg. Verlassenheit von den Freunden ist Verlassenheit von der tragenden Nähe der anderen. Solche Verlassenheit von der tragenden Nähe der anderen ist nun vielleicht immer in einer sehr engen Nachbarschaft mit der anderen Verlassenheit, von der wir wissen, dem Von–Gott–Verlassensein. Bis in die Rede von der ‚gottverlassenen Gegend’ klingt die ursprüngliche Gottverlassenheit nach, die das letzte Wort Christi am Kreuze war. Zwischen der Verlassenheit von der Nähe der anderen und der Verlassenheit von Gott besteht eine innere Beziehung in jeder religiösen Erfahrung.“

Die mannigfachen Formen der Zwänge, z.B. Meinungszwang, steigern diese Vereinsamung. Sie schaffen auch manchmal eine Flucht vor sich selbst, nicht zuletzt in die Sucht, aber nicht selten auch so, dass der Mensch sich regelrecht wegwirft und zerstört. Es kann aber auch zu einer totalen Distanzierung von allem, was außerhalb von uns ist, kommen, dass man nur noch in einer geschlossenen Monade, gleichsam wie ein in sich selbst gefangener Robinson, lebt. Am Ende kann man dann zu einem solchen Rückzug allein auf sich selbst kommen. Wir empfinden uns den Anderen ausgeliefert. Man wird an J.-P. Sartre erinnert: „... die Hölle, das sind die Anderen.“ - „Weil wir den Anderen ausgeliefert sind, sind sie unsere Peiniger – die Hölle ist nichts anderes als dieses Ausgeliefertsein. Wir finden keine Ruhe, wir müssen immer auf dem Sprung sein, um die Anderen von der Edelmütigkeit unserer Handlungen zu überzeugen, oder, wenn wir gefehlt haben, von der Geringfügigkeit unserer Schuld.“

III.

Damit sind auch die Hintergründe für diese modernen Vereinsamungen aufgezeigt. Sie sind in der Zwischenzeit auch in hohem Maß vom gegenwärtigen Denken selbst korrigiert. Man denke nur an die dialogische Philosophie, welche die Ich-Du-Beziehung in die Mitte rückte. E. Lévinas hat uns in seinem großen Lebenswerk die leibhafte Beanspruchung durch den anderen Menschen aufgezeigt. Man kann das Subjekt nicht trennen von der Sensibilität des Leibes und der Sinne. Erst hier wird die Identität des Subjekts gestiftet.

Offensichtlich also bedarf es einer gründlichen Korrektur vieler heutiger Menschenbilder. Sie haben nämlich den Menschen oft in eine beinahe absolute Verlorenheit gestürzt und ihm oft vorgegaukelt, er könne sein Leben ganz allein bestehen und könne auf alle anderen Stützen und Hilfen im Leben verzichten. Er würde sich dann selbst viel besser finden. Dieser Traum ist aber weitgehend zerflossen und ist geradezu einer Verzweiflung am Subjektsein des Menschen gewichen, der sich am Ende dann selbst aufgibt.

Ich sehe folgende notwendige Korrekturen an diesem Menschenbild:

1. Die Kreatürlichkeit des Menschen: Wir sind nicht die Unbedingten. Wir sind immer wieder die Bedingten: umgeben von der Erde und von ihr getragen, sind Nachbarn anderer Menschen, haben darin auch eine gemeinsame Natur. Es ist also nicht von vornherein ein unausrottbares Elend, dass wir endlich sind und anderer bedürfen.

2. Aufeinander Angewiesensein: Deshalb brauchen wir auch immer wieder einander. Es ist keine Schande, dass wir anderer bedürfen. Dies gilt nicht nur dann, wenn wir krank sind und der Unterstützung bedürfen, sondern wenn wir auch am Anfang und am Ende des Lebens, in den Zeiten der Geburt und des Alterns uns auf andere stützten müssen. Wer immer wieder und nur in den Kategorien einer unbegrenzten Autonomie denkt und lebt, wird jede Form der „Abhängigkeit“ immer wieder als entehrend, demütigend, lästig und unmenschlich empfinden.

3. Solidarität: Wenn man hingegen die gemeinsame Menschennatur und das Angewiesensein aufeinander in den Blick nimmt, dann wird die Kategorie Solidarität für das Verständnis des Menschen elementar und wirklich tragend. Wir sind zueinander geöffnet, füreinander da und einander verpflichtet. Es gibt eine grundlegende Brüderlichkeit oder, wie wir heute manchmal lieber sagen: Geschwisterlichkeit, unter den Menschen. Keiner darf einfach den anderen aufgeben.

Vor diesem Hintergrund bekommt unser Titel „Ich gehe ein Stück mit dir“ einen ganz neuen Sinn. Es ist dann beinahe selbstverständlich, dass wir miteinander durch das Leben gehen, der eine den anderen bei der Hand nimmt und ihn bisweilen auch führt und leitet. Dies darf nicht einfach zu einer Beherrschung führen, wie später noch zu zeigen sein wird.

Seit alter Zeit hat darum auch eine wichtige Kategorie hier einen Platz im Bild des Menschen. Es ist die Freundschaft. Im Denken der Antike ist dies ein zentrales Hauptstück der Ethik. Die Freundschaft umfasst alle Formen menschlichen Zusammenlebens, die Kameradschaft, die Lebensform der Ehe, gesellschaftliche Gruppenbildung und die Gemeinschaft politischer Parteien. Freundschaft ist mithin im Empfinden und in der Erfahrung der Solidarität gegründet. „So bedeutet der Verlust aller Solidarität das Leiden der Vereinsamung, und umgekehrt setzt Solidarität immer schon voraus, was die Griechen Freundschaft mit sich selber nannten und was ... die Schätzung der Einsamkeit bewirkt und die Fähigkeit zum Alleinsein-Können ermöglicht.“ So kann man auch ein altes Wort von Euripides verstehen: „Die Freunde umarmen, das ist Gott.“ Diese Überzeugungen haben wir heute oft verloren, sodass auch in der Philosophie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Kapitel „Freundschaft“ in der Ethik zu einem kleinen Anhang herabgesunken ist. Es dominieren Worte wie von I. Kant, dass der echte Freund so selten sei wie ein schwarzer Schwan.

IV.

Damit sind wir in der Lage, uns noch näher mit dem Wort „Ich gehe ein Stück mit dir“ zu befassen und es über seine Alltagsbedeutung hinaus auszuloten. Dabei geht es vor allem um den Lebensweg der Menschen. Wir gehen alle ein Stück zusammen. Seit alters her wird in vielen Religionen und Denkweisen vom „Weg“ des Menschen gesprochen. Sein Leben ist nicht einfach Natur, aber auch nicht eine bloße geistige, ätherische Existenz, sondern er bewegt sich in Raum und Zeit durch die Geschichte. Jeder Weg des Menschen bringt auch eine „Lebensgeschichte“ mit sich. Dabei bezeichnet „Weg“ die Bahn oder die Strecke, die man zurücklegt, aber auch das mehr oder weniger planmäßige Vorgehen oder Verfahren, wie man etwas tut, erkennt oder ausführt. Für alles, was einen Anfang und ein Ende hat, legt sich das Bild vom Weg nahe. So sprechen wir von der Wegstrecke unseres Lebens, die durch Geburt und Tod begrenzt wird, aber nicht zuletzt auch von den vielen Abschnitten innerhalb der Lebensreise des Menschen. Dabei erstreckt sich das Motiv nicht nur auf den Einzelnen, sondern auch auf das Schicksal von Gruppen und ganzen Völkern. In den einen großen Weg der Menschheit ergießen sich gleichsam die Verästelungen, Rinnsale und Schicksale vieler einzelner Wege und Lebenswege.

Der Gedanke und das Bild vom Weg betreffen auch den sittlichen Weg des Menschen. „Sobald das Leben als Aufgabe und Tat der Freiheit begriffen wird, wird der Mensch in die Situation der Wahl und der Entscheidung versetzt. Bekannt dafür ist die Gestalt des Herkules am Scheideweg, der zwischen dem bequemen Weg des Lasters und dem steilen Pfad der Tugend zu wählen hat. Das ist zugleich der Rahmen für die ständig aktuelle alte biblische Frage: ‚Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel?’ (Ps 119,9) Viele Lebens- und Verhaltensanweisungen lieben die schematisierende Gegenüberstellung zweier Wege. Von der Bibel her bietet sich daher das Beispiel des ‚Weges der Sünder oder Frevler’ und des ‚Weges der Gerechtigkeit’ (Ps 1) des ‚geraden’ und des ‚krummen Weges’ (Ps 1,12-23; Ps 107,7; Ps 125,5) des ‚Wegs der Wahrheit’ und ‚der Lüge’ (Ps 119,29 f.), des ‚Wegs der Gerechtigkeit’ und des ‚Unrechts’ (Tob 4,5; Spr 12,28) an. Weg steht hier für den Lebensvollzug des Menschen; den eigentlichen Vergleichs- oder Bezugspunkt für seine Bewertung bildet der Wille Gottes.“

Ähnlich ist es auch - wie schon gesagt - mit den Religionen. Hier dominiert immer wieder die Rede von der Reise oder vom Aufstieg der Seele in die Welt der Gottheit, vom Weg zur Erkenntnis, zur Wahrheit, zur Weisheit oder Unsterblichkeit. Die Stifter von Religionen treten oft auf als Verkünder, Lehrer und Meister des Weges. Es ist auch verständlich, dass sich hier der Gedanke der Pilgerschaft des menschlichen Lebens vom Anfang zum Ende nahe legt, woraus sich auch die Wallfahrt als Sinnbild unseres Lebens ergibt. Darum ist es im Blick auf die Religionen und Denksysteme verständlich, dass hier „Weg“ sehr oft für die Bewegung, den Prozess, die Methoden oder die Spielregeln steht. Besonders wird das Unterwegssein zur Wahrheit, zur Sprache, zur Wirklichkeit, zum Sein oder zum Absoluten mit dem „Weg“ umschrieben. So konnte M. Heidegger insgesamt im Blick auf das Tao/Weg als ein Urwort der Sprache schreiben: „Vielleicht verbirgt sich im Wort ‚Weg’, Tao, das Geheimnis aller Geheimnisse des denkenden Sagens, falls wir diese Namen in ihr Ungesprochenes zurückkehren lassen und dieses vermögen. Vielleicht stand auch noch und gerade die rätselhafte Gewalt der heutigen Herrschaft der Methode daher, dass die Methode, unbeschadet ihrer Leistungskraft, doch nur die Abwässer sind eines großen verborgenen Stromes, des alles bewegenden, allem seine Bahn reißenden Weges. Alles ist Weg.“

Dieser Weg des Menschen ist darum auch Geheimnis, weil er oft unvorhersehbare Überraschungen bringt, die jäh abbrechen kann und früher oder später einmal endet, ohne dass wir es vorher genauer wissen können. Der Weg ist auch nicht immer gerade. Es gibt Umwege und Abwege, Irrwege und Holzwege. Manchmal muss man wieder umkehren, um den rechten Weg zu finden. Manchmal kommt man lange nicht ans Ziel. Dies ist wirklich identisch mit den Rätseln und Abgründen unserer Lebensgeschichte. Dabei gibt es Etappen und Abschnitte, die außerordentlich verschieden sind. Bis zu einem gewissen Grad hängt dies auch ab von den so genannten Lebensaltern, also Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter.

Jetzt spricht uns das Wort „Ich gehe ein Stück mit dir“ neu an. Wir entdecken uns als Weggenossen derselben Zeit, derselben Generation, derselben Herkunft, desselben Schicksals, derselben Interessen usw. Aus der Generationenlehre wissen wir auch, wie sehr die Zugehörigkeit zur selben Zeit und ihren Ereignissen die Menschen zusammenschweißt. Dies kann auf ganz verschiedene Weise geschehen, wie wir miteinander gehen. Man kann dabei jemand aus den Augen verlieren, vielleicht auch wiedergewinnen und auch in verschiedenen Situationen immer wieder unter anderen Perspektiven kennen lernen.

V.

Natürlich spüren wir die unterschiedlichen Weisen, miteinander durch das Leben zu gehen. Die Zeitgenossenschaft allein sagt noch nicht viel. Man kann gedankenlos, gleichgültig und uninteressiert nebeneinander hergehen. Man kann sich auch im selben Lebensalter sehr fremd sein. Ja, Menschen, die einander in Ehe, Familie und Beruf nahe sind, stehen manchmal in der Gefahr, äußerlich miteinander zu gehen, ohne wirklich das Leben zu teilen. In dem kleinen Wort „Ich gehe ein Stück mit dir“ steckt ein anderes Engagement. Man interessiert sich wirklich für einen anderen, ob er fremd ist oder ein Freund geworden ist. Jedenfalls gehört dazu die Bereitschaft, dass man in unterschiedlicher Intensität das Leben mit einem anderen teilt.

Dies kann eben in sehr verschiedenen Formen stattfinden. Manchmal ist es vielleicht nur ein kurzes Stück des Weges. Aber dies kann entscheidend sein. Ein Arzt begleitet uns vielleicht auf einem schwierigen Weg der Heilung oder auch einer Krankheit, die unter Umständen zum Tode führen kann, ein anderer begleitet uns in einem wichtigen Lebensabschnitt, in dem es z.B. um die Berufsfindung oder ein wichtiges Examen geht. Eine ganz besondere Bedeutung hat dabei, wie wir schon gesehen haben, die Freundschaft, wo wirklich, wenn sie eine echte ist, Menschen miteinander, wie wir gerne sagen, „durch Dick und Dünn gehen“. Vielleicht kann aus einem solchen Miteinandergehen eine kurze Weggenossenschaft werden, die ihren sehr spezifischen Sinn hat, z.B. in einem wichtigen Lebensabschnitt, in einer Krankheit oder in einer anderen Bedrängnis unseres Lebens. Es ist aber auch möglich, dass dieses Miteinandergehen nicht nur ein Stück weit reicht, sondern zu einer verlässlichen Partnerschaft führt, ja zu einer ganz besonderen Lebens- und Schicksalsgemeinschaft, wie es vor allem in der Ehe und in der Familie geschieht. Dann ist das Teilen der Lebenschancen noch sehr viel enger, dann darf keiner den anderen einfach aufgeben und nach einer gewissen Zeit abhängen.

Die Rede, dass wir ein „Stück weit“ mit einem anderen gehen, darf aber nicht nur von einer lebenslangen Begleitung her bewertet werden. Ehe und Familie verlangen von Hause aus, dies ist jedenfalls die Überzeugung der Bibel und auch des katholischen Glaubens, eine lebenslange Treue. Es muss Verlass aufeinander sein. Aber es ist auch ein eigener Reiz, in bestimmten Lebenssituationen einen besonderen Freund/eine besondere Freundin zu haben, die einen begleitet. Ein Mensch kann eine ganz besondere Hilfe sein, die einzigartig werden kann. Dies kann auch gelegentlich ein „Profi“ sein. Wir haben viele Berufe, die streckenweise Menschen in herausfordernden Situationen begleiten, z.B. eine Krankenschwester, ein Seelsorger, ein Vormund. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, kann eine bleibende Dankbarkeit das Ergebnis sein. Aber oft vergessen wir eine solche vorübergehende Hilfe.

Nicht selten wird aber auch ein solches Mitgehen besonders dringlich. Wir spüren dies schon, wenn wir unterwegs sind, etwas Schweres tragen oder gesundheitlich beim Gehen behindert sind. Dann sind wir dankbar, wenn einer „ein Stück weit“ mitgeht, uns buchstäblich unter die Arme greift und uns mitträgt. Dies gehört, wie wir früher bedacht haben, zur menschlichen Solidarität, die heute leider sehr oft gestört ist. Wir lassen dann nicht selten auch Menschen allein, die uns dringend brauchen und auf unsere Hilfe angewiesen sind. Um so dankbarer sind wir, wenn wir in solchen Situationen nicht allein bleiben. Nicht selten sagen wir dann: „Der hat mir in einer wichtigen Situation geholfen. Dies werde ich nicht vergessen.“

So gibt es sehr viele Formen, miteinander – auch ein „Stück weit“ - durch das Leben zu gehen. Die zeitliche Länge ist dabei gewiss wichtig, wenn es um Zuverlässigkeit und Verlass aufeinander geht. Aber in einer Zeit besonderer Hilfsbedürftigkeit ist dieses „ein Stück weit“ von außerordentlicher Bedeutung. Wir dürfen nicht nur auf kontinuierliche, unaufhörliche Unterstützung blicken. Dies kann es bei Menschen geben, die z.B. behindert sind. Es ist sehr eindrucksvoll, wie solidarisch Menschen zu Behinderten sein können. Dies gilt auch für lange Krankheiten. Wir wissen ja, dass es hier im Sozialstaat auch unheilvolle Einstellungen gibt. So soll z.B. Sozialhilfe uns in einer gewissen Zeit entlasten und uns wieder in ein selbstverantwortetes Leben geleiten. Sie ist nicht als Dauerlösung, sondern als Überbrückung gemeint, bis wir wieder mit eigenen Kräften unser Leben steuern können. So kann die Hilfe „ein Stück weit“ uns aufmuntern und ermutigen, in einer Zeit der Verlassenheit, der Schwäche oder der Entbehrung wieder unsere Kräfte zu sammeln.

„Ich gehe ein Stück mit dir“: Dies wird besonders wichtig in einer Zeit großer Verlassenheit. Es gibt im menschlichen Leben Situationen, wo jemand nicht mehr von seiner Umgebung oder den ihm sonst Vertrauten verstanden wird. Da gibt es vielleicht nur noch einen Menschen, der an uns glaubt und der wirklich mitgeht. Wir wissen ja, wie rasch wir bereit sind, mit den Erfolgreichen und den Siegern ein Stück weit mitzugehen, dass uns dies aber bei den Unglücklichen, Erfolglosen und Schwachen viel schwerer fällt. Bei der extremen Individualisierung unserer Gegenwart, die vielleicht auch schon den Zenit überschritten hat, kann es gerade in großer Not, zu der auch z.B. Langzeitarbeitslosigkeit gehört, tiefe Einsamkeiten geben, wo es geradezu lebenswichtig ist, dass wenigstens einer mit uns geht und auch die Hoffnung im Menschen bestärkt. Dabei muss diese Hilfe für andere nicht immer sofort erkennbar sein. Es gibt sehr diskrete Wege, mit anderen ein Stück weit durch das Leben zu gehen. Man denke an eine verschwiegene Freundschaft, an die vielen Therapeuten, an die Seelsorger, aber auch an die vielen Menschen in den heilenden Berufen.

VI.

An dieser Stelle wird eine weitere Beobachtung wichtig. Wir sagen mit Recht: „Ich gehe ein Stück mit dir.“ Wir entlasten damit nicht einfach und vollends den Weggenossen. Vielleicht muss man einmal Menschen über eine längere Zeit einfach durchtragen, nicht selten auch schweigend. Es gibt eine wunderbare Treue unter Menschen. Immer wieder denke ich an die Pflege chronisch Kranker in der eigenen Familie. Die Nächsten nehmen hier oft eine große Entbehrung in Kauf, müssen auf Urlaube und Erholungszeiten verzichten – und tun dies nicht selten in einer erstaunlichen Zufriedenheit und Freude. Es sind die stillen Helden in unserem Leben, die wir viel zu wenig beachten.

Als Menschen dürfen wir jedoch andere nicht einfach aus ihrer eigenen Verantwortung entlassen. Es gibt eine ganz falsche Weise der Begleitung, wenn wir Menschen in der momentanen Abhängigkeit belassen und sie nicht zur wahren Selbstständigkeit führen. Selbst wenn sie krank und behindert sind, müssen wir im Maß des Möglichen ihre Selbstbehauptung und ihre Selbstbestimmungsmöglichkeit stärken. Darum ist es gerade in Situationen der Krankheit und äußerer Not lebenswichtig, dass wir den Daseinswillen und – sei sie noch so klein geworden – die Lebensfreude des Menschen stützen. Darum sind Situationen der Schwäche immer auch riskant und in gewisser Weise gefährlich, weil wir uns auch – oft im Unbewussten – anmaßen, die Lebensführung anderer zu sehr zu bestimmen. Natürlich gibt es solche Situationen, wo wir auf andere ganz elementar angewiesen sind, sie sogar für uns eintreten müssen, wenn wir zur Selbstbestimmung nicht mehr in der Lage sind. Wir diskutieren ja diese Probleme zurzeit ganz besonders im Zusammenhang der so genannten Patientenverfügung. Aber auch im normalen Leben muss man aufpassen, dass das Miteinander nicht zur Entmündigung führt. Schließlich gibt es viele infantile Formen, sich in der Abhängigkeit wohl zu fühlen oder im Herrschen über einen anderen den Samariter zu spielen.

Gerade die Begleitung muss hier selbstkritisch und aufmerksam sein. Wir dürfen nicht einfach unter gewöhnlichen Verhältnissen den Menschen die Entscheidung abnehmen. Dies kann nicht gemeint sein, wenn wir ein Stück weit mit anderen durch das Leben gehen. Ein wirksames Mittel, um den anderen zu selbstverantwortlichen Entscheidungen zu führen, ist der Rat, der gute Rat, die Beratung im besten Sinne des Wortes. Der Rat will den betreffenden Menschen nicht ohnmächtig machen oder zu einem Spielball degradieren. Er will den Menschen dazu befähigen, die verschiedenen Lebensmöglichkeiten zu entdecken und unter ihnen die eigene Richtung des Lebens zu wählen. Eine Beratung ist deshalb auch nur dann gut, wenn sie zu dieser Ertüchtigung führt und die Menschen nicht herrisch erniedrigt. Ein guter Rat muss das Gegenüber zu einer neuen Freiheit führen, ja manchmal diese erst wiederherstellen. So gehört zu dieser Begleitung auch, dass man den hilfsbedürftigen Menschen wieder, wenn dies möglich ist, zu sich selbst entlässt. Dann kann es ganz gut sein, wenn die Begleitung nur „ein Stück weit“ erfolgt. Es gibt schließlich gerade im Leben des endlichen Menschen immer wieder auch die Notwendigkeit, sich in den Einstellungen und Lebensgewohnheiten zu ändern. Das „Abschiedliche“, wie der Berliner Philosoph Wilhelm Weischedel immer wieder sagt, gehört zum Menschen. Dies bringt es mit sich, dass man den anderen, der mit einem geht, immer wieder auch loslassen können muss. Dies ist etwas ganz anderes als Gleichgültigkeit. Dies müssen wir spätestens beim Tod eines Mitmenschen ohnehin. Deshalb müssen wir auch schon jetzt im Leben immer wieder mit Abschieden rechnen.

VII.

Immer wieder kann man auch die Frage stellen, ob der Mensch fähig ist, ein Stück weit mit anderen zu gehen, ja andere geradezu mitzunehmen, besonders wenn dies alles zu schwer und kaum erträglich ist. Heute hören wir ja oft, dass dieses und jenes im Blick auf die Hilfsbedürftigkeit eines anderen unerträglich und unzumutbar sei.

Gewiss gibt es hier Grenzen des Erträglichen, die sicher individuell recht verschieden sind. Der Mensch darf sich dabei auch nicht übernehmen. Er bleibt in der größten Hilfsbereitschaft immer auch endlich und begrenzt. Die Ressourcen der Solidarität und der Liebe sind nicht unerschöpflich. Wenn der Mensch auf die Dauer sich auch nicht mehr um sich selbst sorgt, wenigstens indirekt, kann er in seiner wahren Identität tief geschädigt werden.

Aber im Menschen schlummern Kräfte, die oft verborgen sind, und die nur aufgeweckt werden müssen. Es sind nicht immer unsere Kräfte, aber sie leben in uns und können aktiviert werden. Dann sind wir zu viel mehr fähig, als wir oft denken. Wir dürfen uns also im Vertrauen auf diese oft schlummernden Kräfte oft mehr zumuten.

Es sind, wie gesagt, nicht immer unsere Kräfte allein. So führen uns z.B. nach der Überzeugung der großen Denker Europas die Tugenden an die Grenze des äußersten menschlichen Seinkönnens. Es steckt mehr in uns, als wir denken. Nicht selten spüren wir auch eine ermutigende Kraft, die nicht aus uns selbst erklärbar ist. Nennen wir sie einmal in unserer religiösen Sprache „Geist“ und „Gnade“. Sie sind oft die stillen Begleiter, so etwas wie ein spiritueller Kompass unseres Lebens, damit wir gerade auch in der Form der Hilfe auf dem rechten Weg bleiben.

Wir dürfen aber noch weitergehen. Wir sind auch in den abgrundtiefsten Stunden nicht mutterseelenallein. Wir verehren einen Gott, der nicht einfach jenseits der Menschenwelt und in absoluter Abgeschiedenheit, unberührbar und selig in sich selbst thront, sondern der sich gerade in seiner Andersheit tief zu uns niederbeugen kann und bei uns ist. Wir glauben an einen mitwandernden Gott, der von Anfang an – schon beim Auszug Abrahams aus seiner Heimat – mit uns geht. Ja, dies ist ja sein tiefster von ihm selbst geoffenbarter Name: Ich bin der Ich-bin-da, ich bin immer bei euch. Er kennt die verschiedenen Aufenthalte des Menschen. Er kennt auch die Wandlungen unseres Lebens und unserer Herzen. Er bleibt uns treu, wenn wir zu ihm hin offen bleiben und seine Gegenwart suchen. Wenn wir in seinem Geist uns um die Mitmenschen kümmern und sorgen, dann sind wir stärker, wirklich hilfreich und ermutigend mit anderen durch das Leben zu gehen. Wir sind dann unabhängiger von unseren Launen, unseren eigenen Bedürfnissen und manchmal auch unbewussten Wünschen. Wir sind dann wirklich, in Gottes Geist, ganz und gar für die anderen da. Die großen Zeuginnen und Zeugen der Liebe Gottes und Jesu Christi für unsere Welt erzählen durch ihr Leben von der Kraft dieser Gegenwart Gottes.

Das ganze Alte Testament ist ein einziges großes Zeugnis dieser Gegenwart Gottes bei den Menschen. Alle verschiedenen Sprachformen geben Aufschluss über die Vielfalt der Situationen, in denen Gott da ist, seien es Erzählungen, Sprichwörter des Volkes, Klagelieder. Gott nimmt uns an der Hand und nimmt uns dadurch, dass er immer bei uns ist, auch ein Stück weit unsere Lebensangst. Wir wissen, dass es lange brauchte, bis die Menschen auch fest glauben konnten, dass Gott in allen Lebenslagen, auch den elendesten, bei ihnen ist, so z.B. in der Krankheit und im Sterben. Diese Verheißung Gottes, immer, d.h. in allen Situationen des Lebens und Sterbens, bei Gott zu sein, ruft im Menschen auch ein dankbares Bekenntnis hervor: „Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit. Was habe ich im Himmel außer dir? Neben dir erfreut mich nichts auf der Erde. Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig. Ja, wer dir fern ist, geht zugrunde; du vernichtest alle, die dich treulos verlassen. Ich aber – Gott nahe zu sein ist mein Glück. Ich setze auf Gott, den Herrn, mein Vertrauen. Ich will all deine Taten verkünden.“ (Ps 73,23-28).

Dies wird vollends anschaulich und konkret bewährt im Leben Jesu Christi selbst. Dies kann hier nicht mehr eingehender dargelegt werden, obgleich es notwendig wäre. Er ist von Anfang an und durch alle Stationen seines Lebens, Leidens und Sterbens hindurch vom Vater gehalten. Er geht nicht nur ein Stück weit mit dem Sohn, sondern begleitet ihn auch in die letzten Finsternisse des menschlichen Lebens. Dies wäre genauer an dem Glaubensartikel über den Abstieg Jesu Christi in die Unterwelt/Hölle aufzuzeigen. Aber die ganze irdische Existenz Jesu ist ein einziges Mitgehen mit den Menschen und zu den Menschen. Er nimmt sich gerade derer an, für die niemand da ist, und mit denen keiner mitgeht. Denken wir nur an die unheilbar Kranken, die Ausgestoßenen und die Verachteten. Mit Recht sprechen wir heute von dieser grundlegenden „Option für die Armen“ (vgl. Jesu zentrale Botschaft zu Beginn seines öffentlichen Wirkens in Lk 4,16 ff. und Jes 61). Deshalb ist christliche Diakonie und Caritas in der Nachfolge dieses Jesus von Nazareth keine Angelegenheit am Rand christlicher Existenz, sondern führt tief hinein in das Geheimnis Jesu Christi und seiner Sendung in die Welt.

Dies müsste nun vielfach aufgezeigt werden am konkreten Leben Jesu. Eine der schönsten Geschichten stellt dabei die Wanderschaft Jesu Christi mit den beiden verzweifelten Jüngern auf den Weg nach Emmaus dar (vgl. Lk 24,13-35). Hier geht Jesus in exemplarischer Weise „ein Stück weit mit“. In diesem Unterwegssein geschieht dann auch, obgleich es nur ein Wegabschnitt ist, das Entscheidende für die beiden Jünger: Der Herr öffnet ihnen die Augen und führt sie durch das Verstehen der Schrift und das gemeinsame Mahl in das Geheimnis Gottes und seines eigenen Lebens. Sie verkünden es sofort den anderen Jüngern und auch den Völkern der Welt.

Nur so ist es auch schließlich verständlich, dass die Bibel des neuen Testaments sagen kann, dass Jesus selbst „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist (vgl. Joh 14,6). Darin erfüllen sich alle Erwartungen und Verheißungen im Blick auf den Weg des Menschen. Er lehrt oder zeigt nicht nur den Weg, er ist vielmehr der Weg. So ist er eben auch im Sinne des Hebräerbriefs der Anführer, Urheber und Vollender auf dem Weg des Glaubens (vgl. Joh 2,10, 6,20, 12,2). Im Anschluss daran ist es nicht verwunderlich, wenn in der Apostelgeschichte die christliche Gemeinde und besonders die Verkündigung als „der Weg“ (Apg 22,4), „der neue Weg“ (22,4), „der Weg des Heils“ (16,7), „der Weg des Herrn“ (18,25) oder „der Weg Gottes“ (18,26) bezeichnet wird. Der Weg des Christen ist darum vor allem auch ein Weg der Liebe (vgl. 1 Kor 12,31-13; 13).

Wir sprachen über ein „Werk der Barmherzigkeit“, eines von sieben Werken, die in der ganzen Geschichte des christlichen Glaubens eine große Bedeutung haben. Mit unserer Überschrift „Ich gehe ein Stück mit dir“ haben wir dies zunächst einmal in einfacher Sprache, ja in der Alltagssprache des heutigen Menschen zum Ausdruck gebracht. Zugleich hat es sich gezeigt, wie tief uns unsere Sprache, wenn wir ihr nur folgen, in die Tiefe des Glaubens führen kann. Außerdem entdecken wir, dass es viele Formen der Barmherzigkeit, manchmal auch in ganz säkularem Gewand, gibt. Es sind nicht nur die institutionellen Hilfen, die uns dabei einfallen. Dazu sind wir heute oft verführt. Wir haben aber eine große Chance, dass wir alle dieses Werk der Barmherzigkeit „Ich gehe ein Stück mit dir“ im Alltag unseres Lebens in die Tat umsetzen. Wenn wir uns nicht scheuen, unsere einfachsten Lebensvollzüge auf ihren Grund hin etwas zu durchleuchten und ihrer Dynamik folgen, dann können wir auch solche Worte und Werke wie „Barmherzigkeit“ auf neue Weise im unscheinbaren Alltag unseres Lebens frisch entdecken.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort - Das Original enthält eine Reihe von Fußnoten und Literaturhinweisen. 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz