Lob der Normalität

Gastkommentar in der Kirchenzeitung von Oktober

Datum:
Samstag, 18. Oktober 2003

Gastkommentar in der Kirchenzeitung von Oktober

Wir leben in einer so genannten Informations- oder Mediengesellschaft. Diese hat ihre eigenen Gesetze. Zu ihnen gehört es, dass außerordentliche Phänomene, die das Gewöhnliche sprengen, stets die Oberhand gewinnen. Es ist eine Gesetzlichkeit, die weitgehend auch noch die „Macher" in den Medien selbst beherrscht. Dahinter steckt natürlich uralte menschliche Neugier, die sich besonders für das Spektakuläre und Extravagante interessiert.

Die Rolle der Medien in unserer Gesellschaft hat diesen Trend freilich ungewöhnlich gesteigert. Dies gilt nicht nur für die im Sog dieses Trends besonders betroffene und wiederum alles betreibende Boulevard-Presse, sondern in hohem Maß auch für manche Bereiche der Werbung. Es ist ja schlechterdings nicht einzusehen, warum ich der Versicherung A mehr trauen soll als der Versicherung B, nur weil ein ehemaliger Sportler, der von der Sache gewöhnlich nichts versteht, Reklame dafür macht. Ich glaube, dass der beschriebene Trend auch über die allgemeine Erfahrung hinausgegangen ist, dass schlechte Nachrichten sich besser verkaufen lassen als Gute. Wenn man auf die Bestseller-Listen z.B. der Sachbücher schaut, kann man nur erschrecken, welche „Literatur" sich im Spitzenbereich herumtummelt.

 

Die „Normalität" des Lebens hat es immer schwerer. Dies war auch früher so. Sie hat bei diesen Trends noch wenig Chancen. Sie repräsentiert jedoch nicht nur das Leben der meisten Menschen, sondern auch große Teile im Leben der Promis. Aber diese „Normalität" wird eher ausgeblendet. Sie erscheint als fade, langweilig und längst bekannt, als stinknormal. Da ist zu wenig Reiz und Prickeln, Sensation und Skandal.

 

Deswegen ist es immer wieder notwendig, das Loblied für die Normalität zu singen. Es ist damit ja nicht nur der Trott und die Routine des Alltags gemeint, sondern es ist nicht zuletzt die Treue im Kleinen. Es ist das schlichte, immer ein wenig graue Ethos des Alltags: Es sind die kleinen und großen Sorgen der Eltern um ihre Kinder in allen Altersstufen, es ist die liebende Zuwendung der Mitwelt zu den Kranken, oft über längere Zeit, es ist die Sorgfalt in der Erledigung unscheinbarer Aufgaben. Es ist die Treue im Kleine, von der wir alle immer wieder abhängig sind.

 

Gewiss, wir leben nicht nur von der Normalität. Sie muss immer wieder unterbrochen werden: durch Feier und Fest, durch Besinnung und auch die hohen Stunden der Liebe, die immer wieder die Gewöhnlichkeit des Alltags durchbricht. Wir brauchen die Erfahrung einer solchen Unterbrechung. Es muss das Gegengewicht auch des Glücks und der Freude am Unerwarteten geben. Schon kleine Geschenke und unscheinbare Zeichen können dies in erstaunlicher Weise bewirken.

 

Wir müssen den Rang und Wert der Normalität unseres Lebens wieder entdecken. Kunst und Literatur, Erholung und Feier, Besinnung und Gottesdienst helfen dabei mit, damit wir wieder zufrieden und zuversichtlich mit unserem Alltag zurechtkommen. Dann ist dieser nicht mehr bloß langweilig und öde, sondern er hat auch seinen eigenen Glanz, selbst wenn er zunächst eher etwas verborgen ist: Die Kinder wachsen fröhlich heran, der Kranke findet trotz seiner Schmerzen noch einen Sinn im Leben. Es macht eine stille Freude, anderen zu helfen und für sie da zu sein.

 

Lassen wir also unser Lebensgefühl nicht einfach von der Sucht nach ständig Neuem beherrschen. Es ist meist schneller vergangen und schneller beim alten Eisen als das, was im normalen Leben geschieht.

 

 

 

(c) Bischof Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz