„Ich will aufbrechen und zum Haus meines Vaters gehen" (Lk 15,18)

Predigt zur Österlichen Bußzeit im Hohen Dom Mainz am 3. Fastensonntag, 7. März 2010

Datum:
Sonntag, 7. März 2010

Predigt zur Österlichen Bußzeit im Hohen Dom Mainz am 3. Fastensonntag, 7. März 2010

Lesung: Lk 15,11-32

11 Weiter sagte Jesus: Ein Mann hatte zwei Söhne.
12 Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf.
13 Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.
14 Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land und es ging ihm sehr schlecht.
15 Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten.
16 Er hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab ihm davon.
17 Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen und ich komme hier vor Hunger um.
18 Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.
19 Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.
20 Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.
21 Da sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.
22 Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand und zieht ihm Schuhe an.
23 Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein.
24 Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.
25 Sein älterer Sohn war unterdessen auf dem Feld. Als er heimging und in die Nähe des Hauses kam, hörte er Musik und Tanz.
26 Da rief er einen der Knechte und fragte, was das bedeuten solle.
27 Der Knecht antwortete: Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn heil und gesund wiederbekommen hat.
28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm gut zu.
29 Doch er erwiderte dem Vater: So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.
30 Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet.
31 Der Vater antwortete ihm: Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein.
32 Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wie-der; er war verloren und ist wiedergefunden worden.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, wie man es meist heißt, gehört zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments, die sich vielen Menschen einprägen. Dazu hat die Kunst, besonders auch die Malerei, die Szene durch die Jahrhunderte hindurch eindrucksvoll festgehalten. Man denke nur an Rembrandt. Die Literatur hat sich nicht weniger mit dem Motiv befasst. Davon wird später noch die Rede sein.

Das Gleichnis besteht, wie man sehr rasch sieht, aus zwei relativ selbstständigen und geschlossenen Teilen, die aber doch eindeutig zusammengehören. Dabei sind die beiden Schlusstexte der Teile ziemlich gleichlautend. Am Ende des ersten Teils heißt es: „Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern." (24) Ganz in Entsprechung dazu heißt es am Ende an die Adresse des älteren Sohnes: „Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden." (32) Darauf kommt es offensichtlich an: Die Rückkehr und das Wiederfinden des verlorenen Sohnes.

Ein wenig müssen wir in die damalige gesellschaftliche und soziale Dimension der Menschen schauen. Es war zu dieser Zeit in Israel nicht selten, dass Menschen auswanderten und sich eine neue Existenz suchten. Immer wieder wird erzählt, damals hätte in Israel selbst eine hal-be Million Menschen, in den angrenzenden Ländern jedoch vier Millionen Juden in der Zerstreuung gelebt. Auch muss man sehen, dass das Gleichnis zurückhaltend ist gegenüber den Motiven des jüngeren Sohnes. Es ist zunächst ja nichts Besonderes, wenn der zweite Sohn im Blick auf die Situation der Zeit und des Landes auswandert und im Ausland eine neue Existenz gründen will. Zu schnell hat man in den Text Dinge hineingelesen, als ob es „Aufsässigkeit gegen den Vater" oder „der Wunsch, sich der Aufsicht des Elternhauses zu entziehen" gewesen sei, die den Sohn in die Fremde getrieben hätten. Palästina war ja durch häufige Hungersnöte heimgesucht und konnte das Volk Israel nicht ernähren. In diesem Sinne war Auswanderung an der Tagesordnung. Deshalb sind die Worte des jüngeren Sohnes an den Vater um Auszahlung auch nicht, wie manche Ausleger meinten, eine „freche Forderung": „Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf. Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land." (12f.)

Wir fragen bekanntlich heute intensiver, in welcher Situation ein solches Gleichnis bzw. eine Erzählung beheimatet und verwurzelte ist. Wir sprechen gerne vom „Sitz im Leben". Die moderne Exegese ist sich ziemlich einig, dass hinter der Szene der Einwand der Schriftgelehrten und Pharisäer, jedenfalls der Gegner Jesu, steht, er würde mit den Zöllnern und Sündern essen und habe Tischgemeinschaft mit diesen Verachteten. Ich würde daraus aber nicht den Schluss ziehen, der öfter behauptet wird, dass es nämlich Jesus primär um Verteidigung und Rechtfertigung des Evangeliums gegen seine Kritiker und Feinde geht. Dies braucht man nicht zu leugnen, aber ich würde dies nicht gegen eine Verkündigung und Darlegung des Evangeliums stellen. Beides gehört durchaus zusammen und kann wie zwei Seiten ein und derselben Medaille erscheinen.

Bei Lukas finden wir ohnehin ein großes Interesse an den Armen. Sie brauchen in besonderer Weise Hilfe (vgl. dazu auch Mk 2,17; Mt 21,28-31). Rasch kommt uns auch die Geschichte von den zwei Schuldnern ins Gedächtnis (vgl. Lk 7,41ff.): „Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm 500 Denare schuldig, der andere 50. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? Simon ant-wortete: Ich nehme an, der, dem er mehr erlassen hat. Jesus sagte zu ihm: Du hast recht." (7,41-43). Damit stoßen wir auf eine biblische Grunderfahrung. Wer um eine große Schuld weiß, der kann oft besser ermessen, was Güte ist. Ihm wird viel vergeben. Der Blick geht bei Lukas und in den Evangelien nicht aber bloß auf die Armen, sondern, wie schon erwähnt, auf die Kritiker (vgl. Mt 21,28ff.; Mk 12,1-9; Mt 22,1-10). Mit Recht wird auch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass am Ende nicht der verlorene Sohn, auch nicht der zornige ältere Bruder im Mittelpunkt steht, sondern der Vater. Deshalb wollten einige auch als Über-schrift des Gleichnisses wählen: „Gleichnis von der Liebe des Vaters".

Ich komme nochmals kurz auf das früher schon Gesagte zurück: Es ist eine Geschichte aus dem Leben. Der jüngere Sohn, der keinen Grund und Boden erben kann, sucht eine selbstständige Existenz. Er will eine Abfindung und sich auszahlen lassen. Dies setzt wohl voraus, dass er aus einer wohlhabenden Familie stammt. Die Aufteilung des Vermögens war in der damaligen Zeit erstaunlich genau geregelt.

Der jüngere Sohn macht nun ernst und packt alles zusammen. Aber in der Fremde geht so gut wie alles schief. Zuerst verbrasste er sein Vermögen in einem heillosen Leben. Als er alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über das Land und er begann Mangel zu leiden. Er sinkt herab auf die Stufe eines Tagelöhners; er gelangt hier auf die unterste Stufe. „Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er hätte gerne seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand gab ihm davon." (15,15f.) Hier muss man daran denken, dass das Schweinehüten für einen Juden verunreinigend wirkt. Es ist deshalb eine menschliche und auch religiöse Degradierung. Aber die Verelendung geht noch tiefer. Die Grobheit des Ausdruckes, das er sich am liebsten den Bauch vollgeschlagen hätte mit den Schoten, lässt ihn auf die Stufe eines Schweins absinken. Es sind ganz derbe Ausdrücke, die hier fallen. Tiefer kann dieser wirklich verlorene Sohn nicht fallen.

Da kommt die Wende: „Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um. Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner." (15,17-19) Vielleicht darf man das Wort, dass er „in sich ging" nicht von vornherein mit Buße gleichsetzen. Dies heißt jedenfalls, dass er seine bisherige Einstellung ändert und dass er sich über den künftigen Weg radikale Gedanken macht. So tut er das Naheliegende, nachdem er seine ausweglose Situation bedacht hatte: „Dann brach er auf und ging zu seinem Vater." Es ist ein tiefgreifender Entschluss, um das Leben zu ändern. Es gibt keine anderen Möglichkeiten mehr als die Rückkehr. Alle sonstigen Chancen sind verspielt. Er hat auch keine Hoffnung, wieder Sohn seines Vaters zu werden. Er ist so tief gesunken, dass die Rückkehr der letzte Ausweg ist. Er kann aber nicht mehr erwarten, als dass er einer der Tage-löhner bei seinem Vater wird.

Da geschieht ein regelrechtes Wunder. Der Vater lässt dem heimkehrenden Sohn gar keine Möglichkeit, sich in den Staub zu werfen und um Vergebung zu bitten. Ja es geschieht für einen Orientalen etwas ganz Unerwartetes, dass der Vater nämlich gar nicht auf seine Würde achtet, sondern ganz anders handelt: „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn." (15,20) Dies ist etwas Unerhörtes, denn der Sohn hatte ja alles verschwendet. Aber der Vater hatte immer an ihn gedacht. Deswegen sieht er ihn auch schon von weitem kommen. Er war-tet nicht auf ihn, er geht ihm entgegen, er tut den ersten Schritt, und dies gegenüber diesem wirklich im Abgrund verlorenen, elendiglichen Sohn. Jetzt verstehen wir auch, warum letztlich der Vater im Mittelpunkt des Gleichnisses steht. Er hat die entscheidende Stellung in dieser Geschichte.

Was dann folgt, ist eine unmittelbare Konsequenz, die aber doch nicht selbstverständlich ist. Der Vater fällt dem Sohn um den Hals und küsst ihn. Der Kuss ist Zeichen der Vergebung (vgl. 2 Sam 14,33). Der Sohn kommt gerade zu Wort und bekennt seine elende Situation: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein." (15,21) In der Tat hat der jüngere Sohn in der Fremde beides zerstört, nämlich das, was ihn mit seiner Familie verband; er hat aber auch die Gemeinschaft mit Gott zerstört, als er bei den Heiden seinen Glauben verlor. Deshalb hat er gegen den Himmel und gegen den Vater gesündigt.

Der Vater lässt den Sohn jedoch gar nicht ausreden. Er verwandelt die unausgesprochen gebliebenen Worte geradezu in das Gegenteil. Er behandelt nämlich seinen Sohn nicht wie einen Tagelöhner, sondern nun wird er wie ein großer Ehrengast empfangen. Es geht nicht um die Annahme des Heimkehrenden auf einer unteren Stufe. Es ist wiederum überraschend, was nun geschieht. Der Vater sagt zu seinen Knechten: „Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an." (15,22) In diesen drei Anordnungen (vgl. die Gestalt des Joseph in Gen 41,42) wird der Sohn wieder in seine früheren Rechte und seine Situation zurückgeholt. Das Festgewand ist nicht nur Zeichen der Achtung und Ehrung, wie sie im Orient immer wieder zum Ausdruck kommt. Der Sohn be-kommt sozusagen sein früheres Gewand zurück und ist wieder zu Hause. Der Ring, der wie ein Siegelring gesehen wird, bedeutet die Übertragung von Vollmacht. Er ist wirklich wieder Sohn des Vaters mit den Rechten, die daraus folgen. Schließlich die Schuhe: Der freie Mann trägt Schuhe, der Sohn soll nicht länger wie ein Sklave barfuß laufen. Man hat von der Re-Investitur des verlorenen Sohnes gesprochen und damit über das Mitleid des Vaters hinaus den Rechtsvorgang hervorgehoben, denn der Verlorene wird wieder voll und ganz in die Posi-tion des Sohnes zurückgeholt.

Dies ist Anlass zu großer Freude. „Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen es-sen und fröhlich sein." (15,23) Fleisch hat man damals nur selten gegessen. Für besondere Gelegenheiten wird ein Mastkalb vorgehalten. Seine Schlachtung ist ein Freudenfest für das ganze Haus. Es ist die Krönung der Heimkehr, wenn der Sohn wieder ganz und gar in die Tischgemeinschaft aufgenommen wird. Alle sollen öffentlich sehen, dass seine Stellung als Sohn wieder hergestellt wird.

Wie am Anfang schon gezeigt wurde, wird nun vom Vater, jeweils abschließend für den ersten und zweiten Teil des Gleichnisses der letzte Grund angegeben für das, was geschehen ist. Damit ist auch das eigentliche Thema des Gleichnisses erreicht: „Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. Und sie begannen ein fröhliches Fest zu feiern." (15,24) Zwei Bilder sind es, die der Vater hier vielsagend benutzt. Es sind Metaphern, die sehr sinnenfällig und konkret die erfolgte Wende zur Anschauung bringen. Dies ist die Auferweckung der Toten und das Heimbringen eines verirrten Tieres aus einer Herde. Der Sohn hat eine total neue Lebenschance erhalten, die mit dem Übergang vom Tod zum Leben verglichen wird. Die Freude des Wiederfindens kann man nur ermessen, wenn man an die Kostbarkeit des Wiederfindens eines verirrten Tieres und an die Überraschung dieses Fundes denkt. So weit reicht die Umkehr.

Ich will, wie eingangs schon gesagt, den zweiten Gipfel des Gleichnisses, nämlich die Ge-schichte mit dem Zorn des älteren Sohnes, hier nicht näher darlegen (vgl. die Predigt von Herrn Weihbischof Dr. Ulrich Neymeyr am kommenden Sonntag). Aber dies soll noch gesagt werden, dass nämlich auch hier der Vater hinausgeht zu dem älteren Sohn wie er dem Jüngeren entgegenlief, sodass sich die gleiche Gebärde der Liebe noch einmal wiederholt. Der Älteste kommt nicht zu kurz. Der ältere Sohn müsste sich eigentlich an der Freude des Festes beteiligen.

Jetzt antwortet Jesus, dem wir im Kern das Gleichnis zusprechen dürfen, auch seinen eigenen Kritikern, die ihm vorwerfen: Wie kannst du nur mit solchen Leuten feiern! Die Antwort Jesu lautet: Das Totgeglaubte, ja der Tote, das Verlorene ist gefunden, dies muss gefeiert werden. Wir wissen nicht, wie am Ende der ältere Bruder reagiert, ob er wirklich mitfeiert. Der Erzähler ist sehr geschickt, weil er im Grunde damit den Hörer und Leser aufmerksam macht und herausfordert, wie er sich denn entscheiden würde. Jesu Wort wartet auf unsere Antwort. Wie denken wir? Welchen Platz nehmen wir ein? Dies ist eine Frage auch für heute. Dies ist auch eine Aussage über Jesus selbst: Er beansprucht in seinem Handeln die Liebe Gottes zu dem umkehrbereiten Sünder zu verwirklichen. In noch etwas verhüllter Weise handelt er an Gottes Stelle.

Lukas unterstreicht noch einmal die Grundgedanken, indem er zwei andere Gleichnisse vom Verlorenen voranstellt, nämlich das Gleichnis vom verlorenen Schaf (vgl. 15,4-7) und von der verlorenen Drachme (vgl. 15,8-10). Das Finden des Verlorenen schafft Freude. Gott freut sich - dies ist die Mitte dieser Erzählungen - besonders über die Umkehr und Heimkehr jedes Menschen. Es geht Lukas um die Einladung, die Freude Gottes über die Umkehr eines Sünders zu teilen. Der Mensch ist dabei elementar herausgefordert. Er braucht wie der verlorene Sohn die Einsicht und den Willen zur Umkehr. Jede echte Vergebung setzt dies voraus. Jetzt erinnern wir uns auch daran, dass nach der Bibel Menschen mit großer Schuld besonders gut auch die unverdiente Güte Gottes verstehen. Letztlich kommt aber das Heil aller Buße zuvor.

Eingangs habe ich erwähnt, dass das Gleichnis in vieler Hinsicht in Kunst und Literatur ver-wendet worden ist. Es ist hier keine Möglichkeit, dies genauer aufzuzählen. Allein die Auto-rinnen und Autoren sowie die Titel belegen dies. Gustav Regler, Hans Sahl, Christine Busta, Robert Walser, Franz Kafka, Georg Trakl, Erich Fried und Marie Luise Kaschnitz, besonders aber auch André Gide und Rainer Maria Rilke haben sich immer wieder mit dem verlorenen Sohn - ein fester Titel - und mit dessen Heimkehr bzw. Rückkehr beschäftigt. Der Gedanke an das Fortgehen weckt in vielen modernen Lesern und Hörern des Gleichnisses den Gedan-ken an die zu gewinnende Freiheit, das Verlassen der Enge des Vaterhauses, der Gang in die Fremde, um ganz Neues zu erfahren, das Abschütteln von Traditionen und Normen, die - wie es scheint - diese Freiheit einschränken. Deshalb ist es auch sehr unterschiedlich, wie Heim-kehr verstanden wird. Manche Autoren, wie Kurt Marti, verweisen auch auf das Verlorensein im Wohlstand. Man kann auch „ganz oben", nicht nur bei den Schweinen und ihrem Futter, verloren sein.

Die christliche Wahrheit hält daran fest, dass es für jeden Menschen, mag er noch so tief ge-fallen sein, eine wahre Möglichkeit der Rückkehr gibt. Man ist noch nicht verloren, wenn man fällt. Aber es braucht die Entschlossenheit der Umkehr. Der Vater sieht alle schon von weitem und lässt sie nicht aus dem Auge. Er kommt uns entgegen. Dies ist etwas, was wir oft verges-sen haben. Wir pochen vor allem, wie der ältere Sohn, auf die Gerechtigkeit, die ja aber nicht selten Selbstgerechtigkeit ist und bleibt. Gott jedenfalls freut sich über die Umkehr aller, be-sonders der Sünder. In der Österlichen Bußzeit sollten wir daraus wieder gründlich lernen, dass Umkehr nicht zuerst und auch am Ende eine Sache der Trauer, sondern wahrer Freude ist. Dies gilt für alle Formen des Bekenntnisses von Schuld, für alle Gesten von Versöhnung und Vergebung, aber auch für Umkehr, Buße und Beichte. Wir müssen in diesen vielen For-men die Freude der Buße wiederentdecken, die tief zum Evangelium Jesu Christi gehört.

So ist Gott, so gütig, so voll Erbarmen. Darum dürft auch ihr nicht so freudlos, lieblos, un-dankbar und selbstgerecht sein. Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz