Neue geistliche Berufungen

Gastkommentar von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 5. Februar 2012

Datum:
Sonntag, 5. Februar 2012

Gastkommentar von Kardinal Lehmann in der Mainzer Kirchenzeitung "Glaube und Leben" vom 5. Februar 2012

Die Kirche unserer Zeit und in unserer Region leidet am Priestermangel. Es ist nicht die einzige und vielleicht auch nicht die wichtigste Schwäche unserer Gemeinschaft. Man bedenke immerhin die große Schwächung unseres Glaubens, die nicht zuletzt auch, wenigstens teilweise, für den Priestermangel mitursächlich ist. Aber der Mangel schlägt sich auch sichtbar nieder im Zusammenschließen vieler Gemeinden und irgendwo auch an der Veräußerung und am Funktionswechsel von Kirchen.

Gegenüber diesem Mangel sind wir ziemlich hilflos. Mindestens müssen wir zugeben, dass unsere klassischen Wege der Berufungspastoral nicht mehr recht gangbar sind. Man denke an Einladungen zum Besuch der Priesterseminare und der Ordenshäuser, aber auch andere Mittel der „Werbung" sind viel schwächer geworden, wie das Ansprechen junger Menschen durch Pfarrer und Religionslehrer in den Schulen und in der Jugendarbeit.

Wir müssen also neue Zugangswege suchen. Oder ist es vielleicht besser, von neuen Wegen zu sprechen, die Gott uns eröffnet und die einige Menschen uns durch ihre eigene Lebensgeschichte schon zeigen?

Dabei muss man - davon bin ich tief überzeugt - davon ausgehen, dass jeder Christ, durch Glaube und Taufe ein solcher geworden, eine eigene Berufung hat. Der hl. Paulus lehrt uns, dass man sich dabei nichts Spektakuläres vorstellen muss: auffällige, provozierende und wundersame Ereignisse. Charismen (Geistesgaben), wie wir diese Berufungen auch heißen, sind oft unscheinbar, verborgen, im Alltag bewährt und treu. Diese Berufungen sind das Fundament für unser christliches Leben, und zwar für alle: Männer und Frauen, Junge und Alte, einfache Menschen und Intellektuelle, Eheleute und Unverheiratete.

An dieser Stelle setzt schon seit langem bei mir selbst etwas Zweifaches ein, einerseits eine spirituell-theologische Überlegung und andererseits reale Erfahrungen. Beides soll uns das Gesagte etwas konkreter nahebringen.

Die christliche Berufung erschöpft sich nicht einfach in Taufe und Firmung allein. Schon die ersten Christen sagten, dass das christliche Leben ein „Weg" ist. Wie Gott im Alten Bund mit seinem Volk mitzog und es durch alle Höhen und Tiefen begleitete, so gibt es auch eine Wegbegleitung jedes Christen durch Gottes Geist in seiner persönlichen Lebensgeschichte, wenigstens wenn wir offen und aufmerksam bleiben für Gottes Spuren in unserem Leben. Oft sind wir für solche Wandlungen und Anrufe auf unserem Weg aber gar nicht offen und gerüstet.

Es muss nicht immer so sein wie beim hl. Nikolaus von Flüe, der seine göttliche Berufung so auffasst, dass er Frau und Kinder verlässt. Schon eher leuchtet uns ein, dass z. B. eine Ordensfrau sich fragt, ob sie nicht in einer anderen geistlichen Tradition zu mehr oder eventuell zu einem anderen Leben gerufen ist. Auch sagen mir manche Mitbrüder in den Gesprächen vor der Priesterweihe, dass sie immer noch mit sich ringen, ob sie nicht doch in einen Orden eintreten werden. Wir lassen dies offen, bis jemand dort ein neues Leben versucht oder auch wieder gerne als Weltpriester in das Bistum zurückkommt. Es muss jedenfalls in einer positiven Weise offen bleiben, dass es solche Wege innerhalb christlicher Berufungen gibt.

Auf der anderen Seite gibt es dazu auch neue Erfahrungen, die mir gerade in letzter Zeit innerhalb und außerhalb unseres Bistums begegnet sind. Junge Menschen lernen einen Beruf und haben auch guten Erfolg. Sie spüren aber im Lauf der Jahre, dass sie von dem, was sie täglich umtreibt, nicht ausreichend befriedigt sind. Sie haben jedoch durchaus Freude an ihrem Beruf. Sie laufen nicht einfach weg. Es ist schon gar keine Flucht. Aber nicht wenige kommen dann jenseits des 30. Lebensjahres vor die Frage, ob sie nicht einen neuen Weg gehen sollten, der im Glauben fundiert ist, aber auch unmittelbar mit den Fragen und Nöten der Menschen zu tun hat. Dabei kennen sie den Menschen aus ihrer Alltagserfahrung recht gut und wissen, wovon sie reden.

Dies ist mir in letzter Zeit öfter begegnet. Dies ist gewiss kein breiter Königsweg, auf dem wir viele Berufungen gewinnen und uns vom Priestermangel befreien könnten. Aber wir sollten doch wohl mehr auf solche neuen Wege, die Gott mit uns geht, achten. Es geht um den Einzelnen. Vielleicht gibt es doch mehr Menschen, die sich auf diese weiteren Wege Gottes ansprechen lassen. Jedenfalls wird eine künftige Berufungspastoral solche Zugangsmöglichkeiten im Auge behalten. Diese Aufmerksamkeit müssen wir neu lernen.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz