Öffentlicher Dialog. Die Zukunft der religiösen Bildung.

Zur Rolle der Kirchen im Erziehungssystem einer pluralistischen Gesellschaft

Datum:
Dienstag, 28. Januar 2003

Zur Rolle der Kirchen im Erziehungssystem einer pluralistischen Gesellschaft

Statement zum Schulischen Religionsunterricht im Rahmen der Diskussionsveranstaltung des Freundes- und Förderkreises „Theologie am Tor zur Welt“ des Evangelischen Fachbereichs der Universität Hamburg am 28. Januar 2003

Die Katholische Kirche ist eine der größten Träger von Bildungseinrichtungen in Deutschland. Vom katholischen Kindergarten über die freien Schulen in kirchlicher Trägerschaft bis hin zu den katholischen Fachschulen und Fachhochschulen und den verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung reicht ihr breites Angebot. Es entspricht dem Selbstverständnis unseres demokratischen Staates, dass er kein Bildungsmonopol beansprucht, sondern das Bildungsengagement der Kirchen, der gesellschaftlichen Gruppen und Verbände unterstützt und damit ein plurales Angebot ermöglicht, das den verschiedenen Interessen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger am besten gerecht wird. So erfreuen sich etwa die Katholischen Kindergärten und Schulen in freier Trägerschaft einer hohen Beliebtheit bei Eltern und Schülern. Hier in Hamburg besuchen fast 50% der katholischen Kinder und Jugendlichen Katholische Schulen. Die kirchlichen Bildungseinrichtungen sind auch für die Kirche bedeutsam. Sie sind oft Orte des Dialogs zwischen Kirche und Gesellschaft, Orte, an denen der christliche Glaube mit dem Wissen und den Erfahrungen sehr unterschiedlicher Menschen in Beziehung gesetzt wird.

Zur Bildungsverantwortung der Kirche gehört in besonderer Weise der Religionsunterricht in der Schule. Nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 7 Abs. 3 GG) ist der Religionsunterricht eine „res mixta“ von Kirche und Staat. Er ist ordentliches Unterrichtsfach in allen öffentlichen Schulen. Seine Inhalte und Ziele aber werden von der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft verantwortet. Der Religionsunterricht ist deshalb sowohl in der Schule als auch in der Kirche verwurzelt. Er orientiert sich auf der einen Seite am Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule und will den Schülerinnen und Schülern helfen, einen eigenen religiösen Standpunkt zu finden. Einen solchen Standpunkt aber kann man nur in einem bildenden Unterricht erwerben, der nicht nur Information und Argumentation vermittelt, sondern auch eine persönliche Stellungnahme zu dem erworbenen Wissen. Die schulische Beschäftigung mit der christlichen Botschaft kann auch nicht von der Kirche absehen, die diese Botschaft weitergibt und im geistig-gesellschaftlichen Kontext einer Zeit vernehmbar macht. Anders lässt sich auch die Aktualität der christlichen Botschaft nicht vermitteln. Die Bindung an eine konkrete Kirche oder Religionsgemeinschaft gehört durchaus zur Sache, um die es im Religionsunterricht geht. Deshalb wurzelt der Religionsunterricht auf der anderen Seite auch in der Kirche.

Die Bindung des Religionsunterrichts an die Kirche kommt nicht nur in der kirchlichen Zulassung von Lehrplänen und Lehrbüchern oder in der kirchlichen Beheimatung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer zum Ausdruck. Wesentlich für den Katholischen Religionsunterricht ist die Kooperation mit kirchlichen Lernorten des Glaubens. Dazu gehört die Ortsgemeinde ebenso wie eine Caritasstation, eine Ordensgemeinschaft oder auch eine kirchliche Jugendgruppe. Durch die Vernetzung der verschiedenen Lernorte gewinnt der Religionsunterricht an Authentizität. Diese Öffnung des Religionsunterrichts ist heute vor allem deshalb notwendig, weil eine wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern kaum Erfahrungen mit praktiziertem Glauben in den Unterricht mitbringt. Viele Eltern verzichten auf eine religiöse Erziehung, nicht weil ihnen der Glaube nichts bedeutet, sondern weil sie selbst in Glaubensfragen unsicher und zunehmend auch religiös sprachlos sind. Über den eigenen Glauben zu reden, fällt vielen heute schwer. Die religiöse Erziehung wird deshalb gerne an die entsprechenden Fachleute, die Priester und Laienmitarbeiter in der Gemeinde und natürlich an die Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Schule delegiert. Gerade für Kinder aus Elternhäusern ohne religiöse Praxis aber ist es wichtig, die christliche Botschaft nicht nur als Unterrichtsgegenstand, sondern auch als einen Lebensvollzug kennen zu lernen. Es gehört sicher zu den wichtigen Einsichten der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, zwischen dem schulischen Religionsunterricht und der Gemeindekatechese aufgrund ihrer institutionellen Verortung und Zielsetzung zu unterscheiden. Doch Unterscheidung bedeutet nicht Trennung. Vielmehr ist es notwendig, die Frage nach der katechetischen Dimension des schulischen Religionsunterrichtes (besonders in der Grundschule) und nach seinem Bezug zu anderen Lernorten des Glaubens, insbesondere zur Gemeinde, religionspädagogisch neu zu bedenken.

Der konfessionelle Religionsunterricht darf nicht in einem konfessionalistischen Sinne missverstanden werden. Die Bindung an eine Kirche widerspricht keineswegs der Offenheit gegenüber anderen Konfessionen und Religionen. „Katholisch“ ist bekanntlich nicht primär eine Konfessionsbezeichnung, sondern ein Wesensmerkmal der Kirche. Katholisch heißt zunächst allumfassend, universal. Katholizität bedeutet für die – sozial und geschichtlich betrachtet ja durchaus partikulare – Institution der Kirche immer auch den Auftrag, sich nicht auf sich selbst zurückzuziehen, sondern die anderen und ihre Erfahrungen zu suchen. Das II. Vatikanische Konzil hat dieses Verständnis von Katholizität bekräftigt. Die Öffnung der Kirche für die ökumenische Zusammenarbeit und für den interreligiösen Dialog ist Ausdruck dieses Verständnisses von Katholizität. Der katholische Religionsunterricht kann deshalb auch gar nicht anders, als offen für andere Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen zu sein. Nach einer empirischen Untersuchung bescheinigen Schüler dem katholischen Religionsunterricht übrigens hohe Effizienz in der Vermittlung von Wissen über und Verständnis für andere Religionen.

Die Offenheit gegenüber anderen und die Begegnung mit anderen ist nicht voraussetzungslos. Wir treffen uns nicht in einem Niemandsland jenseits der konkreten Konfessionen und Religionen. Ökumenisches und auch interreligiöses Lernen geschieht immer von einem bestimmten religiösen Standort aus, der durch unsere Erfahrungen, durch Geschichte und Tradition mitgeprägt ist. Eine Begegnung mit anderen kann nur fruchtbar und bereichernd sein, wenn die Beteiligten ihre eigenen Überzeugungen offen legen und mitteilen.

Der Katholische Religionsunterricht will genau diese Begegnung mit anderen fördern. Das kann schon in der Grundschule beginnen, wenn z.B. eine evangelische Kirche besucht oder das Gespräch mit dem evangelischen Pfarrer gesucht wird. Auch eine phasenweise und thematisch begrenzte Zusammenarbeit des Katholischen mit dem Evangelischen Religionsunterricht kann durchaus sinnvoll sein. Die Begegnung mit anderen aber ist nur dann redlich, wenn sie von der eigenen Tradition und Glaubensüberzeugung her motiviert ist und den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit geboten wird, die Erfahrung des Anderen und des Fremden im Kontext der eigenen Religion oder Konfession zu verarbeiten. Deshalb ist ein konfessioneller Religionsunterricht in ökumenischer Offenheit etwas grundsätzlich anderes als ein vermeintlich ökumenischer Religionsunterricht, in dem schnell eine Position jenseits der konkreten Kirchen eingenommen wird und nur das als Bedeutsam gilt, worin alle Kirchen übereinstimmen. Ein solcher Religionsunterricht des kleinsten gemeinsamen Nenners ist dabei auch aus vielen Gründen ökumenisch nicht hilfreich.

Die Verbindung von Standortgebundenheit und Offenheit gilt selbstredend auch für die Begegnung mit anderen Religionen. Hier stellt sich vielleicht noch mehr die Frage, wie wir in der Schule und im Religionsunterricht mit dem religiösen Pluralismus umgehen sollen.

Eine - heute weit verbreitete - Strategie besteht in der Verharmlosung der religiösen Unterschiede. Das Gemeinsame zwischen den Religionen, das es zweifelsohne etwa im ethischen Bereich auch gibt, wird als das Wesentliche deklariert, demgegenüber die Unterschiede sekundär seien. Oder aber die Unterschiede werden harmonisiert, wenn etwa behauptet wird, dass die Vielfalt der Religionen unser Leben nur bunter und reicher macht. Die verschiedenen Religionen werden dann in einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung zueinander gesehen. Jede einzelne Religion trage ihren Teil zum großen spirituellen Schatz der Menschheit bei. Der Austausch mit Juden, Muslimen, Buddhisten und Hindus bereichere „per se“ die Schülerinnen und Schüler. Im Schulalltag zeigt sich diese Hermeneutik oft in der Art, wie die Feste der verschiedenen Religionen dargestellt und gelegentlich auch gefeiert werden.

Nun kann man gewiss nicht bestreiten, dass interreligiöse Begegnungen den eigenen Glauben und die eigene religiöse Praxis bereichern. Zum religiösen Pluralismus gehört aber auch das Widerständige und Fremde, dass nicht von vornherein in ein Gemeinsames integriert oder als bereichernde Vielfalt akzeptiert werden kann. Wo das Besondere zugunsten des Gemeinsamen ausgeschaltet und die Unterschiede harmonisiert werden, wird die Andersheit des Anderen schnell verkannt. Der Fremde ist aber nicht nur Spiegel meiner selbst. Er darf auch nicht als Umweg zur Selbstfindung missbraucht werden.

Zum Verhältnis der Religionen (wie übrigens auch der verschiedenen Konfessionen) gehört auch der Widerspruch und das Ringen um die Wahrheit. Gerade die monotheistischen Religionen erheben Wahrheitsansprüche, die sich nicht einfach historisch oder kulturell relativieren lassen. Wer von diesen Wahrheitsansprüchen absieht, wird der Wirklichkeit der Religionen nicht gerecht; er nimmt auch der interreligiösen Begegnung den Stachel. Denn die Begegnung mit dem Anderen kann mich doch nur dann bereichern, wenn sie mich nicht nur bestätigt, sondern zu neuen Erkenntnissen und Einsichten herausfordert.

Im Religionsunterricht muss Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gegeben werden, konkurrierende Wahrheitsansprüche aufzuarbeiten und zu gewichten. Wir müssen uns davor hüten, im Religionsunterricht einen Mentalitätstypus zu fördern, der sich aus der Vielfalt der Religionen das aussucht, was seinen gegenwärtigen Bedürfnissen und Interessen am ehesten entspricht. Religion wird dann für die Lebensbewältigung funktionalisiert und Gott wird auf die Rolle eines ermutigenden und tröstenden Begleiters reduziert. Eine strikt individuelle Religiosität schneidet sich vom Reichtum Jahrtausende alter Traditionen ab, verzichtet auf die religiösen Erfahrungen der anderen und auf die theologische Reflexion. Letztlich ist der Versuch, religiös zu sein, ohne eine konkrete Religion zu leben, genauso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch zu sprechen, ohne eine bestimmte Sprache zu benutzen. Ich sehe nicht, wie das Hamburger Modell eines interreligiösen Unterrichts dieser Gefahr entgehen könnte. – Aber Sie dürfen mich ja vom Gegenteil überzeugen.

In unserem, pluralistischen Gemeinwesen müssen wir unseren eigenen Standort und unsere eigenen Überzeugungen klar erkennbar markieren und zur Sprache bringen. Das gilt für viele Bereiche unserer Gesellschaft und auch für die Schule. Ein inhaltlich profilierter konfessioneller Religionsunterricht, der Positionalität mit Dialogbereitschaft und Argumentationsstärke verbindet, wird den Herausforderungen der religiösen Pluralität in der Schule und dem Wohl unserer Kinder und Jugendlichen am besten gerecht. Die Katholische Kirche hält deshalb auch weiterhin an dieser Konzeption von Religionsunterricht fest – hier in Hamburg an den Katholischen Schulen und in den anderen Bundesländern auch an den öffentlichen Schulen.

© Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz