Ökumene heute - Versuch einer Standortbestimmung

Vortrag zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen in der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Datum:
Mittwoch, 24. Januar 2001

Vortrag zum Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen in der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Nicht erst seit einiger Zeit, sondern schon länger ist immer wieder vom Stillstand der Ökumene die Rede. Mancher möchte sogar von einer Eiszeit reden. In letzter Zeit sprechen auch ausgewogene und ausgleichende Kräfte von Irritationen oder mindestens Verzögerungen. Darum ist es notwendig, einmal inne zu halten und die ökumenische Landschaft neu zu vermessen, damit der Weg in die Zukunft übersichtlicher und verlässlicher wird. Dabei wird man nicht zu rasch nur mit unseren unmittelbar aktuellen Problemen ansetzen dürfen, ohne sie gering zu schätzen.

I.

Die Ökumenische Bewegung gehört zweifellos zu den großen Grundkräften in der bewegten Geschichte des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Dabei sind die ersten Impulse weniger von den Kirchenleitungen, sondern vor allem von aktiven Laien ausgegangen. In der Evangelischen Allianz (1846) und im Weltbund der Christlichen Vereine Junger Männer (CVJM 1855) schlossen sich einzelne Christen aus verschiedenen protestantischen Kirchen zu weltweiten Bruderbünden zusammen. Sie erstrebten eine unsichtbare, geistliche Einheit aller Glaubenden. "Einheit der Kirche" war für sie nicht das erste Ziel, da ihr Glaubensverständnis fast ausschließlich am Einzelnen orientiert blieb. Der Pietismus war hier Pate des Ökumenismus. Die Kirchen selbst entdeckten im 19. Jahrhundert zuerst die weltweite Dimension der eigenen Konfession. So entstanden die konfessionellen Weltbünde, die bis heute maßgebende Vermittler des ökumenischen Geschehens sind: Seit 1867 die Lambeth-Konferenz der Anglikanischen Kirchengemeinschaft, 1875 der Reformierte Weltbund. Der Erste Lutherische Weltkonvent trat erst 1923 zusammen. Diese wichtigen Vorläufer der gegenwärtigen Ökumene überschritten zwar nationale und kulturelle Grenzen, sie fassten jedoch nur Christen und Kirchen derselben Traditionen ins Auge. Der Ansatz beim Individuum in der Pionierzeit und die konfessionelle Ausrichtung der Weltbünde wurden durch den Christlichen Studentenweltbund (1895) überwunden. Da in diesem Bund nationaler Studentenbewegungen auch nicht protestantische Gruppen aufgenommen wurden, kam das Problem der Vielfalt der Konfessionen in den Blick. In diesem Zusammenhang entstand die bis heute wichtige Formel "unity in diversity", also Einheit in der Mannigfaltigkeit. Dies gilt auch für einen theologischen Pluralismus.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden die drei großen Hauptströme der ökumenischen Bewegung. Es ist auch heute noch aufschlussreich, auf welchen Feldern die Motive zur Überwindung der Spaltung besonders wirksam wurden. An erster Stelle muss die internationale Missionsbewegung genannt werden, die an vorgeschobenen Positionen bei der Verkündigung des christlichen Glaubens in anderen Ländern und Kulturen das Elend und vor allem die Unglaubwürdigkeit getrennter Kirchen besonders erfahren musste. Die Evangelisierung der Welt war das große Ziel bei der Gründung des Internationalen Missionsrates im Jahre 1921. Theologische und konfessionelle Unterschiede ließ man beiseite, da sie zu konfliktträchtig erschienen. Die Kirchen waren nicht offiziell beteiligt. Die Anfänge liegen in den verschiedenen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts.

Bei der Schwierigkeit einer Überwindung theologischer Unterschiede trat in einer durch Spannungen und Kriege zerstrittenen Welt immer mehr das Ziel in den Vordergrund, die Christenheit müsse gerade inmitten einer zerrissenen und unversöhnten Welt wenigstens gemeinsam handeln. Die Bewegung für praktisches Christentum (Life and Work, 1925) nahm diese Impulse auf und wollte nicht nur an der Lösung vor allem sozialer Probleme mitwirken, sondern auch den politischen Einheitsbestrebungen der Welt eine "christliche Seele" geben, wie z.B. dem Völkerbund. In diesem Zusammenhang muss auch der eher vergessene "Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen" genannt werden, der am 1. August 1914 von europäischen und amerikanischen Kirchenleuten gegründet worden war. Er wandte sich gegen Krieg, Rassen-, Völker- und Klassenhass und war noch im Jahre 1918 um die Schaffung eines gerechten Friedens bemüht.

Es ist nicht erstaunlich, dass außer diesen Kräften die Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) die theologischen und konfessionellen Unterschiede nicht einfach ausklammern, sondern in den Einigungsprozess einschließen wollte. Theologische Studienarbeit sollte dazu verhelfen, die Reichtümer der verschiedenen Traditionen zu verstehen und in eine umfassende Gemeinschaft einzubringen. Hier kamen besonders auch anglikanische Kräfte und Tendenzen zur Geltung. Im Mittelpunkt dieser theologischen Studienarbeit standen seit 1910 und besonders ab der Weltkonferenz in Lausanne (1927) gerade jene Themen, an denen sich die Spaltung entzündete, nämlich: Kirche, Sakramente, Glaubensbekenntnis und Amt. Ein möglicher Zusammenschluss dieser sehr verschiedenen und gegensätzlichen Kräfte wurde in der Botschaft des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (1920) erkennbar, der ein Bund oder Rat der Kirchen im Sinne gemeinsamer Studien und wechselseitiger Hilfe vorgeschlagen hatte. Damit trat – wenn auch zögernd – die Orthodoxie in die ökumenische Gesamtbewegung ein, die in ihrer organisierten und zumal theologischen orientierten Ausrichtung stark von Anglikanern bestimmt war und noch lange blieb.

Es dauerte noch lange, bis sich 1948 die Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung mit der Bewegung für Praktisches Christentum in Amsterdam zum Ökumenischen Rat der Kirchen zusammenschloss. Erst im Jahr 1961 erfolgte der Beitritt der Russisch-Orthodoxen Kirche und vieler orthodoxer Kirchen Osteuropas. Mit dem Internationalen Missionsrat nähert sich die letzte ökumenische Teilbewegung dem Weltrat der Kirchen an und wird integriert. Gleichzeitig erhielt die sogenannte "Basisformel" des Ökumenischen Rates der Kirchen ihre bis heute gültige Formulierung: "Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."

Die römisch-katholische Kirche begegnete der Ökumenischen Bewegung mit deutlicher Zurückhaltung und skeptisch. Freundlich, aber entschieden reagierte Rom mit Ablehnung auf entsprechende Einladungen. Sie wurde in der Enzyklika "Mortalium animos" aus dem Jahr 1928 scharf kritisiert. Schließlich besaß die katholische Kirche eine weltweite Ausbreitung und Kommunikation in sich selbst und konnte sich theologisch auch nicht als "Konfession" verstehen. Eine Wende tritt ein, als eine Instruktion des Heiligen Offiziums, Vorgänger der heutigen Glaubenskongregation, im Jahr 1949 die Ökumenische Bewegung als ein Zeichen des Heiligen Geistes würdigte und die Bischöfe aufforderte, sie zu fördern und wachsam zu begleiten. Das Anliegen der Einheit der Christen fand wachsendes Interesse und Engagement bei einzelnen katholischen Theologen und Gläubigen. In diesem Zusammenhang muss man auch das Entstehen der Gebetswoche für die Einheit der Christen sehen, in deren Geschichte sich die einzelnen Etappen in der Bemühung um einen "Geistlichen Ökumenismus" widerspiegeln, der katholischerseits besonders mit Abbé Couturier (1881-1953) verbunden ist. Diese zahlreichen Bemühungen sehr vieler Theologen und Gläubigen förderten trotz mancher Schwierigkeiten die Verbreitung und Vertiefung des ökumenischen Gedankens in der katholischen Kirche, der durch die Bibelbewegung, die Liturgische Bewegung und die Förderung des Laienapostolats zusätzliche Unterstützung bekam.

Diese innerkatholischen Bewegungen und pionierähnlichen Initiativen mündeten in die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Das Konzil anerkannte die Ökumenische Bewegung als gnadenhaftes Wirken des Heiligen Geistes an und schloss sich dieser Bewegung nach den Grundsätzen ihres Selbstverständnisses an, wenn sie auch nicht als Ganze Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirche ist. Das sogenannte Ökumenismusdekret "Unitatis redintegratio" aus dem Jahr 1964 ist dafür so etwas wie eine "Magna Charta". Zur ökumenischen Ausrichtung trugen wesentlich die offiziellen Beobachter aus den anderen Kirchen bei. 1965 waren es 103. Schließlich wurde gegen Ende des Konzils durch eine Gemeinsame Erklärung von Patriarch Athengoras I. und Paul VI. die gegenseitigen Exkommunikationen von 1054 "aus dem Gedächtnis und der Mitte der Kirche" gestrichen. Um eine authentische und synchrone Umsetzung des ökumenischen Willens des Konzils in allen Ortskirchen zu gewährleisten, hat das römische Einheitssekretariat, das Papst Johannes XXIII. mit besonderer Unterstützung durch Kardinal Bea und den Paderborner Erzbischof und späteren Kardinal Jaeger gegründet hatte, die nachkonziliare Zeit durch verbindliche Richtlinien begleitet, so z.B. das Ökumenische Direktorium. Die katholische Kirche betrachtet nun alle Menschen in getrennten christlichen Gemeinschaften in Verehrung und Liebe als Brüder und Schwestern. Das gemeinsame Band der Taufe, das trotz aller Spannungen die auseinanderstrebenden Christen zusammenhielt, gewährt eine gewiss unvollkommene aber grundlegende Gemeinschaft. Viele Elemente, aus denen insgesamt die Kirche Jesu Christi erbaut wird und ihr Leben gewinnt, existieren auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche: die heilige Schrift als Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube – Hoffnung – Liebe, Gaben des Geistes, Zeugen des Glaubens und verschiedene sichtbare Elemente (vgl. UR 3), die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sind als institutionelle Erscheinungen Mittel und Wege des Heils. Auch wenn die Spaltung menschliche Schuld einschließt, so darf die Verantwortung für die Trennung nicht jeden Menschen zu Last gelegt werden, "die jetzt in solchen Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen" (UR 3).

Auf diesem Fundament werden die Überwindung von Missverständnissen und Vorurteilen, die Aufnahme eines vertiefenden Dialogs, eine stärkere Zusammenarbeit in den Aufgaben des Gemeinwohls und eine notwendige Erneuerung der Kirche gefordert. Die Katholiken werden ermahnt, "dass sie, die Zeichen der Zeit erkennend, mit Eifer am ökumenischen Werk teilnehmen..., die wahrhaft christlichen Güter aus dem gemeinsamen Erbe mit Freude anerkennen und hochschätzen, die sich bei den von uns getrennten Brüdern finden... Denn was wahrhaft christlich ist, steht niemals im Gegensatz zu den echten Gütern des Glaubens, sondern kann immer dazu helfen, dass das Geheimnis Christi von der Kirche vollkommener erfasst werde" (UR 4). Solange die Trennung besteht, kann auch die römisch-katholische Kirche die ihr geschenkte Fülle der Katholizität in der Wirklichkeit des Lebens nicht voll entfalten. Das Ende des Konzils war zugleich das Startzeichen für eine große Zahl von gezielten Gesprächen über theologische und praktische Fragen der getrennten Christenheit.

Es scheint mir wichtig zu sein, dass wir uns immer wieder dieser großen, gewiss auch komplizierten Geschichte der Ökumenischen Bewegung erinnern. Sie enthält nach wie vor viele Anstöße und zeigt uns, dass wir in einer bestimmten Wegstrecke gerufen sind, an dieser großen Baustelle weiterzuarbeiten. Es ist ungewöhnlich viel erreicht worden, was vor Jahrzehnten noch undenkbar war. Dies darf uns aber nicht in problematischer Weise selbstzufrieden und selbstsicher werden lassen. Es ist der Geist Gottes, der uns immer wieder zum Dienst an der Einheit und zu einem neuen Aufbruch ruft. – Wir wollen uns stärker dem Gespräch der römisch-katholischen Kirche mit den reformatorischen Bekenntnissen zuwenden, ohne deswegen die bleibende Bedeutung des Dialogs mit den orthodoxen Kirchen geringer einzuschätzen.

II.

Die erste Phase ist von einer außerordentlich lebendigen Dialogsituation und durch viele praktische Vereinbarungen gekennzeichnet. Das Erbe der Ökumenischen Bewegung und des Zweiten Vatikanischen Konzils setzte sich, vor allem auf Gemeindeebene, im täglichen Leben sehr rasch und weitgehend problemlos durch. Man unterschätzt diese Fortschritte nur dann, wenn man den Ausgangspunkt vergisst: Statt Gleichgültigkeit und Vorurteilen, die Polemik und Abneigung hervorriefen, bestimmen Vertrauen und Zusammenarbeit weithin das Verhältnis der Gemeinden am Ort und der Amtsträger untereinander. Das neue Verhältnis wurde in vielen Bereichen des kirchlichen Lebens sichtbar: in der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen auf den verschiedenen Ebenen (ACK), in der gemeinsamen Bibelübersetzung, der Herausgabe gemeinsamer Kirchenlieder, in gemeinsam erarbeiteten Texten für die christlichen Grundgebete: Vater unser, Glaubensbekenntnisse und für zentrale liturgische Texte, in der Möglichkeit einer gemeinsamen kirchlichen Trauung, eines gemeinsamen Fürbittkalenders usw. Nicht zu vergessen ist die sogenannte "Mischehen-Regelung", die gemeinsame Seelsorge in der Begleitung konfessionsverschiedener, wir sagen heute auch: konfessionsübergreifender Ehen. Es sind gewiss oft kleine Schritte, aber es sind wesentliche und oft unterschätzte Voraussetzungen für eine tiefere Gemeinsamkeit, wenn z.B. die getrennten Christen die Schätze ihres Gebets- und Liedgutes auch miteinander singen und gemeinsam sagen können. Hinzu kommen zahlreiche Weisen der Zusammenarbeit im Bereich der Diakonie, in der Caritas wie z.B. in den gemeinsamen Beratungsdiensten und in den Sozialstationen. Hier darf man auch viele informelle ökumenische Gruppen, nicht zuletzt auf örtlicher Ebene, nicht vergessen: Nachbarschaftshilfe, Besuchsdienst in Wohnvierteln, ambulante Krankenpflege, "Essen auf Rädern". Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn sich Christen gemeinsam um die Nöte von Behinderten, um die Resozialisierung von Strafgefangenen und um Hilfen für Suchtkranke kümmern. Auf der "Grünen Woche", die regelmäßig in Berlin stattfindet, kann man sehen, wie sehr die Kirchen auch auf dem Lande miteinander wirken, um z.B. durch ein "Sorgentelefon" und durch die Beratung vor allem von Familien mit ihren Betrieben zu ermutigen und zu helfen.

Es gibt also ein Maß von Gemeinsamkeiten, das in früheren Zeiten unbekannt war. Alte Kampfparolen sind in stiller Korrektur begriffen. Aber es ist immer noch sehr mühsam, sie Schritt für Schritt abzubauen. Manche Konsense sind hauchdünn und müssen vertieft werden. Es ist darum keine billige Wiederholung, wenn die Ergebnisse theologischer Gespräche immer wieder zu ähnlichen Formulierungen kommen. Vielmehr ist es jeweils ein Test, der die Zuverlässigkeit von Übereinstimmungen prüft und erhärtet. Es ist wichtig, dass dies auf mehreren Ebenen, in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen und auch in unterschiedlichen Gesprächssituationen (bilateral, multilateral) geschieht. Man darf dabei das nicht unterschätzen, was in den ökumenischen Dokumenten "nicht-theologische Faktoren" genannt wird. Sie haben bei der Kirchenspaltung oft eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Heutige theologische Hindernisse im Verständnis des kirchlichen Amtes rühren zum Teil von faktischen Konstellationen der Reformationszeit her und sind nicht nur theologisch bedingt, was man z.B. im Blick auf das Bischofsamt an den Notverfassungen einleuchtend aufzeigen kann. Dies hat aber auch zur Konsequenz, dass die Trennung selbst bis in den sozialen, politischen, kulturellen und psychologischen Bereich hinein Folgen ausgeprägt hat, die uns heute zwar kaum mehr bewusst sind und gewiss im Schwinden begriffen sind, dennoch in säkularisierter Gestalt das Verhalten bestimmen. G. Schmidtchen (Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bern-München 1973) hat aufgezeigt, wie konfessionelle Merkmale im Alltagsverhalten, in der politischen Entscheidung, im Denken und im Fühlen maßgebend sind. Die Reformation steckt tief in den verschiedenen Verhaltensschichten des Menschen. "Protestanten leben in einem offenen System, ihre Welt ist nicht so weit durchformt wie die Welt eines Katholiken" ( Ebd., 462). Damals konnte z.B. geschlossen werden, Katholiken wären zögernder gegenüber der modernen Technik, Protestanten seien eher durch Selbstmord-Tendenzen gefährdet. Ich bin fest überzeugt, dass eine heutige Analyse ein Abschmelzen solcher Verhaltensweise als ein wichtiges Resultat an den Tag bringen würde. Aber die Zählebigkeit gewachsener konfessioneller Kulturen, die Überwindung tiefsitzender Vorurteile und die Veränderungsmöglichkeiten gewohnheitsmäßiger Verhaltensstrukturen werden immer noch fehleingeschätzt. Der Hinweis auf das Beharrungsvermögen jahrhundertelanger Entwicklungen darf freilich nicht in Richtung einer ökumenischen "Bremse" missbraucht werden. Aber ein Quentchen mehr historischen Bewusstseins und nüchterner sozialpädagogischer Einsichten kann vor hochgesteckten und gewiss idealen, jedoch bald enttäuschenden Prognosen bewahren. Dabei darf der Begriff und das Verständnis von "Konfession" nicht nur negativ abgrenzend und verengend aufgefasst werden, denn er macht auch konkret anschaulich, was eine religiöse Lebenswelt ist und was sie an sehr verschiedenartigen Äußerungen hervorbringen kann.

Das ökumenische Gespräch vollzieht sich auf vielen Ebenen. Es ist schon deutlich geworden, dass dazu in Konsequenz auch eine vielfältige praktische Kooperation gehört. Es wird noch deutlich werden, wie sehr die klassische Ökumene heute in unserem Land auch durch gemeinsame sozialethische Verlautbarungen gekennzeichnet ist. Deshalb muss die Rolle der Theologie in der Ökumene sorgfältig bedacht werden. Sie ist unersetzlich, denn das Ringen um Wahrheit darf nicht preisgegeben und muss mit allen heute zur Verfügung stehenden Mitteln durchgeführt werden. In diesem Sinne kann es keine Ökumene ohne Theologie geben. Es kann aber auch eine Selbstüberschätzung der Theologie geben, nämlich in der Annahme, allein in der wissenschaftlichen Retorte den Weg zur Einheit planmäßig konstruieren und vorschreiben zu können. Ganz gewiss muss die Theologie im ökumenischen Gespräch jenseits der klassischen theologischen Terminologie oder besser: im Durchgang durch sie neue vermittelnde Sprachformen wagen, um einen gemeinsamen Weg zu markieren. Dies ist nicht einfach. Oft ist es besser, die klassische Sprache, wenn diese möglich ist, von einem problematischen Vorverständnis zu befreien und zu reinigen. Aber gerade eine ökumenisch ausgerichtete Theologie, die jenseits der traditionellen Fronten neue gemeinsame Formulierungen wagen muss, darf die in Übereinkunft vereinbarten Aussagen nicht unbesehen vom Glaubenszeugnis der Kirchen ablösen und auf die Macht allein von freischwebenden Sätzen vertrauen. Eine abstrakte Synthese gemeinsamer Haltungen und Meinungen hat längst noch nicht Herz und Geist der Christen für sich gewonnen und die Bewährungsprobe in einer gemeinsamen kirchlichen Lebenswelt noch nicht bestanden. Gerade hier bedarf die ökumenische Theologie der sorgfältigen Verwurzelung in den konkreten Kirchen, ohne ihre nach vorne weisende Pionierfunktion zu verlieren. Die Theologie ist auf diese vielfache Rezeption angewiesen und stellt mit ihren Vorschlägen zunächst nur eine Einladung dar, ob die Kirchen sich nicht in der vorgeschlagenen Weise verstehen könnten. Die ökumenische Theologie des deutschen Sprachraums, die in hohem Maß akademisch ausgerichtet und spezialisiert ist – gewiss ein großer Vorteil –, ist hier nicht weniger gefährdet und muss m.E. auch mehr Kontakte zu den nicht deutschen ökumenischen Bemühungen suchen. Dies gilt z.B. für die Kenntnis der finnischen Luther-Forschung, aber auch für die Dialogergebnisse in den USA. Schließlich muss auch die Nähe zum vielfältigen Leben der Kirchen und nicht zuletzt auch zu den geistlichen Bewegungen eingebracht werden.

III.

Es gibt ein Maß von Gemeinsamkeiten, das auch mit dem Bild umschrieben werden kann, dass uns wie bei einer eingestürzten oder zerstörten Brücke noch viele verlässliche Pfeiler stehen geblieben sind und uns mehr Gemeinsames verbindet als Trennendes uns hindert. Dennoch gibt es bei allen Erfolgen noch bestehende Hindernisse. Sie werden angesichts der wiedergewonnen Gemeinsamkeit noch belastender. Es handelt sich hauptsächlich um drei Brennpunkte, die nicht zufällig zwischen Theorie und Praxis, Theologie und Alltag des Lebens angesiedelt sind: das Fehlen vollwertiger ökumenischer Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen, die uneingeschränkt anerkannt werden; die kirchliche Anerkennung und seelsorgliche Begleitung konfessionsverschiedener Ehen; das Warten auf eine gegenseitige Einladung und Anerkennung im Blick auf das Herrenmahl. Die Tragik der Kirchenspaltung erweist gerade im Persönlichsten, wie es Ehe und Familie darstellen, ihre stärkste Macht. Hier erleben viele Menschen die Jahrhunderte lange Entfremdung furchtbarer als im öffentlichen Verhältnis der Kirchen selbst.

Eine solche Situation ist schwierig. Der erste große Aufbruch scheint sich erschöpft zu haben. Die Hoffnung scheint nicht mehr zu tragen. Das Verhältnis der Kirchen zueinander erscheint trotz einiger Rückschläge in grundlegenden Fragen als entschärft. Ökumene ist auf allen Veranstaltungen und Ebenen hoffähig geworden. Wir spüren aber auch, dass dieses Klima nicht ungefährlich ist. Schwerwiegende Differenzen, über die noch zu reden sein wird, werden eher zurückgestellt. Sie stören und sind lästig. Man geht ihnen aus dem Weg. Hier gibt es gewiss auch eine falsche Höflichkeit. Man hat sich dann in dem, was erreicht worden ist, recht und schlecht eingerichtet. Aber der notwendige Schwung ist oft lahmer geworden. Es lässt sich nicht leugnen: Je geringer die Differenzen werden, um so schwieriger kann der Dialog werden. Es besteht die Gefahr, dass immer weitere Unterschiede beigebracht werden, welche vielleicht keinen entscheidenden Rang haben. So erscheint plötzlich der Ablass so viele trennende Aspekte aufzuweisen, dass man dies – manchmal ohne es zu wollen – gegen die Grundvereinbarung in der Rechtfertigungslehre wendet. Diese objektiv heikle Situation kann leicht zu falschen Grundeinstellungen führen. Man verfällt in Resignation, weil der ökumenische Frühling vorüber ist. Vielleicht hat man da und dort auch zu sehr und auch zu unreflektiert auf irreale Hoffnungen gesetzt. Viele sehen nur noch einen Stillstand auf dem Weg zur Einheit; der offizielle Ökumenismus bestätige nur sich selbst; darum sei der Rückzug auf kleine, lebendige Basisgruppen der Ökumene die einzige Rettung; die etablierten Kirchen seien letztlich reformunfähig und unbußfertig; eine Stärkung dieses Ökumenismus sei sogar unerwünscht, weil er nur die konservativen Kräfte in den Kirchen stützte. So wird der Aufruf zum eigenen, nur aus dem ökumenischen Gewissen geborenen Handeln verständlich, das in antizipatorischer Zivilcourage das tun soll, was ohnehin längst geboten sei. Andere erblicken in dem angeblichen Stillstand erste Anzeichen einer innerkirchlichen Beruhigung. Sie sind ohnehin der Meinung, dass die ökumenische Bewegung den Kirchen am Ende nur schade, denn sie begünstigen einen Identitätsverfall der einzelnen Konfessionen, der in der Zeit der schleichenden oder offenen Erosion religiöser Kräfte ohnehin drohe, oder den Indifferentismus sowie die Bildung einer "Dritten Konfession", also von Christen ohne Kirche.

Es gehört zur Nüchternheit und auch Glaubwürdigkeit der ökumenischen Arbeit, dass man sich des bleibenden Wegcharakters bewusst sein muss. Dabei werden Enttäuschungen und auch manchmal rückläufige Tendenzen unvermeidlich sein. Es gibt nie im Leben breite Straßen ohne verschlungene Pfade, Umwege und Holzwege, Abwege und Irrwege. Dennoch wäre es fatal, wenn eine resignierende Grundstimmung sich gegen ihre letzte Absicht daran beteiligen würde, dass immer noch brennende ökumenische Feuer löschen zu helfen. Wer die gewachsenen Differenzen in ihrer Tiefenwirkung zu gering schätzt und auf ihre ernsthafte Aufarbeitung meint verzichten zu können, wird nur Scheinerfolge erreichen können. Nach meiner Erfahrung sind jedoch nicht gedeckte Schecks in der Ökumene besonders gefährlich, weil nach ihrer Entlarvung die Enttäuschung besonders groß ist. Ökumene braucht den langen Atem. Sonst kann es geschehen, dass Resignation und Revolte sehr dicht beieinander wohnen.

IV.

Der Dialog unterscheidet sich von Unterhaltung und Gespräch durch eine spezifische Zielsetzung. Er ist von Hause aus auf das Erreichen eines Konsenses ausgerichtet. Das Ziel ist eine theologische Übereinstimmung um der kirchlichen Einheit willen. Die Übereinstimmung muss freilich nicht alle Verschiedenarten aufheben, sondern will nur jene überwinden, die kirchliche Gemeinschaft verhindern. Wir sprechen von kirchentrennenden Differenzen. Bei der Konsensbildung bilden darum Divergenzen und Konvergenzen eine entscheidende Rolle. Auch wenn nämlich ein hoher Konsens erreicht wird, ist es noch längst kein Maximal- oder Totalkonsens. Entscheidendes Kriterium ist die Frage, ob eine Divergenz kirchentrennenden Charakter hat. In den letzten Jahrzehnten ist die Hermeneutik des ökumenischen Gespräches gerade in dieser Hinsicht intensiv entwickelt worden. Ich sehe keine grundlegende Alternative zu ihr.

Unter diesen Voraussetzungen bezieht sich das Gespräch vor allem auf folgende Gebiete:

Verständnis und Praxis der Eucharistie: Hier ist der Konsens wohl sehr groß. Dies gilt für das Verständnis der realen Gegenwart Jesu Christi. Im Sakrament des Herrenmahls, aber auch hinsichtlich des Wandlungs- oder Transsubstantiationsgedankens. In der Frage nach dem Opfercharakter der Eucharistie haben sich die Fronten erheblich angenähert. Dass die Eucharistie in striktem Rückbezug auf die Lebenshingabe Jesu Christi am Kreuz ohne Schmälerung dieses ein für allemal sich ereignenden Geschehens "Opfer" im Sinne einer lebendigen Erinnerung des Kreuzesgeschehens genannt werden kann, wird zwar von Nichtkatholiken mehr und positiv zur Kenntnis genommen, freilich jedoch selten oder gar nicht zu eigen gemacht. An dieser Stelle bedarf es sorgfältiger und geduldiger Weiterarbeit.

Das ordinierte Amt: Hier ist man sich in einem hohen Maß einig über die von Gott selbst herrührende Stiftung eines besonderen Amtes in der Kirche. Wie immer die Kirche an der Gestaltung und Ausformung dieses Amtes beteiligt ist und auch hier eine gewisse Freiheit besitzt, so sehr ist es in seiner grundlegenden Existenz der Kirche vorgegeben, sodass sie nicht beliebig darüber verfügen kann. Es versteht sich vom Amt Jesu Christi her. Einigkeit besteht auch in der Übertragung des besonderen kirchlichen Amtes durch die Ordination (Gebet der Kirche unter Handauflegung). Die theologische Verbindlichkeit ist jedoch umstritten. Man ist sich einig darüber, dass man faktisch so verfährt oder so verfahren will. Die Ordination als notwendige Voraussetzung einer gültigen Feier des Herrenmahles ist offenbar (noch) nicht ausreichend konsensfähig. Das Problem der Sakramentalität der Ordination befindet sich immer noch etwas im Zwielicht, ist aber der weiteren Klärung in einem positiven Sinne zugänglich. Die prinzipielle Apostolizität des Amtes ist nicht kontrovers. Sie ist auch Fundament für jede Form "Apostolischer Sukzession", also einer ununterbrochenen Weitergabe der amtlichen Vollmacht und Zeugenschaft von den Aposteln bis in die Gegenwart. Man muss allzu simple Vorstellungen von dieser Sukzession abwehren. Es ist nicht einfach eine Kette mit automatischer Verknüpfung. Immerhin erkennen auch die reformatorischen Kirchen in dieser personalen Nachfolge ein wertvolles Zeichen und ein Instrument zur Wahrung der Apostolizität der Kirche. Diese Fragen bedürfen in nächster Zeit einer grundlegenden Neubearbeitung. Hier genügt es auch nicht, die klassischen theologischen Religionen zu befragen. Hier muss man auch auf die Verfassung, das Recht und vor allem die Liturgie der Kirche zurückgreifen. Sie sagt vielleicht mehr über die Ordination als die systematische Theologie allein. Dabei will ich nicht den Grundsatz gefährden, dass die "lex credendi" auch die "lex orandi" ist. In diesem Bereich ist in den letzten Jahren aus noch zu erläuternden Gründen vieles, was als Einladung zu größerer Einheit bereitliegt, etwas brach liegengeblieben. Ich halte die Einheitschancen hier für gut, aber es bedarf in mancher Hinsicht eines mutigen spirituellen Entscheids.

Die Autorität in der Kirche: Alle Autorität kommt von Jesus Christus. Die Heilige Schrift hat den Primat innerhalb einer Hierarchie von Autoritäten inne. Die Traditionen dienen der Auslegung der Schrift und dürfen schon darum nicht in Antithese zu ihr gestellt werden. Der Verbindlichkeitsgrad der Überlieferungen ist freilich weniger konsensfähig. Einig ist man sich auch in der Überzeugung, dass ein Amt der "episkopè", d.h. der Aufsicht und Einheit auf der überörtlichen Ebene, notwendig ist. Schwieriger wird es, wenn man sagen soll, wie und wo dieser Dienst sich konkretisieren soll. Es gibt dabei verschiedene Akzentsetzungen synodal-kollegialer Art und episkopal-primatialer Bedeutung. Die Kirchen ohne verfasstes Bischofsamt sehen im Episkopat ein hilfreiches Zeichen und einen wertvollen Aspekt, aber keine vom Wesen der Kirche her gegebene Notwendigkeit. Hier liegt trotz erheblicher Annäherungen immer noch ein letzter, bis jetzt wohl auch kirchentrennender Unterschied. Die Geister scheiden sich bereits an einer wichtigen Vorfrage, ob nämlich die Ausformung des einen besonderen Amtes – das gemeinsam angenommen wird – zu den unaufgebbaren Grundstrukturen des Wesens der Kirche und damit zur unveränderlichen, unaufgebbaren "Substanz" der Kirchenordnung gehört. Dasselbe gilt für das Papsttum, das in einem erstaunlich hohem Maße Gegenstand der ökumenischen Dialoge ist. Auch hier gibt es freilich beträchtliche Konvergenzen. Man verneint nicht mehr grundlegend die Möglichkeit eines universalen Leitungs- und Einheitsdienstes. Wenn das Papsttum jedoch dieses Amt der Einheit darstellen soll, bedarf es nach einer schon sehr frühen und immer wieder aufgenommenen Formulierung des sogenannten Malta-Dokumentes (vgl. Nr. 66/67) der "Theologischen Reinterpretation und der praktischen Umstrukturierung". Hier bleibt freilich vieles offen, ob nämlich ein solches Leitungsamt universaler Art für die Kirche konstitutiv ist oder nur eine wünschenswerte Struktur darstellt. Der Papst selbst hat in der Enzyklika "Ut unum sint" zu einem intensiven Gespräch dazu eingeladen. Aber auch hier ist manches vor allem durch die Art der Amtsausübung des Papstes und der Kurie fragwürdig geworden und ins Stocken geraten.

Es lässt sich jedoch nicht übersehen, dass diese und andere Fragen, vor allem auch der Marien- und Heiligenverehrung, durch die am 31. Oktober 1999 unterzeichnete Vereinbarung zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche eine ganz neue Dimension erhalten haben. Da ich an anderer Stelle sehr oft über die Tragweite dieses Dokumentes gesprochen habe, möchte ich auf keine Einzelheiten eingehen. Es kommt mir darauf an, dass hier im Zentrum der inneren und äußeren Genese der Reformation ein Einvernehmen gefunden worden ist, dass trotz verbleibender Unterschiede in Grundwahrheiten des Rechtfertigungsverständnisses keine kirchentrennenden Hindernisse gegeben sind. Dies ist ein Mark- und Meilenstein in der ökumenischen Gesprächsserie. Die Diskussion darüber und auch die bleibende Ablehnung nicht weniger evangelischer Theologen zeigen aber deutlich, wie manches noch tiefer geklärt und fortgeführt werden muss. Dies geschieht z.B. im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, der sich demnächst mit dem "Gerecht und Sünder zugleich" befassen wird und dazu einen Text vorbereitet. Vor allem aber ist auch weiterhin noch die Verbindlichkeit des Dokumentes für das Alltagsleben der Kirche und die Glaubensunterweisung zu klären.

Inhaltlich wird die Weiterarbeit nicht zuletzt darin bestehen, dass im Zusammenhang der Rechtfertigungsbotschaft die gemeinsamen Fundamente für das Verständnis der Kirche und des Kircheseins bedacht werden müssen. Die Frage nach den Sakramenten und dem Amt kann dadurch auch leichter und besser gelöst werden, wenn man sie in diesen größeren Kontext der Kirchenfrage einbezieht.

Wenigstens kurz muss ich jedoch auf eine andere Sache zu sprechen kommen. Mit einem gewissen Recht hat gerade in der deutschsprachigen Ökumene die Aufarbeitung der theologischen Grundfragen im Vordergrund gestanden. Hier ist auch noch manches zu tun, wenn ich nur an das noch längst nicht erledigte Projekt "Lehrverurteilungen", aber auch an Probleme wie Schrift – Tradition – Lehramt denke. Aber in der Zwischenzeit ist auch langsam eine zweite, nicht minder tragfähige Säule ökumenischer Verlautbarungen gewachsen, die sich nämlich mit der Frage der Grundsätze für die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung befassen. Dies ist oft übersehen worden. Ich habe an anderer Stelle diese Thematik ausführlich behandelt. ( Vgl. Ökumene – wohin? hrsg. von B. J. Hilberath und J. Moltmann, Tübingen 2000, 113-131.) Wir haben jedoch gerade in der Bundesrepublik Deutschland viele gemeinsame Erklärungen zu diesen Problemen formuliert: zum Verhältnis zwischen den Grundwerten und den Zehn Geboten, zur Förderung des unteilbaren Lebensschutzes – "Gott ist ein Freund des Lebens" -, zu Fragen medizinischer Ethik (Pränatale Diagnostik, Sterben in Würde, Transplantation, Xenotransplantation), Klimaschutz, Mediengesellschaft usw. Eine zentrale Stellung nimmt hier das in Jahren erarbeitete Dokument "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" ein. Fast unübersehbar sind die zahlreichen Äußerungen zum Sport und zu Fragen der Entwicklungspolitik und Welthandelsordnung. Die Gemeinsamkeit erstreckt sich auch auf Stellungnahmen zu Problemen innerhalb der Europäischen Union. Durch die gemeinsamen Stellungnahmen sind die Kirchen in vielen Bereichen wieder ein sehr ernst zu nehmender Partner im öffentlichen Diskurs geworden.

Zu den gemeinsamen Bemühungen gehören aber auch die Begegnungen der Repräsentanten der Kirchen selbst, nicht zuletzt auch die gemeinsamen Gottesdienste. Ich denke hier nicht nur an regelmäßige Konsultationen und Abstimmungen, sondern auch an ein gemeinsames Auftreten, wie z.B. bei der EXPO in Hannover oder mitten in der BSE-Krise bei der "Grünen Woche" in Berlin. Dies sind nur wenige Hinweise auf ein intensives Geflecht von Beziehungen, die wenig im allgemeinen Bewusstsein sind, sich freilich auch ein wenig der Öffentlichkeit entziehen. Dieser Faktor persönlicher Beziehungen und konkreter Zusammenarbeit darf jedoch nicht völlig ausgeklammert werden, da er die Annäherung und Einigung wesentlich verstärkt.

V.

Ich habe nun wenig von den letzten Ereignissen gesprochen, vor allem über die Erklärung "Dominus Iesus" vom 6. August 2000. Auch hierüber ist in den letzten Monaten Grundlegendes und Klärendes gesagt worden. Der Papst, der in den letzten Jahren unübersehbar kräftige ökumenische Akzente gesetzt hat, hat auch in seinem letzten Apostolischen Schreiben "Novo millennio ineunte" vom 6. Januar 2001 keinen Zweifel gelassen, wie wichtig ihm der "ökumenische Einsatz" ist (vgl. S. 72-75). Ich will nur nochmals kurz das Wesentliche zusammenfassen: "Dominus Iesus" richtet sich vornehmlich gegen theologische Tendenzen, in Folge durchaus begrüßenswerter Initiativen zu einer Inkulturration der Christologie vor allem in Asien und Theorien zum Pluralismus der Religionen in Europa, die heilsmittlerische Stellung Jesu Christi zu gefährden. In der Tat hängt hier alles vom "Christus solus" ab, was ja gerade nach den neueren Forschungen für die Rechtfertigungsbotschaft von größter Bedeutung ist. Hier gibt es eine große Gemeinsamkeit. Diese Chance hätte man besser nützen sollen. Dies wurde jedoch weitgehend verdeckt durch die verkürzte Art und Weise, wie über die Einzigkeit der Kirche Jesu Christi gesprochen worden ist. Hier ist nichts Neues gesagt, was im Gegensatz zum Zweiten Vatikanischen Konzil stünde. Was im Text zu finden ist, schafft nicht zuletzt deshalb Probleme, weil es zu knapp ist, vieles vorausgesetzt wird, was aber nicht bekannt ist, der Ton auch nicht gelungen ist. Ähnliches gilt für die Aussagen zum Judentum und zu den nichtchristlichen Religionen. Es besteht kein Zweifel, dass sich hier offenbar Probleme verbergen, die bisher zu wenig beachtet worden sind. Die Diskussion über die Rechtfertigungsbotschaft hat so viel Kraft und Aufmerksamkeit gefordert, dass manche wichtige ökumenische Fragen für einige Zeit lang zurückgetreten sind. Dazu gehört gewiss das Problem von Kirche und Kirchesein. Dabei geht es nicht um einen allgemeinen Begriff von Kirche, seine religionssoziologische oder staatskirchenrechtliche Bedeutung, sondern um die theologische Qualität des Kircheseins. Es entsteht auch die Frage, in welcher Dichte eine Glaubensgemeinschaft "Kirche" in diesem Sinn sein will. Diese Frage müssen wir auch an unsere evangelischen Partner richten. Warum bezeichnet sich die Vereidigte Evangelisch-Lutherische Kirche (VELKD), nicht aber die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als Kirche im theologischen Sinn? Hier gibt es genug zu tun.

Die Art und Weise, wie diese Erklärung der Öffentlichkeit vermittelt und auch in manchen Medien interpretiert wurde, hat der Ökumene geschadet. Es gibt viele Menschen, die irritiert und verletzt sind. Es gibt aber auch heillose Übertreibungen. In der Erklärung "Dominus Iesus" steht nichts, was man nicht immer schon gewusst hat. In diesem Sinne hat sie zwar begreiflichen Ärger verursacht, aber sie kann auch zum Anlass werden, grundlegenden Fragen nachzugehen, die vielleicht zu lange hintangestellt worden sind. In diesem Sinne sollte die dadurch entstandene Verwirrung produktiv genutzt werden, um uns noch besser zu verstehen. Wir haben, nicht zuletzt im Licht der Vereinbarung zur Rechtfertigungslehre, gute Chancen dafür. In diesem Sinne sehe ich zwar gewisse Irritationen, aber mit gutem Willen von allen Seiten kommen wir auch hier wichtige Schritte voran. Dabei ist die Frage nach den Modellen der Einheit, den ökumenischen Einheitsvorstellungen, eine ganz wesentliche Aufgabe, die schon längst der weiteren Bearbeitung harrt. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Fragen nach dem Kirchesein und nach dem Ort des Amtes klären.

Wir haben guten Grund, zuversichtlich zu sein. Ich sage dies nicht zuletzt auch im Blick auf die handelnden Personen in der Ökumene. Es ist ein gutes Zeichen, dass Papst Johannes Paul II. Bischof Walter Kasper nicht nur zum Kardinal ernannt hat, sondern dass er wohl auch bald die höchste Verantwortung im Einheitsrat in Rom übernehmen wird. Lassen Sie mich an der Stelle, an der er sechs Jahre als Professor für Dogmatik gewirkt hat, ihn in großer Mitfreude herzlich grüßen und ihm für seine Aufgabe Gottes reichen Segen wünschen. Dazu gehört gerade in dieser Woche und am Vorabend des Festes der Bekehrung des heiligen Paulus das inständige Gebet für die Einheit der Christen. Der einstige Generalsekretär der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung, Oliver Tomkins, hat es einmal so formuliert: "Selbst angesichts der tiefen Spaltungen... finden die Herzen vieler Christen ihre tiefste Gewissheit, dass der Pfad zur Einheit nicht für immer verschlossen sein wird, in der Tatsache, dass das ernste Gebet in diesem Geiste bereits ein wachsendes Heer in allen Konfessionen vereinigt. Andere Waffen mögen stumpf werden, aber niemand kann die Wirksamkeit dieser Waffe des selbstverleugnenden Gebetes bezweifeln, auch wenn wir ihre Wirkung nicht ermessen können."

Redemanuskript
Copyright: Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz