Predigt an Allerheiligen

1. November 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Dienstag, 1. November 2005

1. November 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Ist das nicht ein Stück weit wie im Märchen, was wir in den Seligpreisungen Jesu lesen? Ist das wirklich unsere Welt, in der dies alles geschehen kann? „Selig, die keine Gewalt anwenden"; „selig, die barmherzig sind" und „selig, die verfolgt werden". Ist das nicht irgendeine Utopie, eine Vision vielleicht, die uns trösten soll? Aber ist das unsere Welt?

Wir haben schon im Neuen Testament das Wort „Heilige" nicht zuerst für heilig und selig Gesprochene, für besonders herausragende Menschen. Alle Mitglieder der Gemeinde werden vielmehr als Heilige angesprochen. Da mag mancher die Flucht ergreifen und sagen: Damit habe ich nichts zu tun. Da kann ich mich nicht einreihen. Ich habe in meinem konkreten Leben ganz andere Dinge zu tun. Ich habe Hände, die sich gelegentlich auch beschmutzen müssen. Ich komme da nicht überall auf den hohen Anspruch der Heiligkeit.

Dieses uralte Fest ist für uns alle ein sehr ermutigendes, aber auch ein weises Fest. Da kommt es nicht nur darauf an, dass es Patriarchen und Apostel, Märtyrer und besonders herausragende Zeugen gibt. Es gibt nicht nur die großen Heiligen, die wir kennen, und die wir alle lieben: Augustinus, Franziskus, Ignatius und wie sie heißen. Es wird uns vielmehr gesagt: Dieses Evangelium, diese Seligpreisungen, die kann man leben; da kann man an ein Ziel gelangen. Es ist es wirklich so, dass man dies auch verwirklichen kann und nicht einfach nur ein Traum, eine Vision, ein Programm, das in der Ferne bleibt. Und das ist - denke ich - von ungeheuer großem Trost für uns.

Es sind dabei nicht nur bestimmte Menschen, bestimmte Frauen und Männer, würdig, dass sie zur Ehre der Ältäre erhoben werden. Wir wissen, da sind viele, freilich nicht Namenlose, aber solche, die wir nicht besonders auszeichnen durch eigene Denkmäler, es sei denn durch Denkmäler unseres Herzens. Darum ist es gut zu sagen: Alle, was immer sie tun, welche Berufe sie immer ausüben, wo sie immer stehen, Arm und Reich, ganz unabhängig von allen Fragen der Bildung, des Standes, der Rasse und Klasse können solche Freunde Gottes werden. Ich empfinde es immer als besonders tröstlich, dass dabei Könige genauso wie Bettler sind. Niemand ist ausgenommen von dieser Verheißung, dass einer, wo immer er steht und wo immer er lebt, dieses Evangelium leben und verwirklichen kann. Damit ist das Evangelium eben gerade nicht irgend ein visionär-utopisches Programm, sondern durch das Zeugnis von Menschen, aber nur durch das Zeugnis von Menschen, wird es Wirklichkeit in unserem Leben.

Deswegen ist es auch eine Verheißung für uns selbst, für uns alle, dass wir durchaus mit der Gnade Gottes fähig sind, diesen Weg zu beschreiten. Vielleicht armselig, vielleicht mühsam, wie der hl. Paulus sagt: wie durch Feuer hindurch, aber doch so, dass man an das Ziel kommen kann. Darum feiern wir auch Allerseelen.

Die Kirche hat von jeher von sich selbst gesagt, dass sie nicht bloß aus denen besteht, die jetzt in dieser Weltzeit leben. Die Kirche erschöpft sich nicht einfach in dem, was wir jetzt sehen. Ja, gerade auch die Vollendeten gehören zur Kirche. Sie stehen nicht einfach neben uns, wir können mit ihnen nicht selbstverständlich reden, die Hand auf ihre Schultern legen. Aber wir wissen, dass sie sozusagen in unsere Welt hinein schauen; sie ermutigen uns, und sie sagen zu uns: Geh diesen Weg, geh diesen verrückten Weg, keine Gewalt anzuwenden, tröste auf diesem Weg Trauernde und tröste, wo alle anderen sich aus dem Staub machen. Sie gehören zu unserer Welt, indem sie uns sagen: Es lohnt sich! Man kann etwas erreichen. Mach dich auf den Weg, lass dich nicht abbringen von anderen!

Wenn wir unsere bekannten Heiligen ansehen, dann sind es freilich oft Menschen, die zwar in weißen Gewändern kommen. Sie haben die Palme in der Hand als ein Zeichen des Sieges, als Zeichen, an das Ziel gekommen zu sein. Aber sie sind auch in ihren weißen Gewändern von Blut befleckt. Das zeigt, dass sie durch vieles hindurch mussten, durch Schmerz und Verzicht, Unverständnis und Leid, Ungerechtigkeit und vielleicht sogar durch einen ungerechten Tod als Märtyrer.

Der Hebräerbrief, der in ganz besonderer Weise weiß, wie wertvoll diese Wolke der Zeugen des Glaubens ist, sagt an einer Stelle: „Sie, deren die Welt nicht wert war" (Hebr 11,38). Da müssen wir uns immer wieder fragen, ob wir uns genügend bemühen, diese uns verheißene Welt in unser eigenes Leben hineinzubringen und von da aus wieder Zeugnis zu geben für das Evangelium. Wir sind überall da, wo wir leben und wo wir stehen, zu Zeugen gerufen. Dann spüren wir, dass es gut ist, dass es diese Heiligen für uns gibt im Alltag unseres Lebens.

Heute ist es manchmal merkwürdig, wie viele Menschen sich schwer tun mit der Existenz und dem Glauben an Gott, mit Engeln aber keine Schwierigkeiten haben. Sie sagen: Von der Existenz der Schutzengel bin ich absolut überzeugt, auch wenn sie nie von Gott sprechen. Da hat schon die alte Kirche ihre Probleme, wenn man die Engel überschätzt hat. Aber vor den Engeln sind noch die Freunde Gottes, die aus unserem eigenen Leben kommen. Sie können uns wirklich ein Beispiel sein, wo es nicht einfach eines Eingreifens Gottes bedarf, wie bei dem einen oder anderen Schutzengel, wenn wir über gefährliche Wege gehen. Das sind vielmehr die Menschen wie du und ich. Von denen wissen wir, dass es sie in großer Zahl gibt. Die Offenbarung spricht von der Zahl 144.000 (Offb 7,4). Das ist selbstverständlich die Zahl der Fülle. Zwölf mal zwölf und tausendfach - das bedeutet eine Fülle, die niemand einfach umfassen kann. Diese Fülle kann niemand zählen.

Wir feiern ein großes Fest der Hoffnung, und es ist für mich immer ein großer Erweis gewesen für die göttliche Herkunft der Kirche, dass sie sich nicht hat verführen lassen, nur eine Kirche nur der Wenigen, der Auserwählten, der Elite, der besonders Frommen und der besonders Reinen zu sein. Sie hat allen eine Chance gegeben und immer wieder auch über sich hinaus gewiesen. Gott hat das Heil nicht einfach nur denen versprochen, die in der Kirche sind. Er hat es auch all denen versprochen - heute sagen wir: die nach ihrem Gewissen leben und nach ihrem Gewissen entscheiden. Ob wir sie jetzt „Anonyme Christen" oder „Christen inkognito" nennen oder wie immer, das ist sekundär. Es gibt sie, aber nicht haufenweise. Es ist ein besonderes Geschenk, wenn sie außerhalb der Heilswege Gottes das Ziel erreichen können. Sie können uns aber auch oft beschämen, wenn wir das, was uns geschenkt ist an Möglichkeiten, nicht zuletzt auch durch die Seligpreisungen, selbst nicht glauben und meinen, es wäre ein schönes Märchen, eine schöne Utopie. Da sagt uns das Fest Allerheiligen: Dies ist das Fest einer festen Hoffnung. Es ist nicht bloß irgendein Optimismus, dass alles gut gehen wird. Es ist nicht bloß ein Fest unverbindlicher Güte, sondern ein Fest begründeter Zuversicht. Wir dürfen hoffen, weil Gott so viele an ihr Ziel geführt hat. Das gibt auch Mut für uns. Amen.

 

(c) Karl Kardinal Lehmann 

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz