Ökumene braucht den langen Atem

Ökumenischer Gottesdienst im Mainzer Dom aus Anlass des 50. Jahrestages des Konzilsdekretes "Unitatis Redintegratio"

Datum:
Freitag, 21. November 2014

Ökumenischer Gottesdienst im Mainzer Dom aus Anlass des 50. Jahrestages des Konzilsdekretes "Unitatis Redintegratio"

Im Folgenden dokumentieren wir die Eröffnungsworte von Kardinal Karl Lehmann im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich 50 Jahre Unitatis Redintegratio (Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils) gemeinsam mit Kirchenpräsident Dr. Volker Jung am 21. November 2014 im Mainzer Dom

Ich darf Sie, auch im Namen von Herrn Kirchenpräsident Dr. Volker Jung, herzlich zu unserem Ökumenischen Gottesdienst willkommen heißen und Ihnen für Ihre Teilnahme danken. Wir halten in wohl allen Bischofskathedralen unseres Landes am heutigen Abend diesen Gottesdienst, weil vor 50 Jahren, auf den Tag genau, das Dekret über den Ökumenismus „Unitatis Redintegratio" vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet worden ist. Obgleich der Weg zu diesem Text schwierig war, konnte er nach einigen grundsätzlichen Klärungen bereits in der dritten Sitzungsperiode verabschiedet werden. Die feierliche Schlussabstimmung ergab 21.037 Ja-Stimmen gegen 11 Nein-Stimmen. Am selben Tag hat Papst Paul VI. das Dekret feierlich verkündet.

Ich will zur Hinführung einige Worte sagen. Schon jetzt danke ich Herrn Kirchenpräsident Dr. Volker Jung für sein Kommen und vor allem für seine Predigt. Ich bin besonders dankbar, weil gleichzeitig die Synode der EKHN tagt und er eigens eine Unterbrechung für unseren Gottesdienst vorgenommen hat.

Das Ökumenismus-Dekret gehört zu den relativ wenigen Texten, die nicht bereits als eigenes Thema vor dem Konzil geplant worden waren. Drei unterschiedliche Textentwürfe sollten dann schließlich nach einem Beschluss im Dezember 1962 zu einem gemeinsamen Text zusammengefasst werden. Dabei ging es zum Teil um Exkurse, die bis dahin in der Kirchenkonstitution eingeplant waren. Zu dem neuen Dekret sollten Ausführungen über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen und über die Religionsfreiheit gehören, ebenso war geplant, dem Gesamtkomplex das Verhältnis der Kirche zu den Juden einzugliedern. Schließlich wurde die Fülle dieser Themen wieder entflochten und zu eigenen Beschlüssen abgetrennt. Über viele Wege einer mühseligen Redaktionsarbeit entstand allmählich ein eigenständiger Ökumenetext. Das Werden dieses Dekretes hing auch eng mit der Schaffung und der Tätigkeit des sogenannten Einheitssekretariates zusammen. Im Juni 1960 wurde das „Sekretariat für die Einheit der Christen" auf die Initiative von Kardinal Bea und Erzbischof Lorenz Jaeger als Vorbereitungsorgan des Konzils geschaffen. Das neue Dokument wurde durch eine neue Gemischte Kommission vorbereitet.

Die Arbeit in dieser Gemischen Kommission war sehr abhängig von der fundamentalen ekklesiologischen Neuorientierung, die innerhalb der Theologischen Kommission nach der ersten Sitzungsperiode stattfand. Nur so konnte ein grundlegend neuer Ökumene-Text zustande kommen. Zugleich mit dieser Wende, die jedoch mühsam durchzusetzen war, ergab sich eine radikale Neu-Orientierung. Man wird den Kern dieser Wandlung darin sehen dürfen, dass die katholische Kirche nun in die Ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts eintrat. Dies soll nicht heißen, dass mit diesem Datum erst die Einstellung der katholischen Kirche zum Ökumenismus ernsthaft geschieht. Die Wege einer allmählichen Öffnung der katholischen Kirche zur Ökumenischen Bewegung sind vielfältig und verzweigt. Man spricht deshalb mit Recht von einem „ökumenischen Lernprozess".

Dieser Lernprozess war auch durch die Anwesenheit einer wachsenden Zahl von Konzilsbeobachtern aus den Kirchen der Orthodoxie und der Reformation angestoßen und befruchtet worden. In der letzten Sitzungsperiode waren es mehr als 100. In zahlreichen Gesprächen hatten sie einen nachhaltigen Einfluss auf die Entscheidungen in den verschiedenen Kommissionen. Die Geschichte ihrer Wirkung ist noch nicht ausreichend untersucht worden. Gleichzeitig darf man aber auch nicht übersehen, dass der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner Sitzung in Neu Delhi am Ende des Jahres 1961 wichtige und grundlegende Texte zum Fundament der Ökumenischen Bewegung verabschiedet hatte (Verfassung des ÖRK, Art. 1). Diese „Basisformel" des ÖRK wird am Beginn von „Unitatis redintegratio" fast wörtlich aufgegriffen, wenn es dort heißt: „Diese Einheitsbewegung, die man als Ökumenische Bewegung bezeichnet, wird von Menschen getragen, die den dreieinigen Gott anrufen und Jesus als Herrn und Erlöser bekennen, und zwar nicht nur einzeln für sich, sondern auch in ihren Gemeinschaften, in denen sie die frohe Botschaft vernommen haben und die sie ihre Kirche und Gottes Kirche nennen." (UR 1)

Nun zum Inhalt der Wandlung: Nachdem die katholische Kirche über Jahrhunderte hinweg darauf beharrt hat, dass allein in ihr und durch sie die Menschen zum Heil gelangen können, hat das Konzil eine fundamentale Neuorientierung vorgenommen, wenn es in der Kirchenkonstitution (LG 8) heißt, dass auch außerhalb der Kirche und ihres institutionellen Gefüges „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit" zu finden sind. Ähnlich wird im Ökumenismusdekret eingeräumt, „das einige, ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können" (UR 3). Als Exempel werden angeführt „das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere innere Gaben des hl. Geistes und sichtbare Elemente" (UR 3). So sind auch die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften „nicht ohne Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles" und „Mittel des Heiles". Dies schließt nicht aus, was in LG 8 deutlich gesagt wird: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht („subsistit in Ecclesia catholica") in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird." Demnach steht die römisch-katholische Kirche in einer realen Kontinuität zur Kirche Jesu Christi. Sie ist mit ihr aber nicht identisch, und zwar aus zwei Motiven: Es gibt außerhalb der katholischen Kirche „ekklesiale Elemente" (Glauben an Jesus Christus, Verehrung der heiligen Schriften, Feier der Sakramente), schließlich wird auch die katholische Kirche durch vielfältige Mängel geschwächt (vgl. LG 8, LG 15; UR 15). Vor diesem Hintergrund haben die Konzilsväter die unvermittelte Identifikation der römisch-katholischen Kirche mit der Kirche Jesu Christi nicht mitvollziehen wollen. Sie ist Leib Christi (vgl. LG 7), aber sie ist es in einer geschichtlich vermittelten Gestalt. Darum gibt es auch mit allen Getauften eine vielfältige Verbundenheit. So gibt es Elemente des Kircheseins in den anderen kirchlichen Gemeinschaften, die nach Auffassung des Konzils zur katholischen Kirche tendieren und hinführen (vgl. LG 15). Für das Konzil sind die Elemente der Apostolischen Sukzession des Bischofsamtes und die Einheit mit dem Bischof von Rom sehr wesentlich. Jedenfalls wird so verständlich, warum manche die ekklesiologische Neuorientierung des Konzils in ihrer Bedeutung für die ökumenische Bewertung der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als „kopernikanische Wende" bezeichnen.

Der Text hat innerhalb und außerhalb unserer Kirche fast explosionsartig gewirkt. Bis zum heutigen Tag wurden viele Dialogprozesse angestoßen. Die vier Bände „Dokumente wachsender Übereinstimmung" sind ein lebendiges Zeugnis dafür. Es ist auch im Blick auf die genannten Themen in diesen fünf Jahrzehnten außerordentlich viel gearbeitet und vereinbart worden. Wir sind nicht in einer ökumenischen Eiszeit. Aber es droht sicher manchmal die Gefahr der Müdigkeit. Wir müssen die ökumenischen Errungenschaften auch an weitere Generationen weitergeben.

Eine solche Situation ist schwierig. Der erste große Aufbruch scheint sich erschöpft zu haben. Die Hoffnung scheint nicht mehr weiterzutragen. Das Verhältnis der Kirchen zueinander erscheint trotz einiger Rückschläge in grundlegenden Fragen als entschärft. Ökumene ist auf allen Veranstaltungen und Ebenen hoffähig geworden. Wir spüren aber auch, dass dieses Klima nicht ungefährlich ist. Schwerwiegende Differenzen werden eher zurückgestellt. Sie stören und sind lästig. Man geht ihnen aus dem Weg. So redet man gerne auch vom „Ende der klassischen Ökumene".

Hier gab es gewiss auch manchmal eine falsche Höflichkeit. Wir sind in den letzten Jahren manchen unangenehmen Wahrheiten, die uns drängen, aus dem Weg gegangen. Wir haben das gemeinsam Erarbeitete nicht energisch genug umgesetzt. Man hat sich dann in dem, was erreicht worden ist, recht und schlecht eingerichtet. Aber der notwendige Schwung ist lahmer geworden. Es lässt sich nicht leugnen: Je geringer die Differenzen geworden sind, umso schwieriger kann der Dialog werden. Es besteht die Gefahr, dass immer weitere Unterschiede beigebracht werden, welche vielleicht keinen entscheidenden Rang haben, aber eben als beinahe unüberwindbar angesehen werden. Selbst wenn in diesem Bereich noch einiges aufgearbeitet werden muss, so dürfen wir doch nicht wichtige Vereinbarungen der letzten 50 Jahre dahinwelken lassen. Dies gilt z.B. für die Vereinbarung über die Einigkeit in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre von 1999 in Augsburg.

Es gehört zur Nüchternheit und auch Glaubwürdigkeit der ökumenischen Arbeit, dass man sich des bleibenden Wegcharakters bewusst sein muss. Dabei werden Enttäuschungen und auch manchmal rückläufige Tendenzen unvermeidlich sein. Es gibt im Leben des Geistes und des Glaubens nie bloß breite Pracht- und Königsstraßen ohne verschlungene Pfade, Umwege und Holzwege, Abwege und vielleicht auch Irrwege. Dennoch wäre es fatal, wenn eine resignierende Grundstimmung sich gegen ihre letzte Absicht daran beteiligen würde, das immer noch brennende ökumenische Feuer löschen zu helfen. Unter der Asche glüht es noch. Wer die gewachsenen Differenzen in ihrer Tiefenwirkung zu gering schätzt und auf ihre ernsthafte Aufarbeitung meint verzichten zu können, wird nur Scheinerfolge erreichen können. Nach meiner Erfahrung sind jedoch nicht gedeckte Schecks in der Ökumene besonders gefährlich, weil nach ihrer Entlarvung, dass sie nämlich das Versprochene doch nicht tragen, die Enttäuschung entsprechend groß ist. Dies darf uns nicht überraschen, denn das Leid und der Schmerz der Ökumene verlangen nach einer gediegenen Überwindung, die sich wirklich bewährt. Ökumene braucht den langen Atem. Sonst kann es geschehen, dass Resignation und Revolte sehr dicht beieinander wohnen. Wehe, wenn wir dies durch Unbeweglichkeit oder blinden Übereifer begünstigen.

Deshalb ist es gut, wenn wir an diesem Tag zu einer der wichtigsten Quellen des ökumenischen Aufbruchs zurückgehen und von da aus einen neuen Anlauf und Schwung nehmen, um aus mancher Enge und aus mancher Enttäuschung wieder in ein freies und weites Feld der Gemeinsamkeit und der Aussöhnung zu gelangen. Dies ist auch die beste Vorbereitung für das Reformationsgedenken im Jahr 2017.

Nochmals darf ich allen, die unseren Gottesdienst vorbereitet und gestaltet haben, von ganzem Herzen danken, in ganz besonderer Weise dem Mitwirken des Domchores.

(c) Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

 

 

Vgl. zu diesem Gedenken:

Zur Einheit gerufen. Wort der deutschen Bischöfe zur Ökumene aus Anlass des 50. Jahrestages der Verabschiedung des Ökumenismus-Dekretes „Unitatis redintegratio" (23. September 2014 verabschiedet), 11 Seiten, Herausgeber: Deutsche Bischofskonferenz, Kaiserstr. 161, 53113 Bonn (www.dbk.de)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz