Lehmann bei Wormser Feierlichkeiten zum Reformationstag

Grußwort des Mainzer Bischofs / Auftakt des Themenjahrs „Reformation und Toleranz"

Datum:
Mittwoch, 7. November 2012

Grußwort des Mainzer Bischofs / Auftakt des Themenjahrs „Reformation und Toleranz"

Worms. Mit einem Festgottesdienst und einem Festakt in der Wormser Dreifaltigkeitskirche haben die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am Mittwoch, 31. Oktober, den Reformationstag begangen. Nach dem Gottesdienst hat der Stellvertretende Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Jochen Bohl (Dresden), das von der Evangelischen Kirche ausgerufene „Jahr der Toleranz 2013" im Rahmen der Reformationsdekade der EKD eröffnet. Neben dem Festvortrag von Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich haben der Mainzer Bischof, Kardinal Karl Lehmann, und der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck Grußworte gesprochen. Im Folgenden dokumentieren die Mainzer Bistumsnachrichten vom 7. November 2012 die Rede von Kardinal Lehmann im Wortlaut:

Das Themenjahr 2013 „Reformation und Toleranz" hat im Gesamtzusammenhang der Reformationsdekade bis 2017 auch ökumenisch eine große Bedeutung. Wenn man an der Lutherstätte Worms ist, kann man nicht die Bedeutung des Auftritts Luthers 1521 für unser Thema übersehen. Schließlich bezieht er sich beim Widerstand gegen den verlangten Widerruf auf die Unverletzlichkeit des Gewissens: „Und so lange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helf mir! Amen." (Modernisierte Form bei F. Dieckmann, Geschichte in Quellen: Renaissance, Glaubenskämpfe. Absolutismus, Bd. 3, München 1966, Nr. 50, S. 119ff.) Es ist das prägende Wort für die protestantische Tradition bis heute geblieben. Es ist ein „Schlüsseltext des Protestantismus" (Bernd Moeller), das gewiss einen zentralen Baustein im neuzeitlichen Verständnis der Toleranz ausmacht. Insofern ist auch Worms der richtige Ort für die Eröffnung dieses Themenjahres.

In der Lutherforschung der vergangenen Jahrzehnte und Jahre ist aber deutlich geworden, dass dieses Wormser Bekenntnis in der geläufigen Form „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir" zwar weitreichende Anstöße für die moderne Toleranz gegeben hat, aber nicht verdecken kann, wie mühsam und schwierig das Durchsetzen einer allgemeinen Toleranz gerade auch durch Luthers eigenständiges Denken gewesen ist. Es gibt gewiss Anhaltspunkte, die die moderne Entwicklung förderten. Ein Leben lang war für Luther wichtig, dass Glauben sich nicht zwingen lasse. Jede Gewalt um des Glaubens willen lehnte er ab. Aber er war, gestärkt durch die Erfahrungen des Bauernkrieges und des zunehmenden Widerstandes gegen das Wittenberger Reformationsmodell, von der inneren Notwendigkeit einer uneingeschränkten kirchlichen und glaubensmäßigen Einheitlichkeit überzeugt. Dies verband ihn mit dem bisherigen, „alten" Denken. Dies zeigte sich ganz besonders in Luthers Haltung gegenüber den Türken, „Papisten", Täufern und besonders in den späten Judenschriften. Der ausschließliche Wahrheitsanspruch trieb Luther auch dazu, bei den weltlichen Autoritäten Vertreibung durchzusetzen, gewiss nicht durch Feuer oder Schwert wie bei anderen religiösen Führern der Zeit. Aber es bleibt bei dem, was Heinz Schilling in seiner Luther-Biografie (Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012) so formuliert: „Luther war Toleranz in modernem Sinne fremd. Eine Pluralität religiöser Wahrheit konnte er sich nicht vorstellen." (S. 627) Dies hängt nicht nur mit seinem prophetischen Selbstbewusstsein zusammen. Vielmehr gilt: „Von Pluralismus im modernen weltanschaulichen Sinne war auch das multipolare Europa der Konfessionen noch weit entfernt. Der von Luther angestoßene Prozess religiös-weltanschaulicher Differenzierung konnte erst nach weiteren schweren Kämpfen in den modernen Pluralismus münden... In der modernen Welt sind Politik und Religion getrennt, für den Reformator in dieser Form undenkbar, aber dennoch eine Konsequenz seiner Reformation." (S. 629) Gewissensfreiheit musste sich mehr und mehr auch und gerade für Andersdenkende und Fremde durchsetzen. Man denke auch an das Verhältnis zu den Calvinisten. „Gleichwohl hat seine ganz anders motivierte Rebellion gegen den exklusiven und autoritären Wahrheitsanspruch der kirchlichen Hierarchie dazu beigetragen, der neuzeitlichen Toleranz und dem modernen Pluralismus den Weg zu ebnen." (S. 630)

Diese allgemeine Religionsfreiheit musste sich mühsam durchsetzen. Gerade der christliche Glaube konnte seinen Wahrheitsanspruch nicht einfach preisgeben. Die im 19. Jahrhundert durch eine gewisse Spielart des extremen Liberalismus gestützte Verneinung allgemeingültiger Wahrheitserkenntnis machte eine gute Lösung noch schwerer. So hat man lange gerungen, um die Verbindung von Wahrheit und Freiheit zu finden. „An die Stelle des Rechts der Wahrheit ist ohne Einschränkung das Recht der Person getreten, womit ein Grundprinzip neuzeitlichen Freiheitsdenkens aufgenommen und anerkannt wurde." (E.-W. Böckenförde, Recht, Sittlichkeit, Toleranz, Ulm 2001, S. 66) Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der lange umkämpften Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae" - es ist eine der letzten Entscheidungen am 7. Dezember 1965 - diesen Schritt vollzogen: Wahrheit und Freiheit sind so miteinander verknüpft, dass Religionsfreiheit nicht gegen die Wahrheit, sondern um der Wahrheit willen als Recht besteht. Es bleibt darum auch der Wahrheitsanspruch des Glaubens und die Verpflichtung des Menschen, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen.

Wir sind dabei, diese spannungsvolle Einsicht über die Zuordnung von Recht und Freiheit zu realisieren. Dabei dürfen wir nicht nur an unsere innerchristliche Ökumene denken, sondern dieses Wort gilt auch im Blick auf den notwendigen Dialog mit den anderen Religionen und die Situation in vielen Ländern der Erde. Dies schließt die Bereitschaft ein, in dem, was mir als das Fremde begegnet, Wahrheit zu suchen, die mich angeht und mich weiterführen kann.

Dies ist wohl eine authentische ökumenische Aufgabe, die uns gerade auch im Themenjahr „Reformation und Toleranz" noch mehr zu eigen werden muss, recht geeignet im Themenjahr und beim Konzilsjubiläum.

(MBN)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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