Nicht wegsehen! - Prekäre Arbeitsverhältnisse in unserem Land

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Datum:
Sonntag, 5. Mai 2013

Kolumne von Kardinal Lehmann in der Kirchenzeitung "Glaube und Leben"

Am 1. Mai denken wir besonders über unsere Arbeitswelt nach, wenn dieser Tag nicht einfach nur Fest und Feier dient. Die Nachdenklichkeit über Arbeit in unserer Gesellschaft muss auch immer stärker die auseinanderdriftenden Entwicklungen ins Auge fassen. Auf der einen Seite sagen uns seriöse Arbeitsforscher, Deutschland steuere mit großen Schritten auf die Vollbeschäftigung zu. Vieles hat sich in der Tat geändert: Ältere werden inzwischen deutlich länger beschäftigt als früher. Der Fachkräftemangel macht sich auf breiter Front bemerkbar. Firmen behalten auch bei gesunkener Auftragslage ihre Mitarbeiter, um sie zu behalten. So besteht auch die Hoffnung, Langzeitarbeitslose wieder stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Manche sehen so in diesen Tagen das Ende der Arbeitslosigkeit als realistisch an.

Vielleicht wird aber auch dabei die andere Seite unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu wenig wahrgenommen. Es besteht nämlich kein Zweifel, dass auf der anderen Seite so genannte prekäre Arbeitsverhältnisse zunehmen. Immer mehr arbeiten und leben unter schwierigeren Bedingungen. In vielen Branchen sind eine sehr kurze Befristung, Leiharbeit, Minijobs und Werkverträge geradezu an der Tagesordnung. Man darf nicht die Augen verschließen vor dieser Entwicklung mit den bekannten Folgen: Erweiterung der Ladenöffnungszeiten im Einzelhandel, Niedriglohn, fehlende Absicherung im Alter. Manche Gruppen sind besonders betroffen. Die osteuropäischen Gast- und Wanderarbeiter, wie wir sie vor allem im Rhein-Main-Gebiet finden und die z.B. im Bau- und Reinigungsgewerbe tätig sind, sind oft sprachlich kaum in der Lage, sich in diesen konkreten Verhältnissen zu wehren und zu verteidigen. Auch die Speditionsbranche kennt solche Verhältnisse. Es gibt leider auch in manchen Situationen so etwas wie Ausbeutung.

Wir müssen die Ursachen für das Anwachsen dieser prekären Verhältnisse sorgfältig betrachten. Die Arbeitgeber berichten uns von den Zwängen und Schwierigkeiten, denen sie in einer globalen Wirtschaftswelt gegenüberstehen und in denen sie oft bei einer mörderischen Konkurrenz überleben müssen. Man kann sich gewiss auch fragen, ob wir in unserer Gesellschaft genügend tun, um Geringqualifizierte zu fördern. Die Ursachen für diese mangelnde Qualifizierung sind vielfältig. Gewiss ist es nicht damit getan, dass die Fördermaßnahmen evtl. sogar noch gekürzt werden sollen. Auch müssen gerade solche schwierigen Arbeitsverhältnisse, die sich auch für jüngere Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren häufen, im Blick auf die Zukunft genauer unter die Lupe genommen werden: Wie kann man erwarten, dass Frauen und Männer unter solchen unsicheren Arbeitsverhältnissen eine verbindliche Lebensgemeinschaft in Ehe und Familie und doch wohl auch mit Kindern eingehen können und dies bei unserer demografischen Situation!

Ich will nicht den Anschein erwecken, als ob unsere ganze Arbeitswelt solche Mängel hätte und davon tief beschädigt wäre. Es gibt bei einer Mehrzahl von Menschen gute Arbeit, die auch von sehr qualifizierten Arbeitnehmern und Angestellten. vorbildlich und mit hoher Qualifikation verrichtet wird. Sonst hätten wir nicht die hohe Qualifizierung in unserer Arbeits- und Wirtschaftswelt.

Aber wir dürfen nicht die Augen verschließen vor der Spaltung unseres Arbeitsmarktes. Wir dürfen uns mit dem sehr fest gewordenen Sockel von Geringqualifizierten oder eben auch von Langzeitarbeitslosen nicht abfinden. Man muss auch noch intensiver danach forschen, warum es in unserem Land trotz vieler Bemühungen so schwer ist, junge Menschen aus Unterschichten bildungsmäßig erfolgreicher herauszuführen und zu qualifizieren.

Dies möchte ich nicht beiseiteschieben und vernachlässigen, wenn wir in diesen Tagen so stolze Visionen vorgeführt bekommen über das bald zu erreichende Ziel einer Vollbeschäftigung in unserem Land. Schauen wir dabei wirklich nur durch eine Brille, mit der man nur auf einem Auge sieht? Gerade auch hier sind Sozialethik und Katholische Soziallehre gefragt.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

Diese Kolumne lesen Sie auch in der gedruckten Ausgabe von "Glaube und Leben" vom 5. Mai 2013

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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