Der Brief an die Kolosser hat uns in der Lesung soeben mit folgenden Worten die österliche Botschaft zugerufen: "Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit." (3,3f.)
In diesen Worten ist alles enthalten, worum es heute geht. Christus, unser Leben: Dies ist schon die ganze österliche Botschaft. Wir hungern alle nach Leben und rennen ihm nach. Es ist immer wieder ein eindrucksvolles Zeichen für Leben, dass wir stets neu aufbrechen und trotz Enttäuschungen weiter nach Erfüllung suchen. Ohne dieses Regen und Streben wären wir in jeder Hinsicht tot. Aber wir wissen auch, dass dieses Verlangen nach Leben zu einer unersättlichen Gier werden kann. Wir können nicht genug bekommen, verbrauchen alles ohne Rücksicht auf nachfolgende Generationen. Dies kann wie eine Sucht werden, und zwar beim einzelnen und in unserer Gesellschaft. Nicht selten hat man den Eindruck, wir würden dieser Raffgier alles opfern, weil wir insgeheim Angst haben, in diesem beschränkten Leben nicht alles zusammenzubringen, wonach wir streben. Dann wäre am Ende die Angst vor dem Tod der eigentliche Motor unserer immer mehr beschleunigten Umtriebigkeit.
Demgegenüber sagt uns Ostern: Jesus Christus ist unser Leben. Aber viele antworten immer noch: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Aber hier ist ein Leben, das keine Angst mehr hat vor dem Scheitern und dem Sterben. Da ist Leben jenseits des Todes. Dieses Leben vergeht nicht mehr, ganz besonders wenn wir es im Glauben an Gott einsetzen für andere. Hingabe und Liebe sind das einzige, was wir durch alle Vergeblichkeit und Vergänglichkeit hindurch bleibend retten können. "Sie (die Liebe) erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf." (1 Kor 13,7f.) Darum haben wir an Ostern diese unbesiegliche Freude, weil uns ein solches Leben geschenkt ist.
Aber ist dies nicht alles doch eine Illusion? Ein wirkliches, aber am Ende eben unwirkliches Märchen? Wird nicht ständig in unserer Welt brutal Leben zerstört: in Tschetschenien und Simbabwe, bei Katastrophen aller Art und durch unheilbare Krankheiten, durch sinnlosen Zufall und geplante Zer-störung, durch Hass und Wahnsinn? Ist dieser Traum einer heilen Welt nicht letztlich der Grund, warum viele Menschen dem christlichen Glauben entlaufen? Wird dies nicht noch dadurch gerechtfertigt, dass wir aufgerufen werden nach dem zu streben, was "oben", im Himmel ist: "Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische!" (3,2) Ist dies gegenüber den vielen Sorgen um die Menschen dieser Zeit nicht eine erbärmliche Weltflüchtigkeit, die sich nur lebensfremde Menschen leisten können? Ostern lädt uns ein, ja zwingt uns geradezu, wenn wir nur ein bisschen wollen, etwas näher an die Sache heranzugehen. Denn es heißt ja: "Euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott."
Es ist also nicht so, dass dieses heile Leben schon fix und fertig vor uns liegt. Man kann es nicht handgreiflich und anschaulich jedem vermitteln, wie wir oft glauben möchten. Es ist da, dieses unzerstörbare Leben. Aber es ist nicht eine unwiderstehliche Naturkraft oder eine dem menschlichen Geist eigene Unsterblichkeit. Dieses unzerstörbare Leben ist nur durch den Glauben zugänglich (vgl. Kol 2,12). Außerdem kann uns nur der Glaube an eine Person mit ihrer Botschaft, nämlich Jesus Christus, dieses Leben schenken. Nur in und mit ihm können wir Anteil daran erhalten. Alles andere ist eine schwärmerische Vorstellung. Das Heil ist nicht in ungebrochener Fülle sichtbar vorhanden. Der Tod ist nicht einfach verschwunden. Die Auferstehung der Toten ist noch nicht geschehen (vgl. 2 Tim 2,18). Aber das alte Leben des Hasses und der mangelnden Sensibilität, der Raffgier und der Rücksichtslosigkeit mag zwar noch im Vordergrund stehen, aber es hat eigentlich schon den Kampf verloren und ist untauglich für den wirklichen Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Aber dies ist unseren Augen, die so sehr auf die Oberfläche der Dinge gerichtet sind, nicht unmittelbar zugänglich. Vielmehr ist dieses neue Leben - und jetzt muss man auf jedes Wort achten - mit Christus in Gott verborgen.
Dieses Wort "verborgen" kommt im Neuen Testament nicht so oft vor. Schließlich hat Jesus Christus Licht und Leben gebracht. Er will das Leben der Menschen jetzt schon erhellen und alle Finsternis vertreiben. Darum ist so viel Jubel da über das Kommen des Heils. Wir dürfen auch nie einfach verkennen: "Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung." (2 Kor 6,2) Aber deswegen dürfen wir nicht an der wichtigen Wahrheit vorbeilaufen, dass das Heil schon jetzt nach unserer Welt greift, aber noch nicht vollendet ist. Deswegen ist es uns auch nicht erspart, dass wir mitten im Streit Frieden schlichten, elend Sterbende unterstützen und bei ihnen bleiben, das Schwache nicht wegstoßen und die Hoffnungslosen nicht einfach aufgeben. Wir brauchen gerade in den unlösbar erscheinenden Aufgaben diesen unerschöpflichen Mut zum Aufbruch, der uns nicht kleinkriegt. Diese Verborgenheit des Sieges Gottes kann einem gewiss auch zur Verzweiflung bringen, so wie Jesus den Versuchungen und Anfechtungen ausgesetzt war, und zwar bis zu Todesangst und Gottverlassenheit im Garten Getsemani. Vor all diesen Anfechtungen und Herausforderungen, die uns im persönlichen Leben, in unserer Nähe und auch weltweit so oft unlösbar scheinen, dürfen wir nicht die Augen schließen und dürfen auf keinen Fall kapitulieren.
Die christliche Hoffnung, die aus dem Sieg über den Tod geboren ist, behält gerade deshalb eine unbändige Kraft, aber sie kann tatsächlich - manchmal auch für längere Zeit - sehr verborgen sein. Deswegen kommt es darauf an, dass wir die Durststrecken des Lebens, die Nächte der Verzweiflung und die Niederlagen in Vergeblichkeit überstehen, ihnen trotzen und sie im Zeichen des Kreuzes bestehen. Diese Hoffnung ist nur deshalb wirklich begründet, weil das unverlierbare Leben mit Jesus Christus in Gott verborgen ist. Nur er kann uns halten, wenn alles bodenlos wird. Nur er wahrt die Würde des Menschen, wenn das Antlitz zerschlagen wird. Nur er gewährt eine letzte Freiheit, die durch nichts genommen werden kann. Wenn dieses Leben verborgen ist, heißt dies ja nicht, dass es für uns nicht da wäre. Es ist nur den Blicken der Menschen entzogen und nicht greifbar. Unsere Hoffnung wird nicht zuschanden, vielmehr gilt die Gewissheit: "Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr offenbar werden in Herrlichkeit." (3,4) Wir sind und bleiben auf diese künftige Vollendung angewiesen und wissen, dass wir ihr in irdenen, brüchigen Gefäßen und in Furcht und Zittern entgegenwandern.
Aber der neue Anfang ist bereits wirksam. Ihm vor allem müssen wir vertrauen, wie es kein geringerer getan hat als der große Glaubenszeuge Dietrich Bonhoeffer, der im Angesichts des gewaltsamen Todes sagen konnte: "Der auferstandene Christus trägt die neue Menschheit in sich, das letzte herrliche Ja Gottes zum neuen Menschen. Zwar lebt die Menschheit noch im Alten, aber sie ist schon über das Alte hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt des Todes, aber sie ist schon über den Tod hinaus, zwar lebt sie noch in einer Welt der Sünde, aber sie ist schon über die Sünde hinaus. Die Nacht ist noch nicht vorüber, aber es tagt schon."
Amen.
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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