Predigt am Vorabend des Tages der Arbeit

30. April 2005, im Mainzer Dom

Datum:
Samstag, 30. April 2005

30. April 2005, im Mainzer Dom

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Ein Grundwort unseres Glaubens heißt „Umdenken“, „Weiterdenken“, „neu denken“. Es ist keine falsche, aber auch keine ganz ausreichende Entwicklung, wenn wir dieses Wort vom Umdenken durch unsere Übersetzungen ganz eingeschränkt haben auf „Buße tun“. Wie gesagt, das ist nicht falsch. Wir müssen manchmal von einem falschen Weg abkommen und umdenken auch in diesem Sinn, dass wir merken: Wir sind in die Irre gegangen. Wir müssen Schuld auf uns nehmen, wir müssen Buße tun, wir müssen umkehren, und das heißt natürlich auch Umdenken. Aber wir dürfen nicht vergessen, was dieses Wort in der griechischen Sprache „metanoeite“ bedeutet: Kehrt um, denkt um, denkt anders, denkt neu! Aber auch: Denkt weiter, bleibt nicht einfach stehen bei euren Vorurteilen und bei dem, was ihr zu wissen meint, sondern lasst euch immer neu anregen, auch schöpferisch Neues zu erkunden, zu erfinden und den Mut haben, in fremdes Gelände hineinzugehen.

Das kommt einem unwillkürlich in den Sinn, wenn man sich erinnert, wo wir heute in Europa stehen. Am kommenden Sonntag, dem 8. Mai, blicken wir zurück auf 60 Jahre nach der Kapitulation am 8. Mai 1945. Wir können wahrlich dankbar sein, auch das gehört zu diesen Tagen, dass wir auf 60 Jahre Friedenszeit in Europa zurückblicken dürfen. Das hat es vorher nie gegeben. Wir sehen aber nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern blicken auch darauf, dass wir in der Europäischen Union zusammengewachsen sind. Das ist die beste Garantie dafür, dass wir nicht wieder neu die Waffen gegeneinander erheben. Wir haben uns vielfach miteinander verbündet, wir sind voneinander abhängig, wir können gemeinsam vieles erreichen. Es war ganz bestimmt ein Ereignis, dessen Größe und dessen Bedeutung wir vor einem Jahr gar nicht genügend erfasst haben, auch als Aufgabe zu wenig begriffen haben, dass nun zu den 15 alten zehn neue Mitglieder in der EU gekommen sind.

Wir sprechen – und das ist zunächst durchaus erlaubt, um ein einfaches Wort zu gebrauchen - von der „Osterweiterung“. Aber das kann auch ein gefährliches Wort werden, weil es so aussieht, als ob wir eigentlich im Westen als europäische Union mit den alten Mitgliedern gleichsam schon fertig wären. Das ist zu einfach. Europa ist immer größer gewesen als nur der Bestand der Völker im Westen. Dafür hat unser verstorbener Heiliger Vater Johannes Paul II. ein besonders waches Gespür gehabt als Pole. Er sagte: Europa hat zwei Lungenflügel. Europa atmet im Westen und im Osten. Gerade auch zur slawische Kultur gehören viele slawische Sprachen, und die Menschen gehören zu diesem Europa. Europa wäre nur halb verstanden, wäre gar nicht ganz begriffen, wenn wir vieles einfach ausschließen. Es ist ja die Größe Europas gewesen, dass man sich in dieser langen Geschichte voller Auseinandersetzungen, von Gewalt und Blut, aus den vielen Kulturen immer wieder zusammengefunden hat. Das Erbe der Bibel, des Judentums, des Alten Testaments, das Erbe Griechenlands, Roms, der germanischen Völker, aber auch all derer, die vielleicht nur teilweise Europa mitgeprägt haben, die heute oft eher im Gegensatz dazu stehen: All das gehört auch dazu. Auch der Islam hat in vieler Hinsicht Europa mitgeprägt, nicht nur in Spanien, nicht nur im ehemaligen Jugoslawien und den heutigen Ländern. So müssen wir umdenken, wenn wir etwas harmlos von „Osterweiterung“ sprechen: Wir kommen aus vielen Kulturen und Sprachen zusammen.

Kein Wunder, dass das dann manchmal ein schwieriger Schmelztiegel ist, wo vieles gärt, wo vieles sich auch überhaupt erst finden muss. Ich denke, das haben wir in diesem einen Jahr gespürt. Heute müssen wir aufpassen, dass manche Enttäuschung, manche Schwierigkeit, uns nicht zu einer grundlegenden Skepsis führt, zu einer Euroskepsis wie man heute sagt. Am Ende dieses Monats Mai werden in ganz besonderer Weise schicksalsschwere Tage sein, wenn etwa in Frankreich durch eine Volksabstimmung die Entscheidung fällt über die Zustimmung zur europäischen Verfassung. Die Skepsis kann noch wachsen, wenn wir die Probleme sehen, die vor allen Dingen auch durch das Zusammenkommen der Länder aus Ost- und Südosteuropa vor unseren Augen stehen. Da gibt es gewiss Schwierigkeiten, aber die müssen und können wir nur gemeinsam meistern. Wir dürfen nicht nur auf die Vorteile schauen, wenn wir dann von diesen Vorteilen auch mit neuen Aufgaben belastet werden. Es wird sich jetzt zeigen müssen, ob wir fähig sind, miteinander einen europäischen Sozialstaat zu schaffen. Wir dürfen nicht einfach billige Arbeitskräfte bei uns nutzen, wir können nicht alle unsere Vorteile behalten wollen: Das kann und wird so nicht funktionieren! Wir brauchen neue Formen der Integration, wir müssen gemeinsam in einen wirklich europäischen Sozialstaat hineinwachsen, brauchen dafür Planungen, brauchen dafür Vereinbarungen, damit dies Schritt für Schritt gelingt. Dabei müssen wir manche Denkgewohnheiten verlassen und müssen sehen, dass wir in größeren Kategorien denken; dass wir auch die anderen Vorstellungen, die anderen Einstellungen, die anderen geschichtlichen Erfahrungen der Menschen aus ganz Europa mit hineinnehmen.

Das werden wir uns auch am kommenden Sonntag, dem 8. Mai, sagen lassen müssen. Das ist für uns ein Tag der Befreiung von der Naziherrschaft. Es liegt unheimlich viel Leid in der Geschichte unseres Landes. Die Menschen vor allem in Osteuropa wurden an diesem Tag aber nur sozusagen „halb“ befreit, denn sie wurden in eine neue Diktatur hineingezwungen. Das macht diesen Tag nicht nur zu einem Tag der Befreiung. Das sollten wir mitbedenken und mitüberlegen. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir als Christen nicht immer wieder die Augen weit aufmachten, damit wir die Zeichen der Zeit verstehen und erkunden. Zeichen der Zeit finden wir auch in diesen konkreten gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Der Glaube verlangt uns ab, dass wir schöpferische Ideen haben, damit wir neue Wege gehen können, dass wir nicht bloß bei ausgetretenen Pfaden und Gewohnheiten und Vorteilen bleiben, sondern dass wir wirklich gemeinsam in die Zukunft gehen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz