Möglichkeiten und Begrenztheit des Menschen in der Zeit

Kath. Morgenfeier in hr2-kultur am Sonntag, 30. Dezember 2012

Datum:
Sonntag, 30. Dezember 2012

Kath. Morgenfeier in hr2-kultur am Sonntag, 30. Dezember 2012

(Musikauswahl: Regionalkantor Nicolo Sokoli, Bad Nauheim)

Wir werden bald die Akten über ein vergangenes Jahr schließen und schlagen eine neue Seite unseres Lebens auf. Wir blicken schon heute auf die beiden nächsten Tage. Sie scheinen zunächst in demselben alltäglichen Gewand mit den gewohnten Aufgaben einherzukommen. In Wirklichkeit geben wir uns damit jedoch nicht zufrieden. Es ist ein Jahr vorbei. Damit ist ein Stück Leben vergangen. Auch wenn die Menschen heute älter werden, so ist ein Jahr doch eine beträchtliche Wegstrecke in unserem Leben. Wir haben Anlass genug, eine Art von menschlicher Bilanz aus einem Jahr zu ziehen und uns zu fragen, was denn Gewichtiges in ihm sich ereignet hat. Wir denken dabei an Geburt und Tod, Freude und Leid, Gewinn und Verlust. Wenn wir hinter die Ereignisse zurückgehen, dann könnten wir uns fragen, wo Hass oder Liebe, Recht oder Unrecht vorgeherrscht haben, wo wir Leben, zumal von Menschen, gestützt und gefördert oder gefährdet oder gar zerstört haben.

Wir stellen uns diesen Fragen nicht so gerne. Ich gebe zu, dass ich mich auch vor einer solchen Rechenschaft zu drücken versuche, wie vor einer ernsthaften Gewissenserforschung am Abend eines schwierigen Tages. Das fröhliche Treiben ist uns lieber. Es hat auch zum Teil seinen guten Sinn: Wir sind froh und dankbar, dass ein Jahr nicht nur vorbei ist, sondern auch glücklich und vielleicht sogar segensreich war. Aber nicht selten ist es auch ein ausgelassener Trubel, der die letzten Stunden eines zu Ende gehenden Jahres geradezu erstickt. Im Grunde flüchten wir uns ein Stück weit damit vor dem Enden eines Jahres. Mit viel Spektakel decken wir es zu. Man muss sich schon mit etwas Gewalt dem Lärm entgegenstellen und etwas abseits die Besinnung suchen.

Musik 1: J.S. Bach: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit, aus BWV 106

Wir haben schon Grund, nicht nur aus dem Trott des Alltags und des jahraus jahrein sich abspulenden Lebens zu flüchten oder es wenigstens zu unterbrechen. Leise und heimlich nagt nämlich die Frage, ob denn dies alles gewesen ist. Wenn wir diesen Zweifel in den letzten Tagen des Jahres eher etwas unterdrücken, so beschleicht er uns jedoch irgendwie am Anfang eines neuen Jahres. Ist nicht alles eine einzige Vergänglichkeit? Ist dies alles: ein Jahr aus - ein neues an!? Dieser Frage ist nicht leicht standzuhalten. Deswegen wollen wir sehr oft gar nichts davon wissen, beschwichtigen sie, machen Lärm, weil wir sie nicht hören wollen, oder ertränken sie gar in einem dumpfen Rausch.

Am ersten Tag des neuen Jahres gibt es nicht selten eine Art von Nachhall zu der Ausgelassenheit der Silvester-Nacht. Missmut und Überdruss sind oft das Ergebnis. Dieser erste Tag eines neuen Jahres konfrontiert uns nämlich mit einer besonders brutalen, nackten Vergänglichkeit. Es ist eben wieder ein Jahr vorbei. Es ist kein Kraut gewachsen gegen diesen Fortriss der Zeit. So hat Neujahr zunächst etwas Trostloses an sich. Wir entdecken weder von der Natur noch von der Religion hier in dieser grauen, stummen Vergänglichkeit ein Geheimnis oder gar einen Sinn.

Diese Erfahrung gilt nicht nur für das Ende und den Anfang eines Jahres. Sie ist auch nicht spezifisch allein für unsere Zeit. In den letzten Jahrzehnten und Jahren ist uns wieder ein Buch aus dem Alten Testament vertrauter geworden, das diese Grundstimmungen des Menschen aufnimmt und durchdenkt. Wir nennen dieses Buch „Kohelet" oder auch „Prediger". Kohelet ist wohl nicht der wirkliche Name des Verfassers, obwohl er manchmal wie ein Eigenname erscheint, sondern eher ein Deckname. Kohelet ist so etwas wie der Leiter eines Kreises im Zusammenhang einer Lehr- und Erziehungstätigkeit. Vielleicht hat er seine Lehre auch auf dem Marktplatz öffentlich angeboten. Wir dürfen annehmen, dass dieses Buch etwa 200 Jahre vor der Geburt Jesu Christi entstanden ist. Im Hintergrund steht die Frage: „Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?" (1,3) Eine erste Antwort hat bereits ein sehr ernüchterndes Ergebnis: „Das ist alles Windhauch und Luftgespinst. Es gibt keinen Vorteil unter der Sonne." (2,11) Damit haben wir ein Leitwort dieses Buches angeschlagen, das sich immer wieder refrainartig wiederholt.

In diesem Sinne wollen wir nach einer besinnlichen Musik als Lesung für den heutigen Tag den Anfang des dritten Kapitels dieses Buches hören:

Musik 2: J.S. Bach: Sonatina aus BWV 106

Alles hat seine Stunde.
Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,
eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen,
eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen,
eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,
eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,
eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,
eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,
eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden,
Wenn jemand etwas tut - welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?" (3,1-9)

Vielleicht ist es nicht ratsam, der Vergänglichkeit und der Zeit direkt ins Auge zu sehen, ohne ihnen freilich einfach auszuweichen. Wer sich ihnen unmittelbar aussetzt, den überrollen sie irgendwie. Darum ist die Zeit in vielen Kulturen mit einem gefräßigen, unersättlichen Tier verglichen worden, das unablässig die Möglichkeiten des Menschen verschlingt. Andere haben in dieser Perspektive die Zeit - übrigens wie den Zufall - als einen der größten Tyrannen auf der Erde empfunden.

Wir wollen uns dem Rätsel der Zeit anders stellen. Anfangen und Enden sind nämlich zwei Grundkräfte unseres Lebens, die sich nicht nur im Ganzen, sondern auch in den kleinsten Bewegungen und Regungen zeigen. Wir reden vom Leben gerne im Bild eines Stromes, der aus der Quelle entspringt und weiterfließt. Aber dies ist doch nur die Hälfte der Wahrheit, wie es oft mit Bildern ist. Das Leben entspringt nicht nur an einer Stelle und fließt einfach weiter, sondern es steigt immerfort aus der verborgenen Tiefe herauf. Darum ist jeder Anfang mehr als nur ein Beginn, weil er diese ursprüngliche und bleibende Kraft in sich birgt. So ist es im Grunde auch mit der Erfahrung jeden Tages. Mit dem Erwachen beginnt ein neuer Tag, wie er noch nie da war. Wir sehen rasch alles nur grau in grau. In Wirklichkeit ist jeder Tag einmalig, ist anders als alle anderen Tage, er ist nicht zu ersetzen, er wird auch nicht wiederkommen. Wenn wir so den Tag betrachten, hat er einen ganz anderen Anfang und einen wirklich neuen Beginn.

Dazu gehört freilich, dass wir uns nicht einfach mitreißen lassen von unseren Geschäf¬ten, Ämtern und Aufgaben. Manchmal haben wir vielleicht das Gefühl, das Leben würde durch verantwortungsvollere Arbeit und größere Aufgaben mehr Gewicht bekommen. In Wahrheit ist es nicht so. Vielmehr werden wir von einem zum nächsten fortgerissen und können nirgendwo verweilen. Manche versuchen das Leben mit „Erlebnis" zu füllen: Sie sind rastlos in jeder Hinsicht unterwegs, um ja nichts zu verlieren. Aber die Tage und Jahre werden dadurch nicht lebendiger, eher flüchtiger und leerer. Man kann so das Gefühl noch weniger bezwingen: Vorbei! Den Lauf der Zeit können wir nicht durch ein quantitatives Mehr aufhalten. Alle Dinge, die wir recht und schlecht machen, wo wir nur der Hektik des Terminkalenders folgen und vielleicht sogar danach trachten, viel Geld für wenig Mühe zu erhalten, verlieren rasch ih¬ren Sinn. Wenn solche Dinge vorbei sind, dann sind sie es auch ganz und gar. Wenn alles nur auf Vorteil und Erfolg hin entschieden und getan wird, sinkt das, was wir tun, rasch ab in den Strom der Vergänglichkeit. Wenn ich jedoch bei einer Sache den Anruf des Gewissens höre und ihm Folge leiste, selbst wenn ich dadurch Ärger und Schaden habe, ist nicht einfach alles vorbei. Die gute Absicht und die Gesinnung sind maßgebend, auch wenn das Werk nicht gelingt. Wir spüren dann stärker, dass keine Tat der anderen und kein Tag dem anderen gleicht. Bei allem Zusammenhang und bei aller Dauer, die wir brauchen, ist es dieses Neue, das nicht nur vom Bisherigen abgeleitet werden kann, sondern sich uns wirklich als neu zuschickt. Wenn dies gar nicht mehr gegeben ist, erfahren wir unser Dasein als langweilig, leer und vielleicht sogar als unerträglich.

Musik 3: J. Brahms: Geistliches Lied op. 30

Auch jedes Ende ist etwas Besonderes. Wir dürfen dabei nicht nur an das Ende des Jahres oder das Ende des Todes denken. Jeder Tag endet. Kein Abend kehrt einfach wieder. „Morgen ist auch noch ein Tag" gehört zu den Halbwahrheiten. Die Zeitabschnitte sind nicht einfach auswechselbar. Was heute versäumt wird, kommt morgen so nicht mehr wieder. Ähnliches gilt auch, wenn eine Arbeit fertig geworden ist. Wir spüren diesen Abschied noch sehr viel stärker, wenn ein Zusammensein, das Gemeinsamkeit gestiftet hat, zu Ende geht.

Natürlich vergeht das, was endet, nicht einfach. Vieles bleibt in unserem Gedächtnis, behält seinen Einfluss, wird Grundlage für etwas Neues. Auch da, wo wir Neues vermuten, gibt es darin immer den verwandelten Rückgriff auf das, was gewachsen ist. Sonst würde alles zerfallen. Es gäbe keine Dauer, kein Wachstum und keine Treue. Aber gerade im menschlichen Leben bedarf es auch des absichtlichen, vom menschlichen Wollen bewusst getragenen Vollendens. Die Unerbittlichkeit, dass alles einmal zu Ende geht, macht nicht nur traurig, sondern gibt allem Tun auch seine Einmaligkeit. Es ist dann besonders befreiend, wenn sich etwas erfüllt. Aber darum müssen wir uns bemühen.

Wir müssen jeden Tag lernen, wieder neu anzufangen und immer wieder auch Abschied zu nehmen. Wir können dann vielem, was uns quer kommt, ein Hindernis darstellt und uns mutlos macht, einen unverhofften Sinn geben. Ohne diese Kunst machen wir im Trott weiter, bleiben stecken, lassen etwas bloß auslaufen.

Kein Zeitpunkt ist so günstig zu einer solchen Besinnung wie das Heranrücken des Endes eines Jahres und der Anfang des neuen. Hier dringt das, was täglich geschieht, besonders scharf in unser Bewusstsein. Was wir heute feiern, sollen wir jeden Tag vollziehen. Man muss dafür freilich auch eine gewisse Offenheit mitbringen. Oft begreifen wir das Neue nur als das Aufregende. Wenn wir immer mehr Menschen werden, die dankbar sind für das, was uns zukommt, und wenn wir uns auch selbst bescheiden sowie andere leben lassen, entdecken wir vieles Neue: das reife Gesicht des alten Menschen, das Lächeln des Kindes, den stummen Schmerz des Gequälten und das versteinerte Leid der einsamen Witwe.

Kohelet, den wir zu Beginn hörten, wusste, das alles seine Stunde hat. Vieles wird uns dabei zugeschickt. Es ist aber darum nicht nur Schicksal. Es kommt darauf an, dass wir es nicht einfach passiv hinnehmen, sondern aktiv gestalten. Dann begreifen wir die vielen Anfänge und die vielen Enden unseres täglichen Lebens als eine Gabe. So verstehe ich das Gebet des Psalmisten: „Unsere Tage zu zählen lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz." (90,12) Dann brauchen wir die Jahreswende nicht im Trubel zu ersticken. Dann brauchen wir nicht insgeheim Angst zu haben, wenn wir die Zeitgrenze eines Jahres überschreiten. Dann dürfen wir beim Enden des alten und beim Beginnen des neuen Jahres von Herzen froh und mutig gelassen sein.

Musik 4: J.S. Bach: Fürchte dich nicht, BWV 228

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz