Judas in uns selbst

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 2. April 2010, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Freitag, 2. April 2010

Predigt im Pontifikalgottesdienst am Karfreitag, 2. April 2010, im Hohen Dom zu Mainz

Sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Schon am Anfang der Passion neben Petrus und Johannes steht eine Apostelfigur besonders auffällig da. Es ist Judas Iskariot, „einer der Zwölf". Er ist berufen wie die anderen aus dem Zwölferkreis, erscheint aber in den Apostellisten als Letzter. Manchmal trägt er auch den Namen „der Übergebende/Auslieferer" (Mt 10,4; 27,3; Joh 18,2.5) oder „der zum Verräter wurde" (Lk 6,16). Es ist ein häufiger und ehrenvoller Name. Der Beiname Iskariot (Mk 3,19 und Mt 10,4) kommt wohl von einem kleinen Ort Kariot in Judäa. So war er der einzige Jünger, der nicht aus Galiläa stammte.

Uns interessiert zunächst das Leben und Wirken des Judas. Er teilt sein Leben mit den anderen Jüngern (vgl. Mk 3,13-19). Gelegentlich wird eine Spannung zu Jesus erkennbar, z.B. bei der Salbung durch die Frau in Bethanien (vgl. Mk 14,3-9). Es gibt Anzeichen dafür, dass er unter den Zwölf die Aufgabe eines „Kassenwartes" hatte. Jedenfalls geht Judas zu den Hohenpriestern, um ihnen ihr Vorhaben, Jesus unauffällig zu verhaften, zu ermöglichen (vgl. Mk 14,10). Unauffällig sollte es sein, weil die Hohenpriester und Schriftgelehrten sagten: „Ja nicht am Fest, damit es im Volk keinen Aufruhr gibt." (14,2) Geldgier ist wohl nicht das Motiv des Judas. Wohl versprechen ihm die Behörden von sich aus eine Belohnung (vgl. 14,11). Beim Abendmahl ist Judas wieder dabei (14,20). Vieles, was zum volkstümlichen Bild des Judas gehört (z.B. „Judaskuss", vgl. 14,44f. und 2 Sam 20,9f.), lässt sich historisch nicht so gut belegen. Das Bild des Judas ist schon im Neuen Testament recht verschieden. In den jün-geren Schriften wird sein Bild immer schwieriger. So erscheint er bald als „Teufel" (Joh 6,70) und als „Sohn des Verderbens" (Joh 17,12). Dazu kommt eine eigene Überlieferung über den Tod des Judas durch verzweifelten Selbstmord (vgl. Mt 27,3-10) oder Sturz mit Todesfolge unter grausigen Begleitumständen (vgl. Apg 1,15-20). Es ist nicht leicht, jeweils den histori-schen Kern auszumachen. In der Folgezeit wird das Judasbild immer stärker ins Legendenhafte ausgemalt.

Wir können auch nicht mehr ganz klären, warum Judas Jesus ausgeliefert hat. Daraus ist dann die Geschichte des abscheulichen Verrates geworden. Die Evangelien nach Matthäus und Johannes unterstreichen ein Habgiermotiv. Aber es bleibt, wie gesagt, schwierig, rein histo-risch Genaueres festzumachen. Dafür gibt es auch zu viele Leerstellen, weiße Flecken in den biblischen Erzählungen. Aber vielleicht darf man doch daran denken, dass Judas möglicher-weise wie manche andere Sympathisanten von Jesus enttäuscht ist. Sie haben einen anderen Messias erwartet, einen vorwiegend politischen. Jetzt redet er aber vom Leiden und gar vom Sterben. Dies passt nicht zu den Hoffnungen, die besonders in jener Zeit die Zeloten (eine politische Richtung von „Eiferern", die auch Gewalt anwendeten) hatten. Jesus setzt sich ja immer wieder mit diesen falschen Hoffnungen auseinander. Er sagt damit auch jeder Gewalt ab, an der er schließlich selbst stirbt.

Jedenfalls steht hinter der Gestalt des Judas für das frühe Christentum auch die Enttäuschung über das Verhalten mancher aus den eigenen Reihen. Man macht die ernüchternde Erfahrung, dass Jesus nicht nur äußere Feinde hat, die ihm listig nachstellen und ihn fangen wollen. Es gibt auch die Schwäche der eigenen Leute. Vielleicht ist diese Enttäuschung noch größer als die Anfechtung von außen allein. Es bahnt sich ja manches schon zu Lebzeiten und erst recht in den letzten Stunden an. Jesus findet in der schwierigen Stunde auf dem Ölberg seine engs-ten Jünger Petrus, Jakobus und Johannes schlafend. „Simon, du schläfst? Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben. Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung geratet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach." (Mk 14,37) Schließlich findet er sie noch ein zweites und sogar ein drittes Mal schlafend (vgl. 14,40f.).

Wir können dies auch im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums sehen. Viele Jünger ver-stehen Jesus nicht mehr. Sie hatten eben auf eine andere Erfüllung ihrer vor allem politischen Hoffnungen gewartet. Gerade die eben gehörte Rede über die Eucharistie reicht ihnen: „Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß?" (Joh 6,60f.) Sehr deutlich wird dann in einem weiteren Schritt vermerkt: „Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde." (6,64) Es geht also nicht nur um Judas allein, sondern um manchen, der sich von Jesus löst, vielleicht sich einfach von der Gemeinschaft entfernt, sicht vielleicht - wie man sagt - still „verdrückt". So heißt es: „Daraufhin zogen sich viele Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher." (6,66) Jesus verschließt nicht einfach die Augen. Er nimmt die Absatzbewegung von ihm voll wahr. Ja, er stellt sich ganz und gar der Situation, indem er die Zwölf fragt: „Wollt auch ihr weggehen?" (6,67) Hier teilt sich im Sinne einer elementaren Entscheidung die Gruppe der Jünger. Petrus ist oft unzuver-lässig, schlafend, ja sogar den Herrn mitten im Prozess dreimal verleugnend (vgl. Mk 14,66-72), trifft aber hier mutig das rechte Bekenntnis zum Herrn: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du (allein) hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes." (Joh 6,68f.) Jesus weiß, dass auch aus der engsten Gruppe der Zwölf nicht alle ihm folgen: „Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn verraten: einer der Zwölf." (6,70f.) Was muss dies für eine grenzenlose Enttäuschung für Jesus sein, dass die Ablehnung, ja der Verrat, bis in die engste Gemeinschaft geht!

Dies ist nicht nur bei Jesus so. Auch Paulus erfährt in diesem Zusammenhang Schlimmes. Er hat auf seinen Missionsreisen viele schwere Situationen erfahren müssen. Die Leiden und Mühen des Apostels werden in regelrechten Listen von Unglückssituationen („Peristasenkataloge") zusammengefasst: „Ich ... war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr. Fünfmal erhielt ich von Juden die neununddreißig Hiebe; dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich Schiffbruch, eine Nacht und einen Tag trieb ich auf hoher See, ich war oft auf Reisen, gefährdet durch Flüsse, gefährdet durch Räuber, gefährdet durch das eigene Volk, gefährdet durch Heiden, gefährdet in der Stadt, gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet durch falsche Brüder. Ich erduldete Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, ertrug Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße." (2 Kor 11,23-27) Mitten in diesen schlimmen Erfahrungen steht etwas, was dem ers-ten Augenschein nach dort gar nicht so hinpasst, weil es ja sonst weitgehend um unmittelbar physische Bedrängnisse geht, nämlich die Gefährdung durch „falsche Brüder". Aber dies ist ein Verrat, der Paulus besonders schmerzt. Die falschen Brüder haben ja auch den Ruf des Paulus immer wieder schwer beschädigt. Manchmal können solche Dinge schlimmer sein als das verschlingende Meer (vgl. dazu auch Gal 2,4; 2 Tim 3,4; 4,14).

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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