Neuer Schwung für Europa

Datum:
Donnerstag, 24. Januar 2002

Dankes-Vorlesung bei der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde
an Miloslav Cardinal Vlk, Erzbischof von Prag,
und Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz,
durch die Universität Oppeln (Polen) am 24. Januar 2002

Mir ist die Aufgabe übergeben, den Dank für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Oppeln an Herrn Cardinal Vlk, Erzbischof von Prag, und an mich mit einer kleinen Vorlesung zu verbinden. Ich tue dies gerne und habe mir für diese Aufgabe das Thema "Neuer Schwung für Europa" ausgewählt. Ich bin nämlich überzeugt, dass die Schaffung eines neuen Europa frische Impulse braucht und dass dafür die mannigfaltige Zusammenarbeit der Regionen hier in Polen und anderswo, die uns nicht mehr trennen, sondern zusammenführen, von besonderer Bedeutung ist.

Die christliche Botschaft enthält den Gedanken von Frieden, Gerechtigkeit und nicht zuletzt auch von Heimat, selbst wenn diese recht verschieden genannt wird, wie z.B. auch Vaterland. Sie vermittelt die Vision einer menschlichen Gemeinschaft, in der das Trennende so weit wie möglich und notwendig aufgehoben wird. Die Begriffe Frieden, Gerechtigkeit und Heimat haben alle auch etwas mit dem Bau des gemeinsamen Hauses Europa zu tun. Das geeinte Europa soll nach der Vorstellung seiner Gründerväter ein Haus sein, das allen Völkern Europas Heimat bietet und ihnen die Möglichkeit gibt, bei Wahrung ihrer kulturellen und geschichtlich begründeten Eigenart in Frieden, Freiheit und Wohlstand ohne trennende Grenzen miteinander zu leben. Das gemeinsame Haus Europa wird auf einer gemeinsamen, wesentlich christlich geprägten Kultur und Geschichte sowie auf lebendigen, im christlichen Glauben begründeten Werten errichtet.

Das Projekt Europa ist schon weit fortgeschritten, und es ist viel erreicht worden. Die trennenden Grenzen sind gefallen. Wir haben einen gemeinsamen Binnenmarkt. Europa ist auch ökonomisch erfolgreich. Seit dem 1. Januar gibt es den EURO. Europa befindet sich auf dem Weg zu einem Verfassungsstaat. Der Gipfel von Laeken hat dies vor wenigen Wochen wiederum bestätigt. Die Aufnahme weiterer Mitglieder in die Europäische Gemeinschaft stand im Mittelpunkt sowie die Entwicklung der Union hin auf einen Verfassungsstaat. Beides greift ineinander. Gerade die Erweiterung brachte die neue Diskussion in Gang. Täglich wird berichtet von Äußerungen des Europäischen Parlamentes, einzelner Mitgliedsstaaten und Persönlichkeiten des politischen Lebens zu dem Prozess hin zu einer europäischen Verfassung. Ein Konvent soll gebildet werden. Soll dieser Konvent nun nur Optionen vorbereiten oder soll er verbindliche Leitlinien für den Ministerrat schaffen? Wie soll die Gemeinschaft am Ende dieses Prozesses aussehen? Wie sollen die Kompetenzen verteilt werden? Soll die Charta der Grundrechte in den EG-Vertrag aufgenommen werden? Das Europäische Parlament sowie die Europäische Kommission machen sich Gedanken über ihre Stellung in einem zukünftigen Europa. Der Europäische Prozess verzeichnet also trotz gelegentlich gegenteiligen Anscheins auch keinen Stillstand.

 

Warum also das Thema "Neuer Schwung für Europa"?

Eine erste herausfordernde Antwort: Weil zwar Bewegung vorhanden ist, aber kein wirklicher Schwung. All den politisch und technisch orientierten Aktivitäten fehlt heute irgendwo ein Elan, der Zögernde und Skeptiker mitreißt. Man kann den Eindruck einer Stagnation nicht verlieren. Es fehlt eine treibende Kraft.

In den Anfängen waren es die Väter Europas, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Alcide de Gaspari, Jean Monnet, Paul-Henri Spaak und manche andere, die politische Visionen und politischen Ehrgeiz hatten. Zu diesen Pionieren zählen auch noch François Mitterand und Helmut Kohl. Es war das traditionelle Ziel gerade der deutsch-französischen Zusammenarbeit, das "Schwungrad" der europäischen Integration zu sein. Dieses Schwungrad hat sich verlangsamt. In einem Aufruf "Reveillons L´Europe" heißt es mahnend, dass die großen Fortschritte die Frucht lange zurückliegender Entscheidungen auf europäischer Ebene seien und alle Reden, die den Gedanken einer Wertegemeinschaft und einer gemeinsamen Bestimmung der europäischen Staaten heraufbeschwören, gleichzeitig verbergen, dass Europa seit Jahren ein Patient sei, der an krankhafter Mattigkeit leide. Insgesamt dreizehn Persönlichkeiten, die mit dem europäischen Prozess engstens verbunden sind, unter ihnen Jacques Delors, Helmut Kohl und Jacques Santer, haben diese Diagnose gestellt. Wann? Erst im Oktober des vergangenen Jahres! Der Schlusssatz des Aufrufs lautet: Europa schläft. Wecken wir es auf.

Warum kommt ein solcher Aufruf nicht von den jetzt Verantwortlichen? Es sollten sich wieder Staatsmänner finden, die diese Gedanken beherzt und andere motivierend nach vorne tragen.

Zu einem Weckruf gehört gewiss die Forderung nach starken Institutionen, nach einem wirklichen Schritt vorwärts, der zu einer Überwindung der Nationalstaaten führt, zu einer Sichtweise, die über die Vertiefung der Integration und den "acquis communitaire" hinausgeht. Dazu gehört aber auch über den Appell an den Leib die Ansprache der Seele. Auch eine gemeinsame Währung garantiert nicht einfach den Aufbruch. Einen solchen kann es nur geben, wenn es gelingt, dem wirtschaftlichen Fortschritt und dem sozialen Zusammenhalt eine tatkräftige Unterstützung zu geben. Was wir brauchen, sind nicht Europäer, die eine gemeinsame Währung nur benutzen, sondern wir brauchen den "europafähigen" Menschen, einen "mündigen" Bürger. Der auch in Deutschland immer wieder zitierte mündige Bürger ist ein solcher, der nicht staatlich gelenkt ist, sondern im Maß des Möglichen selbstverantwortlich handelt.

Auch wenn die Tendenz zu einer Individualisierung des Gewissens und der Überzeugungen nicht zu übersehen ist, so ist auch nicht zu übersehen, dass trotz der gelegentlich zu beobachtenden abnehmenden Bindung der Menschen an eine Konfession oder eine Kirche den Menschen die sinnstiftende Dimension der Kirchen wichtig bleibt. Die Reaktion vieler Menschen nach dem 11. September 2001 ist nur ein Beispiel dafür. Die Kirchen sind es denn auch, die dazu beitragen können, den Werteüberzeugungen zu mehr Vitalität zu verhelfen. Werteüberzeugungen brauchen konkrete Vorbilder. Der christliche Glaube ist dafür nach wie vor die größte Stütze für das zusammenwachsende Europa. Die Kirchen sind traditionelle und zukunftsweisende sinnstiftende Institutionen.

Besondere Bedeutung erlangen die Werteüberzeugungen auch für die Länder, die in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten werden. Es genügt nicht, die Einhaltung des "acquis communitaire" von ihnen zu verlangen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Länder sich mit ihrem vielfältigen kulturellen und religiösen Leben in der Europäischen Union aufgehoben fühlen können. Gelingt es nicht, eine Vitalisierung der Werteüberzeugungen zu erreichen, so wird die Erweiterung der Union eine müde Geschichte sein und die oft beklagte Mattigkeit Europas vielleicht eher noch verschlimmern. Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, ob nicht der Begriff bloßer "Erweiterung" durch den Begriff der Europäisierung ersetzt werden sollte. Der Begriff "Erweiterung" lässt den Eindruck entstehen, es handele sich bloß um eine quantitative Vervollständigung Europas im Sinne einer neuen Ganzheit. Das ist nicht der Fall. Es geht vielmehr um eine qualitativ-kulturelle Vervollständigung Europas. Dieses Verständnis würde die Grundlage schaffen für neue Visionen zur Verwirklichung der europäischen Einigung und könnte zu einer wirklichen, auch spirituellen Dynamisierung des Prozesses beitragen. Den Kirchen wird dabei eine wesentliche Rolle zukommen, auch wenn man ihnen nicht allein diese Aufgabe aufbürden darf.

Wir sehen manchmal im Westen und im Osten Europas überwiegend die Probleme der Assoziation aus der ökonomischen und vielleicht auch politischen Perspektive. In dieser Hinsicht gibt es gewiss trotz aller Fortschritte in den gegenwärtigen Vorverhandlungen noch wenig gelöste Probleme, die man im Interesse der einzelnen Länder gewiss nicht übergehen darf. In Polen ist z.B. die Klärung der Zukunft der Landwirtschaft eine wirkliche elementare Lebensfrage, ja für viele Bauern eine Überlebensfrage. Aber vielleicht muss man betonen, dass dies eine legitime Sehweise ist, die freilich insgesamt der Erweiterung bedarf. Wir sind durch die jahrzehntelange Trennung Europas in Folge des Eisernen Vorhangs zu sehr gewohnt, "Europa" weitgehend mit Westeuropa zu identifizieren. Es war immer schon eine ungelöste Aufgabe neben den westlichen und südlichen Kulturen, neben dem griechischen und lateinischen, germanischen und sogar arabischen Kulturbeitrag die viel höhere Bedeutung der osteuropäischen Geschichte, ja des slawischen Erbes in Europa gebührend in Rechnung zu stellen. Ich habe den Eindruck, dass wir auch ein Dutzend Jahre nach der Aufhebung der kommunistischen Diktaturen in dieser Hinsicht, mindestens in unseren Köpfen, diese tiefe Zusammengehörigkeit noch nicht genügend rezipiert haben. Deswegen sollten wir mit einem Sprachgebrauch wie z.B. "Erweiterung" in der Tat viel vorsichtiger sein. Das westliche Europa, besonders in den Grenzen der Europäischen Union, muss bescheiden zur Kenntnis nehmen, dass es sich nicht als eine in der Substanz vollständige Größe begreifen darf, zu der eben andere hinzukommen. Es geht also um mehr, wenn wir vorschlagen, besser von "Europäisierung" zu sprechen. Im Übrigen haben wir ja auch in der westlichen Kirche ähnliche Probleme. Darum hat uns Papst Johannes Paul II., der hier wirklich auch als ein Pole mit der geistigen, historischen und gesellschaftlichen Erfahrung dieses Landes spricht, bei seinen Äußerungen zu Europa immer wieder von den beiden Lungen in Ost und West gesprochen und uns durch die Ausrufung der Slawenapostel Kyrillos und Methodios eine bleibende Erinnerung dafür geschaffen.

Dies hat eine ganz besondere Bedeutung, auch im Blick auf den Ort und die Bedeutung Europas in der Welt. Wir spüren dies nicht nur seit dem 11. September 2001.

Auch um die eigene Rolle in der Welt erfüllen zu können, bedarf Europa einer inneren Festigung. Die Werte, die Europa zu bieten hat, sind Ergebnis der Kulturgeschichte Europas, die über die Jahrhunderte hart erkämpft wurden. Sie sind auch heute ständigen Anfechtungen ausgesetzt und müssen immer wieder neu entdeckt, erneuert und nach vorne verteidigt werden. Wenn sie hinausgetragen werden sollen in die Weltgemeinschaft, in der es Bestrebungen zur Realisierung dieser Werte, aber auch mannigfaltige Rückschläge gibt, so ist die erste Voraussetzung ein glaubwürdiger Einsatz für sie und die überzeugende Darstellung dieser Werte nach innen. Die Prinzipien der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität, der Freiheit und des Friedens müssen für eine eigene staatliche und gesellschaftliche Ordnung Europas unter neuen Bedingungen entwickelt und angewendet werden. Die Entwicklung einer neuen Sensibilität und Erfahrung europäischer Zusammengehörigkeit ist unerlässlich. Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl sind aber nicht durch Aufrufe oder eine vordergründige Europabegeisterung zu erreichen.

Wir bedürfen also für alle Aufgaben der Gemeinschaft einer gemeinsamen Werteüberzeugung. Wie kann eine solche gefunden werden? Genauso wie jeder einzelne Staat kann Europa diese Werteüberzeugung nicht allein aus sich heraus schaffen. Um so mehr aber stellt sich die Frage: Wo sind die Kräfte verwurzelt, die dieser abstrakten Gesellschaft jene Substanz vor allem in ethischer Hinsicht geben, welche diese Gesellschaft konkret-geschichtlich trägt? Von woher haben Staat und Gesellschaft jene Fundamentalüberzeugungen vom Sinn menschlichen Zusammenlebens, die sie selber nicht gewährleisten? Der moderne Staat kann sie nicht erzeugen, da er seine weltanschauliche Neutralität aufgeben müsste. Hier ist an das bekannte Wort des Staatsrechtslehrers Ernst-Wolfgang Böckenförde zu erinnern: Der säkularisierte Staat und die moderne Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie nicht selber garantieren können,auf die sie aber elementar angewiesen sind. Es kommt damit auf jene gemeinsamen Rechtsgüter, Grundsätze und Überzeugungen an, die den Menschenrechten und Grundrechten vorausliegen und diese erst begründen. Das Christentum steht an der Wiege vieler solcher Grundwerte, die – wie immer ihr letzter Kern begründet wird - eine universal vermittelbare und mit der menschlichen Vernunft vollziehbare Einladung bzw. Verpflichtung für alle darstellen.

Jacques Delors, überzeugter Katholik und Sozialist, bezeichnete es 1992 in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission vor allem als eine Aufgabe der Kirchen, dazu beizutragen, das von ihm aufgedeckte und bedauerte "moralische Defizit" in Europa zu überwinden. Er hat auf das Fehlen einer kräftigen sozialen Dimension, auf die Umwelt- und Wissenschaftspolitik hingewiesen und auf die großen bioethischen Fragen. Er sagte: "Wenn es uns nicht gelingt, unserem Kontinent wieder eine ‚Seele‘ zu geben, verlieren wir den Kampf um Europa – denn mehr denn je werden wir mit ethischen und politischen Fragen konfrontiert. Hierbei spielen Kirche und Religion eine wesentliche Rolle." Der heutige Präsident Romano Prodi denkt ähnlich.

Nicht vergessen werden sollte auch, dass die Gründerväter Europas gerade keine Bürokraten und Technokraten waren. Sie waren erfahrene Politiker, die das Ohr am Puls der Zeit und der Menschen hatten. Sie waren vor allem auch überzeugte Christen und daher den religiösen Wurzeln Europas verhaftet. Sie stellten bei ihren Überlegungen die Bürger in den Vordergrund. Jean Monnet sagte dazu: "Nicht Staaten vereinigen wir, sondern Menschen". Und er gab einen Hinweis, der gerade für ein Europa am Scheideweg sehr aktuell ist. Er sagte: " Wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich mit der Kultur anfangen." Alfred Grosser, der als europäischer Denker, als Nichtkirchenmitglied und doch Sympathisant für die Rolle der Kirche einen Namen hat, drückte es so aus: "Nicht das Wort Europa ist notwendigerweise bedeutsam für das Aufbauen eines Europa, das wir uns wünschen, sondern eine ethische Grundeinstellung, die von Gläubigen und Ungläubigen zusammengebracht wird. Hierbei fällt den Kirchen eine enorme Rolle zu, nämlich zu stimulieren, damit aus dem Christentum das Beste für das Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft gemacht wird".

Damit die Kirchen diese Rolle auch wahrnehmen können, brauchen sie einen Freiraum, den der Staat nicht einengen darf. Nur ein solcher Freiraum ermöglicht den Kirchen, ihren Beitrag zum sozialen Miteinander zu leisten und die Beteiligung des Einzelnen und kleiner Gruppen zu aktivieren. Darum ist es so wichtig, die Kirchen nicht einfach als Teil der Zivilgesellschaft oder als Nichtregierungsorganisationen zu betrachten, wie es derzeit auf europäischer Ebene oft geschieht. Die Kirchen sind keine Organisationen im Sinne von sog. NRO´s, die die Interessen ihrer Mitglieder bündeln, um sie wirkungsvoller in die Politik einzubringen. Die Kirchen handeln in Erfüllung ihres eigenen Auftrags, der ihnen vom Evangelium - im Gebot der Nächstenliebe und im Eintreten für die Gerechtigkeit - aufgegeben ist. In diesem Sinne ist der Status der Kirchen in Europa wesentlich, so wie er auch seine Anerkennung gefunden hat in der sogenannten "Kirchenerklärung" zum Amsterdamer Vertrag. In dieser Erklärung bekennt sich die Europäische Union zum geistig-religiösen Erbe und anerkennt den Status der Kirchen in den einzelnen Mitgliedstaaten an. Diese Bewertung gilt es beizubehalten und zu festigen. Aber dies darf nicht so sehr rückwärtsgewandt verstanden werden, wie es oft geschieht. Dies bedeutet praktisch eine Relativierung der Bedeutung für die Gegenwart. Es geht gerade um eine offensive Investition für die Zukunft. In dem jetzt anstehenden Reformprozess sollten darum die Kirchen besser einbezogen werden. Sie können und wollen in diesem Reformprozess als diejenigen, die die grundlegenden Aspekte der geistigen und religiösen Grundlagen Europas vertreten und bewahren, einen wesentlichen Beitrag leisten. Das hat die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE) in einer Erklärung zum Europäischen Rat von Laeken nochmals betont. Angemahnt wird in dieser Erklärung die Möglichkeit der Kirchen, an der Arbeit des einzusetzenden Konventes beteiligt zu werden.

Zur Zeit erleben wir die Welt in einem großen Umbruch. Auch die Europäische Union steht an einem Scheideweg. So sieht es die belgische Ratspräsidentschaft in ihrer Erklärung zum Gipfeltreffen in Laeken. Die Gefahren, die von außen drohen, ebenso wie drängende Fragen, wie sie sich zur Zeit auf europäischer Ebene am Beispiel der Bioethik oder der Zuwanderung oder der sozialen Rechte der Arbeitnehmer stellen, verlangen nach einer Antwort.

Wir müssen fragen, wie die ökonomisch erfolgreiche europäische westliche Gesellschaft ihre kulturelle Apathie überwinden kann. Angesichts der Notwendigkeit der Integration eines Europa, das nicht homogen, sondern von kulturellen Verschiedenheiten geprägt ist, können gerade die Kirchen zur intensivieren Europäisierung der Europäischen Union beitragen. Und zwar, indem sie ihre traditionelle, im Glauben gründende Option für die Modernisierungsverlierer wahrnehmen, indem sie zivilgesellschaftliche Ressourcen fördern, indem sie grundlegende sozialethische Diskurse über eine gerechte Wirtschaft, politische Partizipation und kulturelle Integrität einfordern.

Wie ich auf dem letztjährigen Kongress der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie im August 2001 in Graz bereits gefordert habe, darf es keine europäische Dominanz auf Kosten regionaler Identität geben. Brüssel darf nicht zu einer großen Planierraupe werden, welche die regionale Eigenheiten niederwalzt. Die da und dort bestehende Einheitsbesessenheit darf nicht ungeniert an der Vielheit der Sprachen sowie der Denk- und Lebensformen Europas vorbeigehen. Auf diesen Aspekt werde ich nochmals eigens zurückkehren.

Wir dürfen aber nicht nur auf Europa selbst schauen. Dies hat es auch in seiner Geschichte kaum so vollzogen (vgl. dazu G. Schulz, Europa und der Globus, Stuttgart 2001). Europa muss möglichst bald seine weltweite Verantwortung gegenüber den Armen, den Entwicklungsländern, dem Hunger, der Schuldenlast, vielfältiger Ungerechtigkeit und Bedrohung der Schöpfung unter Beweis stellen.

Die Kirchen müssen in diesem Zusammenhang Fehlentwicklungen viel stärker entgegensteuern und eine Europa-Mentalität fördern, die auch seiner globalen Verantwortung mehr und mehr entspricht. Dies geschieht auf der einen Seite durch einen intensiven Einsatz zugunsten der Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Aber es gibt auch eine regionale Zusammenarbeit vor allem im Bereich von Ausgleich und Versöhnung zwischen den Staaten, die sich im letzten Jahrhundert in mörderischen Kriegen feindlich gegenüberstanden und oft weitgehend zerstört haben. So gibt es Neuanfänge schon sehr früh, ja noch während des Zweiten Weltkrieges im Westen, z. B. als der französische Bischof P.M. Théas von Lourdes im März 1945 einen Gebetsaufruf für den Frieden und zur Versöhnung mit den Deutschen initiierte, woraus übrigens die Pax-Christi-Bewegung als Internationale Katholische Friedensbewegung hervorging, die heute in über 50 Ländern der Welt tätig eindrucksvoll ist.

Diesen Bemühungen muss die Aussöhnung mit unseren östlichen und südost-europäischen Nachbarländern hinzugesellt werden. Ich brauche hier nicht den langen Weg der deutsch-polnischen Versöhnung nachzeichnen, der den berühmten Briefwechsel zwischen dem deutschen und dem polnischen Episkopat am Ende dese Zweiten Vatikanischen Konzils zu einem Höhepunkt führte. Ähnliches ist auch zwischen der Tschechoslowakischen bzw. Tschechischen und der Deutschen Bischofskonferenz besonders in der Wendezeit 1989/90 geschehen, wobei ich auch in diesem Zusammenhang an die fruchtbare Kooperation mit dem Erzbischof von Prag, Miloslav Kardinal Vlk, und besonders auch mit seinem mutigen Vorgänger, Frantisek Kardinal Tomasek, denke. Auch hier haben wir wichtige Texte.

Die Gelegenheit dieser Vorlesung gibt jedoch Anlass, das Thema über diese Aspekte hinaus zu erörtern. Hier geht es um Ausgleich und Versöhnung zwischen den Nationen. Dies ist und bleibt eine wichtige Ebene. Aber es gibt eine Kooperation über die nationalen Grenzen hinweg, die sich in der Region vollzieht. Wir haben heute viele solcher langsam wachsender Regionen, die in einem begrenzten Bereich Brücken zu den Nachbarstaaten schlagen. In Westeuropa brauche ich nur die Verbindungen zwischen Frankreich bzw. Elsass, Basel und der Schweiz sowie Deutschland bzw. Erzbistum Freiburg zu nennen. Aber auch das Zusammentreffen von Deutschland, Belgien, Holland und Luxemburg schafft eine enge regionale Zusammenarbeit im Raum Aachen-Lüttich.

Bevor die kirchliche Dimension genauer erläutert wird, bedarf es jedoch eines kleinen Exkurses über die Bedeutung des sogenannten Regionalismus im Zusammenhang der europäischen Einigung. Man hat nicht selten, besonders von zentralistischer Warte aus, die Betonung der Regionen als sekundär erachtet. Gewiss gibt es einen etwas nostalgischen Regionalismus, der sich gegenüber dem Zusammenwachsen eines größeren Europa in die provinzielle Übersichtlichkeit zurückziehen möchte. Dies wäre letztlich nur ein Kompensationsphänomen, das einen emotionalen Ausgleich schaffen will gegenüber den Modernisierungsvorgängen auf der europäischen Gesamtebene. Dies ist kein empfehlenswerter Weg. Aber es verbirgt sich dahinter die Sorge um den Erhalt der überschaubaren Lebenswelten gegenüber der Abstraktheit großräumiger Gebilde in der europäischen Gesellschaft. Aber dies ist noch nicht genug. Wir leben in einer wachsenden zivilisatorischen Komplexität, in der es auf der einen Seite den Bedarf an gewissen zentralen Steuerungskapazitäten gibt, auf der anderen Seite wächst aber auch der Anteil zivilisatorischer Lebensbedingungen, die mit einer zentralen Regulation nicht mehr erreichbar sind. Deshalb muss man Zentrale und Region immer zusammensehen. Der Zentralstaat allein kann nicht der Maßstab schlechthin bleiben. In hochentwickelten Industriegesellschaften muss viel stärker auf die regionalen Besonderheiten Rücksicht genommen werden. Dies hat zur Konsequenz, dass Absprachen und Vereinbarungen im regionalen Bereich einer wirksamen Selbstorganisation der Beteiligten vielversprechender sind als bloß zentralstaatliche Maßnahmen. Es gibt also in diesem Sinne entgegen allem romantischem Regionalismus eine mit der Moderne zusammenhängende Tendenz zu Regionalisierung und Förderalisierung, ohne die ein neues großes Europa gar nicht leben könnte. Dies hat auch zur Konsequenz, dass innerhalb Europas neue Formen zwischenstaatlicher Beziehungen entstehen. Es gibt auch heute schon eine beträchtliche Praxis der Kooperation regionaler Gebietskörperschaften über Staatsgrenzen hinweg. Wir können auch gut erkennen, dass solche Grundsätze heute ebenso die Kommunalpolitik mitbestimmen.

In diesen regionalen Zusammenschlüssen haben die Kirchen eine wichtige Rolle. Einmal gab es immer schon in historischer Perspektive viele Brückenschläge über die nationalen Grenzen hinweg. Dies hängt damit zusammen, dass wir trotz nationaler Bestimmtheit auch der Kirchen insgesamt in eine umfassende Weltkirche eingebettet sind. Wir müssen also neben den großen, wirklich nationalen Kooperationsvorgängen neue Formen der Zusammenarbeit in diesem überschaubaren regionalen Bereich erkennen und fördern. So glaube ich, dass gerade auch im Bereich des Bistums Görlitz, der Erzbistümer Wroclaw (Breslau) und Katowice (Kattowitz) sowie der Bistümer Legnica (Lignitz), Opole (Oppeln), Gliwice (Gleiwitz) und vielleicht auch Gorzów (Landsberg) zuerst zaghaft, aber immer stärker eine solche neue regionale Gemeinschaft wirksam zu werden beginnt. Auf tschechischer Seite darf man neben der Mutterkirche von Prag (Praha) hier zweifellos die Bistümer Litomerice (Leitmeritz), Hradec Králove (Königgrätz) und das Erzbistum Olomuc (Olmütz) nennen. Vielleicht wird man bald auch von mehreren Regionen sprechen, die sich jeweils finden. Es gibt ja aus den letzten Jahren immer wieder einzelne überzeugende Beispiele vor allem auch pastoraler und caritativer Zusammenarbeit.

Hier gibt es auch zweifellos eine reale Möglichkeit, eine gemeinsame stark kirchlich mitbestimmte Brückenregion zu erneuern, nämlich Oberschlesien. Dabei geht es aber nun nicht mehr um einen nationalen Zwist der Zugehörigkeit, sondern um eine gemeinsame Pflege eines großen Kulturraumes. Ich darf von deutschsprachiger kirchlicher Seite her nur das Erbe von Edith Stein sowie die Professoren Erich Przywara SJ, Hubert Jedin, Rudolf Schnackenburg, Otto Kuss, Bernhard Poschmann und Leo Kardinal Scheffczyk nennen, die aus dieser Region kommen. Dabei brauche ich nicht zu betonen, wie fruchtbar die Zusammenarbeit in der Grenzregion auch im Blick auf die Menschen ist, die auf verschiedenen Seiten wohnen. Die Bewältigung dieser Grenze, die in hohem Maße auch Wohlstandsgrenze und Abgrenzung gegen Flüchtlinge und Zuwanderer geworden ist, kann gemeinsam viel besser erfolgen.

Das Bistum Mainz hatte schon seit vielen Jahren eine engere Partnerschaft mit dem Bistum Oppeln, das 1972 gegründet worden ist. In diesen dreißig Jahren haben besonders Bischof Nossol, der während eines längeren akademischen Aufenthaltes an der Mainzer Universität 1977, also vor 25 Jahren, von seiner Ernennung zum Bischof in Oppeln in Kenntnis gesetzt wurde, und der langjährige Mainzer Generalvikar, Apostolischer Protonotar Dr. h.c. Martin Luley, eine beständige freundschaftliche Zusammenarbeit begründet. Zum Zeichen der Fortsetzung dieser freundschaftlichen Verbindung sind Herr Generalvikar, Prälat Dr. Werner Guballa, und weitere Mitglieder der Diözesanleitung mit nach Oppeln gekommen. Wir sind froh und dankbar, dass Sie nun eine rasch entstandene Universität mit einer Theologischen Fakultät haben und dies unseren Austausch nur fördern kann. Ich darf auf die Begegnungen zwischen den Theologischen Fakultäten in Mainz und Oppeln verweisen.

Dies alles wäre nicht entstanden ohne den großen Brückenbauer, Erzbischof Prof. Dr. Dr. h.c. Alfons Nossol. Er ist wirklich ein Pontifex im wahrsten Sinne des Wortes. Schon früh hat er Brücken der Verständigung und der Aussöhnung zwischen der deutschen Minderheit und der polnischen Mehrheit in dieser oberschlesischen Diözese gebaut und damit in hervorragender Weise zu einem versöhnten und fruchtbaren Zusammenleben von Polen und Deutschen in einem vereinigten Europa beigetragen. Dabei ist er ein ganz besonderer Pionier für diesen Dialog zwischen unseren Ländern und in den Regionen. Er kann nämlich besonders auf dem Feld der Theologie von beiden Seiten her, von der polnischen und der deutschen, als Dialogpartner mitwirken. In hervorragender Weise kennt er nicht nur die neuere deutschsprachige Theologie, sondern von seinen ersten Arbeiten an ist er ein hervorragender, leidenschaftlicher ökumenischer Theologe, der auch im internationalen Raum in Ost und West ein hohes Ansehen hat. Dies alles zieht sich durch die vielen Schriften des Oppelner Erzbischofs. Dabei nenne ich nur seinen Aufsatzband "Der Mensch braucht Theologie" (hrsg. von H.U. v. Balthasar, Einsiedeln 1986), und hoffe sehr, dass wir in diesem denkwürdigen Jahr einen umfangreichen Band "Dialog – Versöhnung – Ökumene. Wege zu einem christlichen Europa von morgen" folgen lassen können. Es ist ein denkwürdiges Jahr: 30 Jahre seit der Bistumsgründung, 25 Jahre nach der Ernennung von Erzbischof Nossol, dessen 70. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern dürfen.

So freuen wir uns von Prag und von Mainz her, die wir ohnehin schon 1200 Jahre lang miteinander verbunden sind, dass wir aus Anlass der Ehrenpromotion zugleich Erzbischof Alfons Nossol, den viele in Deutschland weit über die Kirche hinaus ihren Freund nennen, Dank sagen für den Dienst der Verständigung und der Versöhnung, den er unentwegt auf dem Weg zu einem größeren Europa für uns alle geleistet hat und den die vielfach von ihm inspirierte Theologische Fakultät mit ihren Kräften fruchtbar fortsetzt. Auch im Namen meines Zwillingsbruders, Erzbischof Miloslav Vlk, danke ich für die erwiesene Ehrung und wünsche Ihnen allen Gottes reichen Segen.

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz

 

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz