Predigt an Allerseelen

2. November 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Mittwoch, 2. November 2005

2. November 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Schrifttexte: Sach 2, 14-1; Mt 12, 46-50

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Jeder muss Rechenschaft ablegen vor Gott – das war gerade das letzte Wort aus dem 16. Kapitel des Römerbriefes. Vielleicht haben wir manchmal im Lauf einer langen Geschichte daraus auch viel Angst produziert, Menschen verunsichert. Aber es ist nicht damit getan, dass man manche falschen Wege dadurch zu verbessern sucht, dass man nun gleichsam ins andere Extrem fällt und glaubt, Gott ist ein ewig guter Opa, der über alles hinwegsieht. Das wäre auch eine Verachtung der Würde des Menschen. Denn das, was wir tun, hat Gewicht, und eigentlich dürfen wir voraussetzen, dass wir gerade wichtige Entscheidungen überlegt, frei und absichtlich tun. Wir tragen dafür auch Verantwortung, und nur deswegen kann es eigentlich so etwas wie ein Gericht geben. Gott nimmt uns ernst in dem, was wir tun, und in dem, was wir unterlassen. Wenn wir nüchtern auf unser eigenes Leben schauen, dann wissen wir, wie gemischt unser Leben ist. Von Gutem und weniger Gutem – es muss nicht immer ganz böse sein. Dass da auch viel Gleichgültigkeit und Feigheit ist, das gehört sozusagen weder auf die eine, noch auf die andere Seite. Deswegen ist es ganz gewiss auch eine wichtige und gute Erfahrung über uns selbst, dass wir wissen: Wir sind nicht treu, aber auch nicht immer untreu. Es steht immer ein Stück weit dazwischen. Das ist aber keine gesunde Mitte, sondern die Mitte unserer Verhältnisse.

Deshalb ist es eine weise Entdeckung und Erfahrung, das Beibehalten einer wichtigen Einsicht, wenn die Kirche wähnt, dass die allermeisten Menschen zu Gott kommen, indem sie noch viel aus diesem Leben Ungeklärtes mitbringen. Dinge, denen wir davonlaufen, Dinge, die wir ewig im Herzen herumgetragen haben, Dinge, die wir nie bereinigt haben – ja es gibt so etwas, wie es die Tradition sagt, „Reliquie peccati“, Überbleibsel, Reste der Ursünde und unserer eigenen Sünden. Auch wenn sie uns vergeben sind, machen wir oft ja nicht so recht ernst damit, sind - wie wir sagen-, nachtragend. Vieles lebt in uns weiter. So ist der Gedanke richtig und entspricht unserer menschlichen Erfahrung, dass wir alle viel mitbringen aus unserem Leben, wenn wir hinübergehen.

Dass dies vor Gott keinen Bestand hat, und dass wir darum der Reinigung bedürfen, ausgedrückt in dem schönen, uralten Bild vieler Religionen und ganz besonders der Bibel, dass Gott wie ein Feuerstrahl ist, wie ein Blitz. In diesem Sonnenstrahl wird hell und klar, was wir sind. Da wird nicht mehr geflunkert, da gibt es keine unaufgeklärten Schatten mehr, da können wir uns nicht selbst einfach davonlaufen. Da sollte man nicht zuerst an einen Ort denken, wenn wir vom Fegefeuer reden, das ist zuallererst einmal ein Geschehen vor Gott. Und der hl. Paulus sagt an anderer Stelle in seinen Briefen, dass wir diese Seligkeit bei Gott nur erreichen können wie durch Feuer hindurch. Wir müssen geläutert, gereinigt werden. Wenn wir dann Gott sehen in seiner ganzen Herrlichkeit, dann durchzuckt es uns, wie viel Unbereinigtes wir mit uns herumgeschleppt haben. Dann erschrecken wir, wie hell Gott ist und wie dunkel doch unser Leben ist. Dann sind wir auch mit Schmerz erfüllt, dass wir es früher nicht gemerkt haben, dass wir früher nicht entschieden genug waren, dass wir im Trott unseres Lebens geblieben sind ohne wirklich umzukehren. Doch dann besteht auch Freude darüber, dass wir zu Ihm kommen, dass Er uns aufnimmt trotz unserer Schwäche, trotz unserer vielen Schatten. Darum gehört an diesem Tag Schmerz und Freude, Traurigkeit und Hoffnung zusammen. Dann ist der rechte Moment da, dass wir von der Barmherzigkeit Gottes sprechen. Wenn wir reuige Sünder sind, wenn wir wirklich offen gestanden haben, wie es um uns steht, dann hat er auch ein großes Verständnis für uns. Darum ist das Gericht Gottes, wenn wir Rechenschaft ablegen, nicht einfach nur zu vergleichen mit einem strengen menschlichen Richter, sondern dann ist ER derjenige, der sich zu uns herabbeugt und uns annimmt, so wie der Vater den verlorenen Sohn wieder angenommen hat. Das ist ja ein Bild für Gott.

Meine lieben Schwestern und Brüder, Allerheiligen und Allerseelen gehören zusammen. Wir sind nicht nur Menschen mit großen Geschichten, von denen Legenden erzählt werden, von denen es Heldenbücher gibt, sondern da gibt es auch viel Durchschnittliches, Mittelmäßiges. Und doch ist das etwas, was auch von Gott gesehen wird. Gott blickt noch tiefer, als wir uns selbst verstehen. ER erkennt, was hinter unserem Leben steht an Motiven, gerade auch an guten Absichten; gerade dann, wenn sie nicht verwirklicht werden können, ohnmächtig stecken bleiben, erkennt ER doch unseren guten Willen.

So gehört zu diesem Tag auch, meine lieben Schwestern und Brüder, das Gedächnis an die Toten. Wir denken heute bewusst auch an die Toten, die wir in der Hektik und Schnelligkeit unseres Lebens zu rasch vergessen. Es sind die Toten, die vielleicht schon länger tot sind. Wir wissen aber, dass wir ihnen viel verdanken: Eltern, Geschwister, Freunde, ja auch Seelsorger, vielleicht auch Lehrer. Es sind viele, unzählige. Es gibt viele Menschen in unserem Leben, die uns mit ihrer Treue, mit ihrer Wahrhaftigkeit, mit ihrer Hilfsbereitschaft, mit ihrer Sorge für andere zur Seite gestanden sind, und wir vergessen sie nicht – auch im Blick auf uns selbst. Sie rufen uns zu, dass wir – solange wir können – unser Leben ändern. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

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von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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