Kirche als Volk Gottes, aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2010, im Mainzer Dom

Datum:
Freitag, 31. Dezember 2010

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester, 31. Dezember 2010, im Mainzer Dom

Lesung: Kol 3,12-17 | 

Oft sind wir beim Versuch eines Rückblicks geradezu gefangen von einzelnen Ereignissen, die uns aus verschiedenen Gründen besonders betroffen gemacht haben. So könnte man versucht sein, das zu Ende gehende Jahr 2010 aus dem Blickwinkel der Kirche fast ganz unter das Thema des sexuellen Missbrauchs zu stellen, das uns seit Januar in Atem gehalten hat. Ich werde darauf auch zurückkommen, aber die Chance einer solchen Besinnung am Ende des Jahres besteht gerade darin, dass wir den Blick auf eine ganze Kette von Erfahrungen richten, die uns oft schon wieder aus dem Gedächtnis entschwunden sind. Schon darum ist der Versuch einer Chronik zu begrüßen. Ich danke dem Bischöflichen Sekretär, Pfarrer Dr. Tonke Dennebaum, für die sorgfältige Auswahl.

Dabei gibt es nicht nur negative Ereignisse, die die ganze Welt tagelang beschäftigt haben. Ein positives Ereignis war z.B. die Rettungsaktion in Chile, die 69 Tage lang die Welt wirklich in Atem hielt. 33 Bergleute waren bei lebendigem Leib begraben. Es glich einem Wunder, als man schließlich den Kontakt zu ihnen aufnehmen und sie retten konnte. Die Rettung war nicht nur für die Bergleute ein Festtag, ja eine regelrechte Neugeburt, Zeichen der Hoffnung für die Welt inmitten vieler Katastrophen.

Wir dürfen auch in besonderer Weise dankbar sein, dass die Wirtschafts- und Bankenkrise, vor allem in unserem Land, erstaunlich gut gemeistert werden konnte. Dies ist keineswegs selbstverständlich, auch wenn manches noch nicht so nachhaltig geglückt ist. Schließlich hat uns die 20. Wiederkehr der deutschen Einigung noch einmal vor Augen geführt, was für ein unverhofftes Wunder wir damals erleben durften. Dies gibt uns Mut für heute.

In Mainz durften wir ein Ereignis von größerem Ausmaß und tieferer Bedeutung mitfeiern, die Einweihung der neuen jüdischen Synagoge im Herbst, die allein schon durch die architektonische Gestaltung von Manuel Herz inzwischen weltweite Beachtung erfahren hat. Für uns ist es eine Freude zu sehen, dass dadurch das jüdische Leben in einer der Städte, die über viele hundert Jahre eine so große Bedeutung für das Judentum hatten (die so genannten Schum-Städte am Mittelrhein: Mainz mit Worms und Speyer), wieder zur Blüte kommen kann. 

Alles menschliche Leben ist endlich und darum auch ambivalent, zwiespältig. Vieles ist geschehen, was Menschen ängstigte, zur Verzweiflung brachte und zum Tod führte. Wir haben in diesem Jahr, wie selten, auch bei uns die oft vergessene Macht der Natur erfahren, besonders durch die Überfülle von Schnee und Eis. Die wiederholten Naturkatastrophen in Haiti (Erdbeben im Januar) und besonders die Überschwemmungen in Pakistan (Sommer und Herbst) und nun in Australien haben uns die entfesselte Gewalt der Natur weltweit in Erinnerung gerufen. Nicht zuletzt erinnere ich auch an verschiedene starke Vulkanausbrüche, z.B. in Island und Indonesien, sowie die Katastrophe mit der Ölbohrinsel im Golf von Mexiko. Wir können nur hoffen, dass wir durch solche Erfahrungen, die uns die Medien jeden Tag ins Haus bringen, lernen und zugleich durch die Hilfeleistungen noch mehr zur Einheit und Solidarität der Menschheit geführt werden, aber auch wieder Demut lernen vor der Natur.

Nachdem die Kirchen in den USA und in Irland durch die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch schon seit einiger Zeit weltweit viel gelitten haben, hat eine Welle von Vergehen, die oft schon viele Jahrzehnte zurücklagen, auch die Kirche unseres Landes erschüttert. Ich will nun nicht alles wiederholen, was über ein ganzes Jahr die Medien und über sie die Menschen beschäftigte. Ich habe von Beginn des Jahres an über die Pfarrer und Pfarrgemeinderäte die Gemeinden informiert und auch mehrfach öffentlich die Stimme dazu erhoben (vgl. die FAZ vom 1.4.2010). Ich will nur einige Stichworte nennen: Wir hatten schon seit 2002 Verhaltensgrundsätze, die inzwischen aufgrund neuer Erfahrung überarbeitet wurden; vieles Unrecht ist jahrzehntelang von den Tätern und ihren Opfern verborgen worden; die entstandenen Schäden sind für manche Menschen unendlich viel größer, als man vorher je dachte; dieses Schweigen, vor allem auch der hartnäckig leugnenden Täter, macht jede noch so ernsthafte Verfolgung dieser Untaten äußerst schwierig, zumal es erst seit ca. zwei bis drei Jahrzehnten eine genauere Kenntnis der psychologischen Struktur z.B. der Pädophilie gibt; ich habe mich von Anfang an gegen den Vorwurf einer angeblich zum Teil auch bewusst geduldeten oder vorgenommenen „Vertuschung" gewehrt, wohl aber sind wir in nicht wenigen Fällen mit Anklagen und auch mit notwendigen Maßnahmen nicht mit dem nötigen Ernst und letzter Konsequenz vorgegangen. In vielen Fällen haben wir auch nichts gewusst. Es hat uns hart getroffen, wenn dadurch nicht wenige Menschen das Vertrauen zur Kirche und ihren Verantwortlichen verloren haben.

Es ist aber auch kein Generalurteil erlaubt. Jeden Tag haben wir im Bistum viele tausende Kontakte mit Kindern und Jugendlichen in Kindergärten, in den katholischen Schulen und in der Jugendarbeit in Gemeinden und Verbänden, ohne dass es über lange Zeit zu Anklagen gekommen ist. Ich möchte deshalb allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Einrichtungen ein herzliches Danke sagen für ihren sensiblen, korrekten und in den allermeisten Fällen auch taktvoll-liebevollen Umgang mit so vielen Kindern und Jugendlichen. Wir sind nun auch mit Präventionsmaßnahmen, die wir gemeinsam in der Bischofskonferenz verabschiedet haben, vorangegangen. Im Übrigen bitten wir darum, das Elend der Opfer in den zahllosen Fällen von sexuellem Missbrauch in den Familien und in vielen anderen Einrichtungen nicht aus den Augen zu verlieren. Fachleute sprechen von 80.000-120.000 Fällen. Hier darf es kein Vergessen geben. Nicht nur die Kirche, die ganze Gesellschaft darf nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Es gibt aber auch sehr vieles in der Kirche, wofür wir einmal danken wollen. So gibt es zwar manche Klagen über Misserfolge und gelegentlich wenig geglückte Versuche im Religionsunterricht, aber es gibt noch viel mehr Anlass, den zahlreichen Religionslehrerinnen und Religionslehrern in allen Schularten sehr herzlich für ihre beständige Sorge um eine gute Hinführung der Kinder und Jugendlichen zu Religion, Glauben und Kirche zu danken. Nicht weniger denke ich an Tausende von Mitarbeitern der Caritas, von den Sozialstationen über die Krankenhäuser bis zu den Beratungsstellen. Es sind insgesamt im Bistum 10.000. Hier geschieht wirklich Solidarität, Unterstützung und Ermutigung. Ähnliches gilt aber auch für alle, die sich in der Seelsorge und in unseren Räten auf Gemeinde- und Diözesanebene nachhaltig engagieren. In den Pfarrern und Kaplänen, in den Pastoralreferenten und Gemeindereferentinnen finden viele Menschen aufmerksame Gesprächspartner aus allen Lebensaltern, Männer und Frauen mit verschiedenen Ausbildungsgängen und persönlichen Begabungen. Ein besonders kostbares Geschenk sind uns die Ständigen Diakone: Im kommenden Jahr sind es seit den ersten Weihen im Bistum Mainz 40 Jahre. Wir danken besonders auch unseren Ordensgemeinschaften im Bistum, mit denen wir eng verbunden sind.

Gewiss gibt es immer wieder Anlässe zum Klagen über Verluste. Aber auch hier muss man mit einem präzisen Wissen und Augenmaß vorangehen. Es wurden in den Medien in letzter Zeit ungewöhnlich hohe Zahlen von Kirchenaustritten gemeldet. Man muss aber hier jede Region und jedes Bistum genauer betrachten. Bis Ende November 2010 waren es im Bistum Mainz ca. 4750 Kirchenaustritte, was ziemlich genau im Durchschnitt der Austritte in den vergangenen Jahren liegt und keine auffällige Erhöhung gegenüber den Jahren 2008 (5196) und 2009 (5143) darstellt. Wir hatten vor der Jahrtausendwende auch schon mal an die 8.000 Austritte, aber z.B. 2006 „nur" knapp 3.500 pro Jahr. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass wir im Bistum Mainz in diesem Jahr über 600 Wiedereintritte, Erwachsenentaufen und Konversionen hatten. Diese Zahl ist gegenüber 2009 unverändert. Es ist sicher der Fall, dass in manchen Diözesen, vor allem auch in Bayern (Augsburg), die Zahlen viel höher liegen. Wir müssen aber um eine differenzierte und gerechte Sicht dieser Probleme bitten. Ich danke sehr herzlich allen, die ihrer Kirche trotz der schwierigen Lage die Treue gehalten haben.
[Anmerkung Januar 2011: Diese Zahlen und Bewertungen beziehen sich, wie gesagt, auf die bis Ende November eingegangenen Meldungen aus einzelnen Gemeinden. Bis zum jetzigen Zeitpunkt im Januar 2011 stehen noch eine Reihe von Meldungen aus, so dass endgültige Angaben über die Höhe der Austritts- und (Wieder)-Eintrittszahlen sowie deren Evaluierung im Bistum Mainz erst im Laufe der kommenden Wochen möglich sein werden.]

Wir können insgesamt auch zufrieden sein mit unserer finanziellen Situation. 2010 konnten wir mit Dankbarkeit mehrere Bauten für die Jugendpastoral, für Ordensgemeinschaften und besonders auch für die Schulen vollenden. Wir müssen freilich im Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte allein schon aufgrund des demografischen Wandels mit einem Rückgang der Kirchensteuereingänge rechnen. Wir hatten über Jahrzehnte gute, steigende Einnahmen, sodass wir keine Kredite aufnehmen mussten und Versorgungsfonds und Rücklagen für die Zukunft gut anlegen konnten. Wenn es jetzt dennoch zur Einleitung von Sparmaßnahmen kommt, so hält sich dies in Grenzen und ist durchaus zumutbar. Wir müssen ohnehin von Zeit zu Zeit den Sinn, die Tragweite und den Erfolg unserer Aktivitäten selbstkritisch beurteilen. Dann gibt es auch Spielräume für Veränderungen. Wenig Sinn haben wir freilich für ein Phänomen, das man sehr oft antrifft: alle haben einen erklärten Sinn für die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen - aber ja nicht bei mir! Wir lassen uns dennoch immer wieder auf Gespräche und auch auf Korrekturen ein. Wir lassen uns auch gerne belehren.

Der Weg, auf dem wir diese Entscheidungen und Maßnahmen treffen, geschieht, wo immer dies möglich und sinnvoll ist, im Kontakt und im Dialog mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber ebenso mit zuständigen Experten. Für mich selbst ist vom Zweiten Vatikanischen Konzil, aber auch von der Struktur des Evangeliums her der Dialog die vorherrschende Form der Kommunikation auch in der Kirche. Ich habe dies von Anfang an immer wieder hervorgehoben (vgl. z.B. programmatisch „Vom Dialog als Form der Kommunikation und Wahrheitsfindung in der Kirche heute", in: Zuversicht aus dem Glauben, 205-219). Das gezielte und informierte Gespräch gibt die besten Grundlagen für Entscheidungen, die dann freilich auch - gelegen oder ungelegen - mutig, klar, rechtzeitig, verständlich und verantwortlich getroffen werden müssen. Insofern ist der „Dialogprozess", der von der Deutschen Bischofskonferenz als Weg zur Bewältigung der derzeitigen Krise empfohlen und gefördert wird, sehr wichtig, aber nach meiner festen Überzeugung nur eine Dimension des Weges der Kirche heute.

Dabei darf es nicht einfach auf einen beliebigen Dialog als Dauerveranstaltung und ständige Forderung nach ihm hinauslaufen. Wir kennen ja zu Genüge die üblichen sogenannten „Dialog"-Themen, die ich gewiss nicht abwerten will. Aber die ständige Berufung auf den Dialogprozess darf uns nicht davon abbringen, dass wir uns noch intensiver den inhaltlichen Voraussetzungen stellen, die heute gegeben sind. Sonst sind wir in Gefahr, dass wir uns mit einem weitgehend kircheninternen Dialog über kirchliche Probleme isolieren. Der Dialog allein ist kein Allheilmittel. Ich will auch deutlich sagen, dass ich dabei zwei Dinge vermeiden möchte. Einmal ist es das ewige Jammern über das verlorene Vertrauen. Zum anderen ist es die gebetsmühlenartige Wiederholung der Schuld, in die die Kirche wegen des sexuellen Missbrauchs gekommen ist. Wir haben genug und genügend klar zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche sehr erschrocken ist über diese Vorfälle, die eigene Unzulänglichkeit erfahren und eingesehen hat und dass sie erneut um Vertrauen bittet. So etwas wiederholt man nicht endlos, was übrigens auch für eine authentische Beichte oder ein klärendes Gespräch nach Konflikten zwischen einzelnen Menschen gilt. Eine Inflation des Dialogversprechens und der Schuldbekenntnisse macht uns am Ende bei wichtigen Partnern und Instanzen lächerlich. Es braucht in einem noch viel tieferen Sinne Erneuerung, Ehrlichkeit und Umkehr im biblischen Sinne. Hier hat dann auch ein ernsthafter Dialog seinen Platz.

Deswegen ist es unbedingt nötig, die Herausforderungen besser wahrzunehmen und zu benennen, die für die Kirche ausgezeichnete Felder des Zeugnisses und der Bewährung darstellen. Ich kann hier einige nur stichwortartig darstellen:

  • Immer noch gilt zuerst und zunächst die Vertiefung des Glaubens an Gott. Dies ist und bleibt die erste Voraussetzung aller Erneuerung, und zwar nach innen und nach außen. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung des Glaubens mit den zeitgenössischen Mentalitäten im Bereich der Kultur. Wir müssen immer wieder versuchen, die Mauern der Gott- und Transzendenzvergessenheit zu durchstoßen.
  • Alle Aussagen des Glaubens und besonders der Kirche müssen immer wieder nach einer doppelten Richtung überschritten werden: hin zu dem wahren Gott, der letztlich nur in Lob und Preis verstanden werden kann, und hin zu den Menschen, besonders in ihren Freuden und Hoffnungen, Ängsten und Nöten.
  • Viele Untersuchungen profaner Wissenschaften gehen davon aus, dass die in den letzten Jahrzehnten besonders praktizierte Einstellung eines hochgradigen Egoismus abgelöst wird durch die Epoche einer neuen Solidarität und eines vertieften Zusammenhalts der Menschen untereinander. Diese noch sehr verletzliche kleine Hoffnung muss von uns mit Vorrang gepflegt und gefördert werden.
  • In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, in welch breitem Maß die Menschen, jüngere und ältere, in der gelebten und geglückten Familie wohl den ersten Wert unter den menschlichen Gütern sieht. Dies gilt auch und besonders für die Jugend (vgl. Shell-Studie 2010). Die Familie ist wirklich Urzelle der menschlichen Gesellschaft und in dieser Bedeutung alternativlos. Es ist jedoch erschreckend, in welchem Maß „Familie" (heute oft identifiziert mit sehr verschiedenen „familialen Lebensformen") fast total abgekoppelt wird von Ehe. Es ist aber ein großer Irrtum zu glauben, dass man die Institution „Familie" auf die Dauer ohne die tragfähige Beziehung der Ehe aufrechterhalten kann. Deshalb brauchen wir in Kirche und Gesellschaft eine riesige Anstrengung, diesen inneren Zusammenhang zwischen Ehe und Familie neu zur Überzeugung zu bringen (vgl. auch Grundgesetz Art. 6,1). Freilich müssen wir uns dann auch noch mehr bemühen, den Eheleuten, die in einer ersten Beziehung gescheitert sind, ihren bleibenden Ort und ihre heilende Heimat in der Kirche aufzuzeigen (nicht zu schnell und zu früh verengt auf die bloße Kommunionzulassung wiederverheirateter Geschiedener).
  • Eine elementare Aufgabe der Kirche besteht immer noch im theoretischen und praktischen Einsatz für das verletzliche Leben am Anfang und am Ende menschlicher Existenz. Fragen wie der Lebensschutz des ungeborenen Kindes und der so genannten „Sterbehilfe" werden uns auch künftig in Atem halten. Ich beziehe mich zunächst nur auf die Urteile des Bundesgerichtshofes zu diesen Fragen im Jahr 2010 („aktive Sterbehilfe" und „Präimplantationsdiagnostik", PID). Es wird auch die Frage sein, wie weit wir hier den über Jahrzehnte möglichen bioethischen Konsens mit der evangelischen Schwesterkirche retten können, wie es uns zur Zeit Gott sei Dank durch die gemeinsame Vorlage eines Textes zur Patientenvorsorge gelungen ist. „Netzwerk Leben" steht jedenfalls ganz vorne auf der Tagesordnung auch des kommenden Jahres.
  • In unserer Gegenwart geht es immer wieder um die Religionsfreiheit und den Schutz des Glaubens in aller Welt (vgl. auch die Friedensbotschaft von Papst Benedikt XVI. zum 1.1.2011). Diese ist auch ein kostbares Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Kirche. Dann dürfen wir aber ebenso nicht verkennen, dass es heute in vielen Teilen der Welt eine außerordentlich große Verfolgung von Christen gibt, die von uns viel zu wenig beachtet wird. Manche meinen, noch nie seien so viele Christen verfolgt worden wie heute. Hier müssen wir ganz neue Horizonte im Einsatz für die Weltkirche gewinnen. Ich möchte vor allem die bedrängte Lage der Christen im Nahen und Mittleren Osten nennen, nicht zuletzt im Irak (Sonderbischofssynode in Rom im Oktober), aber auch in China. Nicht vergessen möchte ich außerdem die Opfer in Nigeria. - An dieser Stelle möchte ich aber auch unsere Aufmerksamkeit auf die Frauen und Männer in der Bundeswehr und in der Polizei sowie im Entwicklungsdienst richten, die sich außerhalb unseres Landes für Versöhnung, Frieden und Wiederaufbau einsetzen, vom Kosovo bis zu Afghanistan. Ich denke zugleich auch mit nicht geringerer Dankbarkeit an die Schwestern und Brüder in den Missionen.

Für die Erneuerung und die Umkehr ist es gut, wenn wir auch künftige Ereignisse auf verschiedenen Ebenen bedenken. Von 2012 bis 2015 feiern wir das 50. Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils. 1971-1975 hatten wir in Würzburg die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland und die Dresdener Synode in der DDR. Wir müssen uns ganz neu die wichtigsten Aussagen dieser Kirchenversammlungen wieder lebendig vergegenwärtigen. Zugleich gehen wir mit den protestantischen Kirchen, die dies schon seit einigen Jahren vorbereiten (Reformationsdekade), auf das 500-jährige Jubiläum der Reformation von 1517 zu. Es wird nicht leicht sein, gemeinsam dieses Ereignis zu bewerten.

Auf diesem Weg werden wir auch auf der Ebene unseres Landes manche Chancen im Sinne von Zwischenzielen und Etappen haben: der Besuch von Papst Benedikt XVI. in unserem Land im September 2011, der nächste Katholikentag in Mannheim im Jahre 2012 und die schon genannten Jubiläen zum Konzil und zur Reformation.

Aber auch auf der Ebene des Bistums haben wir wichtige Gedenktage: Nach den Feierlichkeiten „1000 Jahre Willigis-Dom" kehrt im Februar 2011 der 1000. Todestag des großen Erzbischofs Willigis wieder, für uns nicht nur verbunden mit dem Dom, sondern auch mit dem Stift und der Kirche St. Stephan. Außerdem begehen wir am Ende des kommenden Jahres, vorbereitet durch mehrere Veranstaltungen, den 200. Geburtstag des großen Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (25.12.1811). Wir denken dabei nicht nur an die großen Impulse, die weltweit von ihm für das soziale Leben ausgingen, sondern auch an die Anstöße im Blick auf die Freiheit der Kirche in der modernen Welt und an Kettelers wichtige seelsorglichen Initiativen. Eine Ausstellung zur Geschichte des Mainzer Domes in den Jahrhunderten zwischen Willigis und Ketteler wird gewiss ein besonderes Glanzlicht des neuen Jahres.

Diese vielen Impulse wollen wir gemeinsam auch fruchtbar werden lassen im Zusammenhang der im kommenden Jahr anstehenden Wahlen zu den pastoralen Räten in den Pfarreien und auf Bistumsebene. Auch die Fortsetzung der Reihe unserer Bistumsfeste im Mai wird uns gute Gelegenheit dazu bieten.

Ich bin also der Meinung, dass wir nach den schwierigen Erfahrungen dieses Jahres uns nicht innerkirchlich vergraben und hauptsächlich einen innerkirchlichen Dialogkurs fahren dürfen, sondern dass wir die Sendung und das Zeugnis unseres Glaubens auch und gerade für unsere Zeit und in die Welt hinein mutig und entschieden auf uns nehmen. Dabei können wir unseren Zeitgenossen zeigen, dass die großen Schätze unseres Glaubens auch für die vielen Rätsel des heutigen menschlichen Lebens taugen und uns selbst und anderen viel Freude bereiten können, wenn wir uns darauf einlassen. Ganz im Sinne des Mottos, das wir für das Bistumsfest des kommenden Jahres aus dem Ersten Petrusbrief ausgewählt haben: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonders Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat." (2,9 mit Ex 19,5f.; 23,22; Jes 43,20f.).

Ganz herzlich möchte ich Ihnen allen und den vielen Schwestern und Brüdern im Bistum Gottes Segen im Jahr 2011 wünschen, aber auch nochmals danken für Ihr Engagement und für Ihre Treue.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz