Mensch und Zeit

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester

Datum:
Donnerstag, 31. Dezember 2009

Predigt in der Jahresschlussandacht an Silvester

Wir haben soeben die Chronik des Jahres 2009 in gesellschaftlich-politischer Hinsicht und in der Perspektive des christlichen Glaubens sowie der Kirche durchlaufen. Dabei sind wir gewiss manchmal erschrocken, wie lange eine Sache schon zurückliegt oder auch darüber, wie schnell sie vorübergegangen ist. Ich möchte mich an diesem Abend nicht verbreiten über die „Zeichen der Zeit" und ihre Bedeutung für die Kirche, obgleich dies ein wichtiges Thema ist. Darüber sprechen wir oft genug.

Es geht mir am heutigen Abend um die Erfahrung der Zeit und ihre Bedeutung für unser Menschsein. Dabei sind wir uns der alten Weisheit bewusst, die schon der hl. Augustinus maßgebend auf den Begriff gebracht hat: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?"

Deshalb gibt es nicht viele Erfahrungen für den Menschen, die ihn so in Schwierigkeiten bringen, etwas genauer zu erfassen wie die Zeit. Sie narrt uns immer wieder und läuft uns davon, sobald wir sie fassen wollen. Deshalb sind die Äußerungen über die Zeit auch so vielfältig und widersprüchlich: die Zeit ist flüchtig, sie ist im Nu vergangen, wir haben keine Zeit sie scheint aber auf der anderen Seite auch still zu stehen. Deshalb ist es gut, wenn wir an diesem Abend des letzten Tages im zu Ende gehenden Jahr etwas nachdenken über dieses Doppelgesicht der Zeit.

Wir nehmen es ganz selbstverständlich, wie unsere Zeit verläuft. Im Alltag jedenfalls achten wir nicht darauf. Aber wenn wir manchmal auf die Uhr schauen, kann uns das Ticken der Uhr auf die Nerven gehen. Wenn wir daran denken, dass jede Sekunde im Nu unwiederbringlich vorübergeht, dann könnte uns diese Flüchtigkeit des Daseins geradezu verrückt machen. Nichts scheint bestehen zu bleiben. Alles geht dahin. Was für ein Verhältnis haben wir dazu?

So ist es auch nicht verwunderlich, dass man sich gegen diese Geschwindigkeit und den Fortriss der Zeit sperrt. Eine wichtige Antwort der Menschen ist die Überzeugung von einer so genannten Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wir können sie vielleicht am besten am Lauf der Natur und an Jahreszeiten bemerken. Es gibt ein immerwährendes Werden und Vergehen. Wenn man die Natur betrachtet, dann scheinen die Unterschiede zwischen den Lebewesen, zu denen auch der Mensch gehört, zu verblassen. Es ist ein unaufhörliches „Stirb und Werde". Der Kreislauf des Lebens scheint hier zum Greifen nahe. Aber wird so nicht doch die Zeit des Menschen verfehlt? Sie ist einmalig, unumkehrbar, wird eben personal und geschichtlich an einem bestimmten Standort erfahren. Die ethische Verantwortung des Einzelnen lässt sich ebenso wenig einebnen.

In der Tat hat vor allem der biblische Glaube ein eigenes Zeitverständnis ausgebildet, mindestens gefördert. Es gibt hier nicht den Kreislauf der ewigen Wiederkehr des Gleichen, sondern eine Zeitlinie, die unser Heil mit dem Heil vergangener und künftiger Generationen - von Adam bis zum Ende der Zeiten - verknüpft. Jedes Ereignis hat seinen einmaligen Ort, der so nicht mehr wiederkehrt. Die Menschen auch der Zeit vor dem christlichen Glauben haben manches davon erfasst. Z.B. lesen wir bei den Griechen: „Bei einem Fluss ist es nicht möglich zweimal hineinzusteigen in denselben - auch nicht ein sterbliches Wesen zweimal zu berühren und zu fassen im gleichen Zustand - es zerfließt und wieder strömt es zusammen und kommt her und geht fort." (Heraklit) Im Licht des christlichen Glaubens ist diese Einzigartigkeit und Einmaligkeit der Ereignisse noch sehr viel stärker aufgegangen. So ist die Zeit als vorübergehende, endliche, einmalige Frist erfahren worden, als ein „Ein-für-alle-mal", das keine Revision, keine bloße Wiederkehr und reine Wiederholung kennt und dabei den Menschen in eine ganz persönliche Verantwortung für sein eigenes Leben hineinstellt.

Diese Erfahrung macht das Leben den Menschen nicht einfach leichter. Es ist nicht nur die Erfahrung der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, in der auch die kostbarsten Erfahrungen des Menschen, vor allem des Glücks und der Liebe, zerfließen. Es ist auch das Gefühl im Nacken, man werde unaufhörlich gejagt. Es bleibe einem auch keine echte kleine Pause. Deshalb fürchte man sich auch in gewisser Weise vor der Zeit, die einem durch ihr Verschlingen der Möglichkeiten des Lebens wie ein gefräßiges Tier vorkommt. Andere haben etwas ähnliches formuliert, wenn sie z.B. sagten: „Die zwei größten Tyrannen der Erde: der Zufall und die Zeit." (Johann Gottlieb Herder) So ist der Mensch immer wieder über die Gewalt der Zeit erschrocken. Deswegen wollte man die Zeit bis zum Allerletzten nützen und geradezu auskaufen. Aber dies hat auch Angst gemacht, sodass man auch auf die Erlösung von diesem Tyrannen „Zeit" hoffte.

In unserer Gegenwart hat sich diese allgemeine Erfahrung des Menschen noch gesteigert. Manche sind der Meinung, es habe nie zuvor eine Epoche wie die unsere gegeben, die sich mit geradezu religiösem Eifer dem Neuen, dem beständigen Neuanfangen, der Vergötzung der Innovation verschrieben habe. Entsprechend war auch das Tempo des Verfalls rasant. Die Veränderungen würden sich überschlagen. Nie zuvor in der Geschichte sei alles, was sich „nur" wiederholt, so verachtet. Deshalb schätzte man auch die Wiederkehr einer Sache nicht, gar eine sich wiederholende Übung. Wenn man bestimmte Branchen vor allem auch der industriellen und technischen Fertigung betrachtet, so ist alles auf einen solchen Fortschritt, eine permanente Verbesserung gestimmt. Man denke auch an die Zuversicht, allein ein wirtschaftliches Wachstum könnte uns aus der Krise bringen. „Immer höher, immer schneller, immer besser" - das ist aber auch unser tägliches Lebensgefühl, nach dem wir so gut wie alles einschätzen.

Im Hintergrund steht auch eine meist sehr unbestimmte, jedoch wirksame Lebensauffassung. Sie ist meist ziemlich verborgen. Wir leben gewöhnlich in den Tag hinein, als ob unser Leben mehr oder minder endlos weitergeht. Zwar kann uns ein Unglück oder ein Unfall, gewiss auch eine plötzliche Krankheit, völlig aus der Bahn werfen. Aber in vielem rechnen wir geradezu selbstverständlich mit einem täglichen Weitergehen, Weiter so. Es ist so etwas wie eine „schlechte Unendlichkeit" (Hegel). Dies ergibt dann gerade in der Hektik ein spannungsloses, gleich-gültiges Leben, das kaum mehr qualitative Höhepunkte zulässt, eher nur ein quantitatives Mehr. Man hetzt dann von Sensation zu Sensation, von Nervenkitzel zu Nervenkitzel.

In diesem Zusammenhang scheinen mir drei Dinge für unser Leben und für unsere Zeit wichtig zu sein:

1.      Die Zeit ist nicht vom Teufel, auch nicht in ihrer Flüchtigkeit. Sie ist nicht minder als alle anderen Kreaturen Gottes gute Schöpfung. Auch die Zeit ist ein Kind Gottes. Sie schenkt uns nicht nur einmalige, gelungene Höhepunkte unseres Lebens, die wir nicht mehr vergessen und uns wertvolle Erinnerungen schenkt. Die Zeit kann trotz aller Flüchtigkeit auch geduldig sein: Sie lässt uns zwar warten, manchmal lange, aber sie gibt uns auch eine Chance, unterwegs anders zu werden. Wir bekommen nochmals eine Möglichkeit der Umkehr und der Selbstkorrektur. In diesem Sinne kann Wiederholung auch unsere Rettung sein, weil wir in derselben Sache nochmals einen anderen Weg einschlagen dürfen. Gewiss, wir haben auch die Ambivalenz der Zeit in den Blick genommen: das grausame Zerrinnen aller Chancen und Möglichkeiten, das brutale Ende einer guten Zeit, der unerbittliche Abbruch - bis zur Bewusstlosigkeit und in den Tod. In diesem Sinne ist ein bewusster Umgang mit unserer Zeit eine ganz wichtige Aufgabe für unser Menschsein. Dabei geht es sicher auch um das Ausschöpfen der Möglichkeiten, also die Planung unserer Zeit. Nicht zufällig spricht die Bibel in einem positiven Sinne vom „Auskaufen" der Zeit (vgl. Kol 4,5; Eph 5,16). Dies ist natürlich etwas anderes als ein bloßes effizientes „Verwerten", Maximieren von bloßen Quantitäten.

2.      Dies führt uns zu einem weiteren Gesichtspunkt, gerade in unserer Zeit. Wir können zwar den Lauf der Zeit nicht anhalten, aber es kommt darauf an, wie wir mit der Zeit umgehen. Schon früher sagte ein Sprichwort in paradoxer Weise: „Eile mit Weile". Heute spricht man angesichts der Hektik und des Gejagtwerdens des Menschen gerne davon, dass wir bei so viel Beschleunigung und Dynamik auch eine neue Einstellung brauchen, um unser Leben zu „entschleunigen". Der Titel eines hilfreichen Buches heißt: „Es muss in diesem Leben mehr als Eile geben." (Karlheinz A. Geißler). Wenn wir nur beschleunigen, werden auch die Erfahrungen flüchtiger, die Gegenwart wird immer schneller zur Vergangenheit, Zukunft ist schon fast Gegenwart. Die Gegenwart schrumpft immer schneller und jagt uns immer weiter. So läuft uns die Zeit noch mehr davon, als dies ohnehin der Fall ist. Zu dieser Entschleunigung gehört vor allem: Zeit füreinander und besonders für das Gespräch zu haben, vor allem in menschlichen Gemeinschaften, Mut zur Besinnung und zum Nachdenken zu gewinnen. Man muss auch die Erfahrung machen, dass nicht alle Zeiten gleich sind. Es gibt das unvermeidliche Hasten und das notwendige Rasten.

3.      Damit sind wir auch schon ganz in der Nähe eines wichtigen dritten und letzten Gesichtspunktes, nämlich dem Überschreiten der Zeit. Zwar sind und bleiben wir tief endlich, aber wir sind nicht einfach der Vergänglichkeit ausgeliefert. Unser Geist bezeugt es, wenn er sich mit den großen Inhalten unseres Lebens und unserer Welt beschäftigt: z. B. mit Natur und Kunst. Wir spüren es aber vor allem in Feier und Fest. Hier können wir frei werden von allen - oft auch falschen - Bindungen und Verstrickungen. Die Zeit kann so für den Christen auch ein Fest sein. Sie ist es vor allem dort, wo er sich dem Kommen Gottes in unsere Zeit öffnet. Feste gehen verschwenderisch um mit der Zeit. Sie wollen lange dauern. Sie können so auch ein Abglanz des „ewigen Festes" sein. Nicht zuletzt darum gibt es auch den Sonntag, die Woche und das Kirchenjahr. In ihnen ragt das Ewige und die Ewigkeit Gottes in unsere Zeit hinein. Darum ist auch eine Festkultur für den Menschen so lebenswichtig. Sonst versinkt er in der Hektik und im Getriebe unserer Welt, auch wenn er dies noch Erholung und Unterhaltung nennt. Dadurch wird unsere Zeit kostbar. Die Bibel weist uns auch darauf hin, dass wir im Tun des Guten in ganz besonderer Weise die Ewigkeit berühren und so auch Endgültiges schaffen. Der hl. Paulus sagt es uns in seinem Hohelied der Liebe: „Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende ... Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe." (1 Kor 13,8.13). Unsere Zeit erhält so einen besonderen Ernst. Dadurch wird aber auch eine schwere Zeit erträglich. Überhaupt gibt es so mitten in der Zeit und in der Vergänglichkeit eine gewisse Leichtigkeit und Heiterkeit. Nicht zufällig ist unsere Fastnacht im Schatten der Dome entstanden. Beides muss für die christliche Zeiterfahrung immer wieder zusammenkommen. So kann man auch für die Zukunft eine neue Ausstrahlung gewinnen.

Wenn wir diese Wege einschlagen und versuchen, gewinnen wir mitten in allen Gefährdungen unserer Tage ein neues Verhältnis zur Zeit. Ich finde es besonders gut ausgedrückt in dem bekannten Kirchenlied von Jochen Klepper (aus dem Jahr 1938): „Der Du die Zeit in Händen hast, Herr nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen. Nun von dir selbst in Jesus Christ die Mitte fest gewiesen ist, führ uns dem Ziel entgegen ... Der du allein der Ewge bist, und Anfang, Ziel und Mitte weißt, im Fluge unserer Zeiten, bleib Du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten." Amen.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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