„Nichts ist dem Gottesdienst vorzuziehen“

Predigt beim Pontifikalamt zu Ehren des heiligen Hrabanus Maurus am Samstag, 4. Februar 2006, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Samstag, 4. Februar 2006

Predigt beim Pontifikalamt zu Ehren des heiligen Hrabanus Maurus am Samstag, 4. Februar 2006, im Hohen Dom zu Mainz

Wir begehen heute den Gedenktag des heiligen Hrabanus Maurus, des „Lehrers der Deutschen“ und früheren Erzbischofs in Mainz. Es gibt vielfach Anlass zum Dank und zum erinnernden Rückblick. Wir wollen dies auch in diesem Gottesdienst tun, indem wir uns das Leben und Wirken des heiligen Hrabanus vergegenwärtigen. Es ist gut, dass wir dies in einem Gottesdienst tun. Hier erfahren wir aus den Worten der Heiligen Schrift, wie unser Leben gelingen kann. Der heilige Hrabanus hat in seinem Leben und Denken immer wieder Zuflucht in den Quellen der Schrift gefunden. Mit ihm können wir sagen, die Heilige Schrift sei die Seele aller Theologie. Hrabanus Maurus ist uns dafür in ganz besonderer Weise Vorbild und Beispiel.

Auch und gerade, wenn Hrabanus an erster Stelle die Heilige Schrift genannt hat, sagt er immer wieder zugleich, dass er in seinem Leben versucht habe, ganz nach der Regel des hl. Benedikt zu leben. Das war für ihn Maß und Richtschnur seines Lebens. Eine wichtige Bestimmung aus der Benediktregel möchte ich zur Mitte dieser kleinen Besinnung machen, die den hl. Hrabanus Maurus auch in seinem ganzen großen Werk und in seiner Person trifft.

Ein kurzer Satz aus dem 43. Kapitel lautet: „Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden; dem Dienst an Gott ist nichts vorzuziehen.“ – „Ergo nihil operi Dei praeponatur.“ Dahinter steht schon eine lange Erfahrung. Die Väter in der ägyptischen Wüste hatten die asketisch-einsiedlerische Lebensform gewählt, um das immerwährende Gebet vollziehen zu können und um ganz frei zu sein für das Gebet. Alles, was sie sonst taten, war eigentlich nur eine Erleichterung für dieses immerwährende Gebet. Wir wissen, wie gerade der Benediktinerorden mit der Wertschätzung auch und gerade der leiblichen konkreten Arbeit hier auf Erden eine neue Seite in der Geschichte des Mönchtums aufgeschlagen hat. „Ora et labora, bete und arbeite“, lautet der Zweiklang der Benediktiner. Zweifellos geht der Satz „Dem Dienst an Gott (im Gottesdienst) ist nichts vorzuziehen“ aus einem Konflikt hervor. Man stelle sich einmal die Situation vor: Die Mönche leben im Kloster; man hat nach den Regeln des heiligen Benedikt bestimmte Aufgaben, sodass es gar nicht einfach ist, diesen Auftrag immer zu erfüllen. Wir spüren dies ja auch an uns selbst, dass wir immer wieder gute Gründe haben, dem Gottesdienst eben doch etwas vorzuziehen.

Der heilige Benedikt meint dies ganz konkret: Dem Dienst, dem Werk Gottes ist nichts vorzuziehen. Das bedeutet auch: dem Werk Gottes für uns; das, was Jesus Christus für uns getan hat. Das wird in der Gebetsgemeinschaft des Klosters ganz konkret zur Geltung gebracht. So, wie Benedikt sagt, dem Gottesdienst sei nichts vorziehen, so sagt er auch an anderen wichtigen Stellen seiner Regel – nämlich gleich am Anfang und gegen Ende –, Jesus Christus dürfe nichts vorgezogen werden; ihm, der uns zum Ewigen Leben führen wird.

Benedikt sagt dies im Wissen, dass dies nicht immer leicht ist. Er tut ja auch alles in seiner Regel, um die Brüder zu ermutigen und zu motivieren, diesem Anspruch gerne und von Herzen zu entsprechen. Denn Gott selbst schenkt uns etwas, was sonst niemand uns schenken kann. Drei Dinge sind es, die mit diesem Dienst an Gott für Benedikt und dann auch für Hrabanus Maurus verbunden sind: Das erste ist Hören auf das Evangelium. Wir können hier die Orientierung für unser Leben holen. Wir dürfen immer wieder zurückkehren zur Quelle, wo wir nie enttäuscht werden, die einzig unseren Durst stillt. Das Zweite: Vertrauen auf Jesus Christus, der das Evangelium verkündet. Es geht nicht nur um den Buchstaben, auch nicht nur um ein heiliges Buch, sondern es geht auch und gerade um die Begegnung, um die Freundschaft, um das Vertrauen im Blick auf Jesus, der uns dieses Wort des Lebens bringt. Er hat es uns auch durch sein Leben und Sterben zur Anschauung gebracht. Drittens: Flucht zu ihm in der Not der menschlichen Existenz. Nirgendwo anders ist ein letzter Halt, nirgendwo ist eine andere feste Gründung unseres Lebens zu bekommen in aller Not, und zwar geistig, leiblich und materiell.

Das macht die Segnung aus, die uns dieses „Opus Dei“, dieses Werk Gottes für uns, dieser Gottesdienst schenkt. Darum haben wir auch genügend Gründe, diesem Gottesdienst wirklich nichts vorzuziehen: „Soli Deo Gloria“ (Allein Gott die Ehre), wird man in anderer Form sagen. Dies ist auch die uralte Erfahrung in der Geschichte des Mönchtums. Freiheit heißt Gott zu dienen: „Deo servire libertas“. Das ist ein Fundament, von dem aus wir in unseren Alltag hineingehen können. So lebenspraktisch ist auch die Regel des hl. Benedikt und seiner Brüder. Daraus folgt eine große Freiheit in unserem Leben. Diese benediktinische Tradition, die uns von England her und in der Ausbreitung in unserem Land den Glauben und die Kultur gebracht hat, ist dafür Zeugnis.

20 Jahre war Hrabanus Abt in der großen und für ganz Mitteleuropa wichtigen Klosterabtei Fulda. In dieser Zeit war für ihn in der Meditation und Auslegung der Heiligen Schrift die discretio, das Unterscheidenkönnen, wichtig. Wenn man die Freiheit hat, dann kann man auch besser entscheiden und unterscheiden. Wenn man die Freiheit hat, dann weiß man, was man vorziehen muss, dann wird man nicht wieder neu abhängig von allen möglichen Dingen, die uns gefangen nehmen. Diese discretio ist zugleich gepaart mit vielen anderen Eigenschaften, zum Beispiel, dass wir dem Einzelnen gerecht werden. Benedikt spricht in seiner Regel von der Sorge des Stärkeren für den Schwächeren, wofür der Abt zu sorgen hat. Dieser Blick auf den Einzelnen macht ihn auch weise, ja, er macht ihn auch behutsam: „moderate“ kommt immer wieder in lateinischer Sprache vor. Behutsam umgehen mit den Menschen, je nachdem, wie viel einer an Zuwendung braucht, ist Auftrag für die Brüder. Diese discretio, diese Art des Unterscheidens, ist die Mutter aller Tugenden. Es geht bis in die einfachsten Dinge des Alltags hinein. Wenn die Brüder sich einmal beim frühen Gebet am Morgen verschlafen, dann soll man sie „moderate“ wecken – behutsam. Es ist eine ganz menschliche Welt, eine humanitas christiana, die hier deutlich wird. Dies spüren wir immer wieder auch in den Grundlagen des Denkens des hl. Hrabanus Maurus.

Dreimal kommt in der Benediktregel – zu Beginn in der Nr. 4, in der Mitte in Nr. 43 und am Schluss in Nr. 72 – dieses zentrale Wort vor: „Nichts der Liebe Christi vorziehen“, oder „Der Liebe zu Jesus Christus nichts vorziehen“. Das bedeutet dann auch: „Dem Gottesdienst nichts vorziehen“.

Meine lieben Schwestern und Brüder! Hrabanus Maurus hat dies gelebt. Darum tritt er, wie es in dieser Zeit ohnehin auch bei anderen der Fall ist, hinter dem, was er getan hat, zurück. Unsere Kategorien von Genialität und Originalität dürfen wir nicht anlegen. Das heißt aber nicht, dass Hrabanus nicht in eminenter Weise selbst schöpferisch gewesen ist. Er tritt jedoch als Person hinter der Aufgabe zurück. Diese bestand für ihn in seiner Zeit darin, den Glauben unversehrt weiterzugeben. Das Glaubensgut soll nicht verschleudert werden; es ist zu bewahren, aber so, dass es auch in eine neue Zeit hineinreicht und es mit allen Kräften weitergegeben wird. So hat es Hrabanus vorgelebt. Man kann wirklich sagen, dass diese unermüdliche Einsatzbereitschaft auch dazu geführt hat, dass er ein Werk schaffen konnte, das über die Jahrhunderte hinweg noch bedeutsamer wurde und das seinen Namen weitertrug. Er hat im Dienst an Gott, im Gottesdienst, die Liebe zu Jesus Christus gesucht und sich dabei selbst ganz zurückgestellt. Dafür bewundern wir ihn. Darum ist er ein Heiliger.

Das ist, denke ich, ein wichtiger Hinweis auch für uns heute. Auch wir sollen uns immer wieder ganz dem Dienst an Gott, dem Gottesdienst, aber auch dem Dienst für Gott in unseren weltlichen Lebens- und Tätigkeitsfeldern widmen. Dabei müssen wir immer wieder der Versuchung widerstehen, diesem Dienst an Gott etwas anderes vorzuziehen, und dürfen doch mit Hrabanus wissen, dass dies am Ende auch uns zum Besten gereicht durch alle Schwierigkeiten hindurch.

So steht Hrabanus Maurus wieder neu vor uns. Im Lauf dieses Jubiläumsjahres wird man ihn auch noch in Frankreich, wo er eine Weile bei seinem großen Lehrer Alkuin in die Schule gegangen ist, feiern und immer tiefer entdecken, was er für die Geschichte des Glaubens bedeutet. Hrabanus ist aber auch Mainz sehr verbunden. Er ist in Mainz geboren und hat immer wieder von Mainz gesprochen, auch wenn Fulda ganz gewiss ein großer und bleibender Mittelpunkt seines Lebens war.

Bei Hrabanus fehlte es nicht an der konkreten Tat des Lebens. Morgen wird in Winkel, im Rheingau, seiner besonders gedacht – dort, wo ihm die Pfarrkirche gewidmet ist und eine große Statue vor der Kirche steht. Denn unvergessen ist das Jahr 850, in dem in unserer Gegend und besonders im Rheingau eine große Hungersnot war. Hrabanus hat in dieser Hungersnot über Wochen und Monate jeden Tag zusätzlich zu denen, die ohnehin um ihn herum waren, für 300 Leute gesorgt, damit sie nicht zugrunde gehen. Das ist in dem, was man von ihm überliefert, gut haften geblieben; daran erinnert man sich bis heute. Das ist auch ein Erweis dafür, dass das Wort richtig ist: „Dem Dienst an Gott nichts vorziehen.“ Wenn wir das ernst nehmen, dann werden wir nämlich auch immer wieder beschenkt mit den anderen Gaben, so wie es im Evangelium heißt: „Suchet zuerst das Reich Gottes – und alles Übrige wird euch hinzugegeben werden.“ (vgl. Mt 6,33) Das ist kein Wort, das zur Leichtsinnigkeit auffordert, oder dazu ermutigt, die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, dass einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Das ist ein Wort, das voraussetzt, dass wir wirklich dem Gottesdienst nichts vorziehen. Dann können wir mit allen Kräften unsere Aufgaben in dieser Zeit erfüllen. Dann wissen wir, dass wir, auch wenn wir alles getan haben, immer noch unnütze Knechte sind (vgl. Lk 17,10) – doch Knechte im Dienst am Höchsten. Dafür danken wir am heutigen Tag und erinnern uns an Hrabanus Maurus. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz