MENSCHWERDUNG GOTTES UND MENSCHENWÜRDE

Datum:
Sonntag, 24. Dezember 2000

Weihnachten sagt viel aus über Gott. Er thront nicht selig in sich selbst, sondern wendet sich der heillosen Welt zu, und zwar indem er einer von uns wird. Dies ist die äußerste Herablassung Gottes in die Geschichte. Er hält nicht an einem Gottsein fest, indem er sich abschließt und zurückzieht, sondern er entäußert sich und nimmt das Schicksal eines Menschen an. Wir sprechen mit Recht von der „Kenosis", der Entäußerung Gottes, was besonders in der Hinnahme der Passion und des Todes zum Ausdruck kommt. Die Krippe ist insgeheim schon das Zeichen der Armut Gottes in unserer Welt. Hinter der Krippe ragt das Kreuz hervor.

Aber Weihnachten sagt auch etwas aus über den Menschen. Gott wird Mensch. Dies sagt etwas aus über die Größe und die Möglichkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht nur ein Zigeuner am Rand des Universums, der zwischen Himmel und Erde herumirrt. Er ist kein Zwitterwesen zwischen Tier und Gott. Er ist ein Wesen der Mitte, der Geist und Leib, Vernunft und Materie in sich einbegreift. Es ist die Größe des Menschen, dass Gott in ihm Wohnung nehmen kann. Nicht nur in dem Sinne, dass Gott ihn inwendig beseelt und innerlich beflügelt. Vielmehr wird Gott buchstäblich ein Mensch. Aber dies ist nur möglich, weil der Mensch fähig ist, in seiner Natur Gott aufzunehmen. Das große Denken des Abendlandes sagt, dass der Mensch „Gottes fähig" (capax Dei) ist und dass er so offen ist, so sehr aufnahmefähig ist, dass Gott unverkürzt, ganz und gar, leibhaftig Wohnung nehmen kann. Darum ist der Mensch bei all seinen Fehlern und Unvollkommenheiten besonders ausgezeichnet und hat eine unvorstellbar große Würde. Nur weil er selbst Bild und Gleichnis, Ebenbild Gottes in dieser Zeit ist, ist er in der Lage, Gott in sich aufzunehmen. Darum darf er in letzter Instanz auch nicht Mittel zum Zweck werden, anderen Bedürfnissen untertan und so instrumentalisiert werden. Darum ist auch die Würde der Person einzigartig, einmalig und unwiederholbar. Dies sichern die Menschenrechte.

In unseren Tagen muss dieses Wissen um die Würde des Menschen besonders verteidigt werden. Überall wird der Mensch rücksichtslos erniedrigt. Es wird ihm buchstäblich das Gesicht zerschlagen und so die Würde genommen. Vor allem jede Anwendung von Gewalt missachtet die Würde des Menschen. Es gibt viele Formen von Unterdrückung und Ausbeutung. Nicht nur in den Strukturen von Diktatur und ungerechter Herrschaft, sondern auch z.B. in der Werbung und in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir leben in einer Wegwerf-Gesellschaft.

Am meisten gefährdet ist diese Würde aber am Anfang und am Ende des Lebens. Immer wieder droht die Verführung, über das Leben anderer zu verfügen. Es ist aber nicht einfach fremdes Leben, sondern das Leben eines Menschen, der uns gleich ist. Wir sind Schwestern und Brüder. Ungeborene Kinder, die wir für unerwünscht erklären, erhalten keine Eintrittskarte in die Familie der Menschheit. In den Versuchen „therapeutischen Klonens" verbrauchen wir – gewiss um eines guten Endzwecks willen – Menschenwesen mit ihrem jeweiligen Recht auf ein eigenes Leben. In der aktiven Sterbehilfe wirft sich der Mensch auf zum Herrn des Lebens und glaubt, er könnte die Würde des Menschen retten, indem er ihn vom Leiden befreit und erlöst.

Gott kommt in unsere Welt. Dies ist nicht nur historisch gemeint im Blick auf den Anfang unserer Zeitrechnung. Es ist auch nicht bloß allgemein und abstrakt gemeint. Gott kommt buchstäblich in unsere Gegenwart und mahnt uns an unsere Verantwortung für den Menschen dieser Tage. Er muss sich entscheiden, ob er dabei die Würde und das Wesen des Menschen wahrt oder ob er glaubt, den Menschen nach seinen Plänen besser bauen und schaffen zu können. So liegen Größe und Elend des Menschen dicht beieinander. Wir müssen wählen. „Wähle das Leben", sagt schon Gott im Alten Bund.

Ihnen allen ein friedvolles und gesegnetes Weihnachtsfest!

Copyright: Karl Lehmann, Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz