Leben im Alter

Eine kurze biblische Besinnung anlässlich des 65. Geburtstags in der Vesper

Datum:
Mittwoch, 16. Mai 2001

Eine kurze biblische Besinnung anlässlich des 65. Geburtstags in der Vesper

"Österliches Abendlob" am 16. Mai 2001 im Hohen Dom zu Mainz

Wir haben zuerst in der kurzen Lesung einen Auszug aus der bekannten Emmaus-Geschichte gehört (vgl. Lk 24,28-32). Es ist der Weg des Glaubens der beiden Jünger mit dem zunächst unerkannten Herrn, Sinnbild auch für den Lebensweg des Menschen. Wir sind Wanderer zwischen zwei Welten und Pilger auf den staubigen Straßen dieser Welt. Man kann auch ein wenig den Wechsel der Lebensalter in dieser Geschichte mithören, wenn sie langsam an das Ziel ihres Weges kommen. "Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt." Das Alter wird nicht zufällig mit dem Lebensabend in Beziehung gesetzt. Mit ihm beginnt auch das Sichneigen des Tages, nämlich des aktiven und geschäftigen Lebens.

So mag es gut sein, einmal in die Bibel hineinzuhören, was Sie uns denn über das Leben im Alter erzählt. Wir reden ja nicht so gerne darüber. Wer will schon heute alt sein. Um so besser, wenn uns jemand von außen her dazu etwas sagt.

 

1. Das Neue Testament

Für uns als Christen ist es naheliegend, den Ausgang für eine biblische Reflexion über das Alter beim Neuen Testament zu nehmen. Aber hier werden wir im ersten Augenblick enttäuscht sein, denn das Neue Testament kommt nur selten auf den alten Menschen und das Alter im physischen Sinne zu sprechen.

(Wertvolle Hinweise auf die biblische Sicht des alten Menschen finden sich bei: H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 177-189; L. Ruppert, Der alte Mensch aus der Sicht des Alten Testaments, TrThZ 85 (1976) 270-281; J. Scharbert, Das Alter und die Alten in der Bibel, Saec 30 (1979) 338-354; Ders., Alter, in: Neues Bibel-Lexikon I, Zürich 1991; W. Schottroff, Alter als soziales Problem in der hebräischen Bibel, in: F. Crüsemann – C. Harmeier – R. Kessler (Hrsg.), Was ist der Mensch...? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS Hans Walter Wolff), München 1992.).

Offenbar verliert das Alter durch das Evangelium Jesu Christi an Gewicht: Wo alle durch die Taufe Jesus Christus gleichförmig geworden sind, verlieren mit den Standes-, Rassen- und Geschlechtsunterschieden (vgl. Gal 3,26-28) auch die Atersunterschiede letztlich ihre Heilsbedeutung. Das neue Leben des vom Tod auferweckten Herrn lässt alles in einem neuen Licht sehen. Daher werden der alte Mensch und das Alter im Neuen Testament oft nur noch in einem übertragenen Sinne genannt, so z.B. in Röm 6,6: "Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben." (Vgl. auch Eph 4,22 und Kol 3,9) Nachdem die Christen durch die "Wiedergeburt" der Taufe geschritten sind, hat das Altwerden der vorläufigen, irdischen Existenz zwar keine Abwertung, aber eine starke Relativierung erfahren. Die Neuheit des Christentums ist viel herausfordernder als unsere rein menschlichen Unterschiede von alt und jung. Diese Relativierung dispensiert die junge Generation aber keineswegs von der den Alten zu erweisenden Hochachtung, wie die Ermahnungen in den Haustafeln der Pastoralbriefe bezeugen (vgl. z.B. 1 Tim 5,1-8). Hier steht das Neue Testament ganz und gar in der Tradition der alttestamentlichen Familienordnung.

Wirklich herausragende alte Gestalten begegnen uns in diesem Kontext nur auf der Schnittstelle vom Alten zum Neuen Bund. Da sind zunächst Zacharias und Elisabeth (Lk 1,5ff). Auch in ihrer Frömmigkeit und Gottesfurcht bleiben sie bis ins hohe Alter kinderlos und werden dann doch noch in ihrer späten leiblichen Fruchtbarkeit zu Trägern einer großen göttlichen Verheißung. Hierin sind sie verwandt mit vielen alttestamentlichen Gestalten, allen voran Abraham und Sara. Ebenso weisen Simeon und Hanna (Lk 2,25ff) in die alttestamentliche Tradition zurück, ja sie können geradezu als Exponenten der alttestamentlichen Heilserwartung bezeichnet werden: In ihnen wartet das Volk des Alten Bundes der Erfüllung der göttlichen Verheißungen entgegen. Ihr physisches Altsein ist Symbol dieses weisen, geduldigen, hoffnungsvollen Ausschauens nach dem Kommen Gottes, der wirklich allein etwas ganz Neues bringt

 

2. Das Alte Testament

Schon im Blick auf das Neue Testament wurde deutlich, dass der Reichtum biblischen Sprechens über das Alter in den Schriften Israels zu suchen ist. Die Aussagen des Alten Bundes über den alten Menschen werden vom Neuen Testament, wie wir sahen, zwar relativiert, aber durchaus als gültig vorausgesetzt.

Wo die Auferstehungshoffnung von der Heiligen Schrift noch nicht oder nur sehr verhalten zum Ausdruck kommt, hat die Hoffnung auf ein langes Leben und der Wunsch, im eigenen Lebenswerk und vor allem in den Kindern und Kindeskindern fortzuleben, eine umso größere Bedeutung: "Eine Krone der Alten sind Kindeskinder; der Kinder Ruhm sind ihre Väter." (Spr 17,6) Insbesondere der spät in Erfüllung gegangene Kinderwunsch gilt als großer Gnadenerweis und Eingriff Jahwes, wo menschlich schon nichts mehr zu erhoffen war (vgl. z.B. Gen 18,9ff).

Oft werden alte Menschen dargestellt als diejenigen, die aufgrund von Erfahrung weise geworden sind. Sie stellen die Urform der Autorität dar, begründet durch Erfahrungs- und Wissensvorsprung. Gerade darum sollen auch die jungen Menschen ihnen Ehrfurcht entgegenbringen und Ehre erweisen. Geschieht dies nicht, werden z.B. Eltern von ihren Kindern entehrt oder misshandelt, dann kennt das Alte Testament für uns heute fast unvorstellbar drastische Strafen: "Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, wird mit dem Tod bestraft." (Ex 21,15) Diese Verpflichtung zur Ehrfurcht gilt nicht nur für das Verhältnis der Kinder gegenüber den Eltern (vgl. Ex 20,12), sondern der gesamten älteren Generation gegenüber: "Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürchten." (Lev 19,32)

Symbol für das ehrwürdige Alter sind die grauen Haare. Ist Körperkraft der Schmuck der jungen Menschen, so sind graue Haare eine Zierde für den alternden Menschen. "Graues Haar ist eine prächtige Krone, auf dem Weg der Gerechtigkeit findet man sie." (Spr 16,31) "Der Ruhm der Jungen ist ihre Kraft, die Zier der Alten ihr graues Haar", heißt es zusammenfassend (Spr 20,29). Aus diesem Loblied auf die von uns heute oft nicht gerade geschätzten grauen Haare spricht die Erfahrung, dass der Rückgang der körperlichen Schönheit oft mit dem Wachstum der inneren Reife des Menschen einhergeht.

Trotz dieser grundsätzlich positiven Deutung der letzten Lebensphase kennzeichnet das Alte Testament das Altsein durchaus realistisch auch mit seinen Schattenseiten. So wird nüchtern aufgedeckt, wie mit fortschreitendem Alter die Kräfte, die Sinne und Lebensäußerungen schwach und schwächer werden.( Zu denken ist etwa an die wunderbare Allegorie über das Alter Koh 12,1-8) Und das einzige Klagelied (Ps 71), das eindeutig die Perspektive eines alten Menschen vor Gott spiegelt, benennt nicht nur das Schwinden der körperlichen Kräfte des alten Menschen, sondern vor allem seine Angst, von Gott und den Menschen verlassen zu sein: "Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin, verlass mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden. Denn meine Feinde reden schlecht von mir ... Auch wenn ich alt und grau bin, o Gott, verlass mich nicht." (Ps 71,9f. 18)

Sicher steckt hinter solchen Befürchtungen alter Menschen oft genug die Erfahrung, statt der gebührenden Achtung Rücksichtslosigkeit erlebt zu haben und wegen der körperlich-geistigen Schwachheit verspottet worden zu sein. Solche Erbarmungslosigkeit gegen alte Menschen ist für Israel Anzeichen eines gottlosen Volkes: "ein Volk mit unbeweglichem Gesicht, das sich dem Greis nicht zuwendet und für das Kind kein Mitleid zeigt" (Dtn 28,50). Die Qualität einer Gesellschaft lässt sich nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift also nicht zuletzt daran messen, ob sie Sinn, Verständnis und Ehrerbietung aufbringt gegenüber jungen und alten Menschen. Anfang und Ende des menschlichen Lebens sind exponierte Situationen, in denen sich die ganze Situation des Menschen zeigt, aber uns auch dabei herausfordert und auf die Probe stellt.

Gerade hier darf jedoch nicht vergessen werden, dass Israel zwar keinen Kult der Jugendlichkeit zulässt, dass es aber genauso wenig das Alter um des Alters willen absolut setzt. So ist die Frage "Findet sich bei Greisen wirklich Weisheit, und ist langes Leben schon Einsicht?" durchaus legitim (Ijob 12,12) Die Bibel verdrängt die Erfahrung nicht, dass alte Menschen auch ausgesprochen unklug, verbohrt und starrköpfig sein können. Auch die Alten haben keine Garantie für Weisheit und Einsicht. Nicht das physische Alter alleine macht den Menschen letztlich zum Weisen, genauso wenig wie Reichtum und Erfolg schon in sich Anzeichen eines gelungenen Lebens sind: "Besser ein junger Mann, der niedriger Herkunft, aber gebildet ist, als ein König, der alt, aber ungebildet ist - weil er es nicht mehr verstand, auf Ratschläge zu hören." (Koh 4,13) Dies sind erstaunliche Aussagen in einer Zeit, wo wir immer meinen, der Patriarchialismus wäre ganz selbstverständlich. Die Berufung auf das Alter allein ist bei aller Rücksicht und Ehrfurcht gerade im Judentum und Christentum noch keine selbstverständliche Instanz.

Alter ist also nicht schon ein Wert in sich; es geht um etwas anderes. Die Armut des Menschen vor Gott, das Wissen um seine Bedürftigkeit und um die Notwendigkeit, das Entscheidende von Gott her zu erhalten, macht den alten Menschen erst reich. Das Alter ist letztlich nur dann wirklich weise, wenn es fähig wird, das Leben wieder in die Hände Gottes zurückzulegen. Wo es zur schrittweisen Übereignung an Gott wird, ist Altern - mit all seinen Gebrechen - das Gegenteil des Scheiterns. Wer rechtzeitig seine Grenzen erkennt und anerkennt, ist wirklich weise und verdient höchste Anerkennung, so etwa der achtzigjährige Barsillai, der sich nicht scheut, alle seine altersbedingten Schwächen zu benennen.

 

Zum Schluss

In allen diesen Aussagen erweist sich die Heilige Schrift als nüchtern und realistisch im Blick auf das Leben im Alter. Die Doppelgesichtigkeit dieser Lebensphase, in der Schwäche und Größe, Torheit und Weisheit, Eigensinn und kluge Zurückhaltung so dicht beieinander liegen, wird nicht verleugnet. Dabei kennen Altes und Neues Testament nicht nur allgemeine Aussagen über den alten Menschen, sondern mehr noch schildern sie konkrete Menschen in ihrer Kraft und Stärke, aber auch in der Schwäche ihres Altseins: Isaak (Gen 27,21), Jakob (Gen 48,10), Eli (1 Sam 3,2), Mose (Dtn 34,7) und - nochmals zu erwähnen - Zacharias und Elisabeth, Simeon und Hanna. Sie alle sind in ihrem Alter Menschen, die so weise sind, dass sie ganz dem Kommenden entgegenharren und nicht nur nach rückwärts schauen. Dieses Leben in den Erinnerungen - an sich ein Reichtum des alten Menschen - kann ihm ja auch zum Hindernis werden, sich nach dem Kommenden, vor allem nach dem kommenden Herrn auszustrecken.

Dies sollte nur eine knappe Erinnerung sein, was uns die Bibel zum Alter und zu den alten Menschen sagt. Wir spüren von selbst, welche Lebensweisheit aus diesen Zeugnissen spricht und was wir daraus lernen können. Im Antlitz des alten Menschen können wir wieder neu das Gesicht und das Bild des Menschen überhaupt entdecken. Wir hätten viel gelernt für den Umgang mit Leben und für unsere Sorge um die alten Menschen, wenn wir neu wahrnähmen, wie sehr sich uns gerade im alten Menschen das Geheimnis jeden Lebens offenbart.

Wir gingen aus von der Emmaus-Geschichte. Jesus verlässt die beiden enttäuschten Jünger nicht, als es Abend wird. Im Gegenteil, es heißt vielmehr: "Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben." (Lk, 24,29) Das "Bei-Ihnen-Bleiben" ist auf unserem Lebensweg entscheidend. Gott verlässt uns nicht, auch wenn wir ihn immer wieder suchen müssen. Seine Gegenwart in allen Lebensphasen, auch und gerade im Alter, ist das schönste Geschenk gerade auch für ältere Menschen.

© Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz