Predigt bei der Glockenweihe in St. Stephan

am 27. September in Mainz

Datum:
Samstag, 27. September 2008

am 27. September in Mainz

Oft kommt uns unsere Zeit eintönig und gleichförmig vor, deshalb manchmal auch fade und langweilig. Bestenfalls empfinden wir, dass sie zu langsam oder zu schnell verläuft. In Wirklichkeit aber stimmt dies so nicht. In unserer Lebenserfahrung gibt es Knotenpunkte und ausgezeichnete Stationen, wie zum Beispiel Taufe, Hochzeit, Tod. Diese Lebenssituationen bringen Freude, sie machen aber auch Not und Katastrophen deutlich. In solchen Zeiten haben die Glocken einen tiefen Sinn . Sie machen diese Ereignisse, ob mehr privat oder allgemein, öffentlich, erinnern daran und rufen die Menschen zusammen.

Aber die Glocken sind noch in stärkerem Maß eine Zeitansage. Sie markieren wichtige Einschnitte in unserem Alltagsleben: Sie läuten - wie wir gerne sagen - den Sonntag ein, um die Sonn- und Feiertage von den Arbeits- und Werktagen zu unterscheiden und hervorzuheben. Sie läuten am Morgen, oft auch am Mittag und am Abend. Ja, sie ordnen unsere Zeit noch genauer, indem sie Stunden anzeigen, ja nicht selten sogar Viertelstunden.

Damit wird unsere Zeiterfahrung markiert. Es ist nicht alles in unserer Zeit gleich-gültig. Es gibt hervorgehobene Zeitsituationen. Oft denken wir gar nicht mehr daran, wie zum Beispiel beim Abendläuten. Wir dürfen gerade im Blick auf die außerordentlichen Gelegenheiten des Läutens, wie zum Beispiel Taufe und Hochzeit, diese unauffällige Ordnung unserer Zeit nicht vergessen. Die Glocken erinnern uns im Wandel der Tage, besonders am Morgen und am Abend, auch an das persönliche Gebet. Daran knüpft auch der alte Brauch an, zu diesen Zeiten den „Angelus" („Engel des Herrn") zu verrichten.

Manchmal meint man, heute könne man auf das Läuten der Glocken verzichten. Schließlich hätten alle Menschen wenigstens eine Armbanduhr. Man müsse nicht mehr anzeigen,. wie früh oder spät es ist. Nicht wenige stört auch das Läuten. So gibt es auch Menschen, die nicht verstehen, warum man heute viel Geld ausgibt für neue Glocken und für einen Glockenturm. Aber die Zeitansage und die Gliederung unserer Zeit mit Hilfe der Glocken sagt ja viel mehr: unsere Zeit ist ein Geschenk, sie ist kostbar, sie schenkt uns viele Möglichkeiten, wir sollten sie „auskaufen", sie gibt uns vielleicht einmalige Möglichkeiten, macht uns unsere Lebenschancen bewusst.

Die Glocken haben so viele Aufgaben. Sie dienen auch dazu, die Mitglieder einer Gemeinschaft zusammenzurufen und den Beginn des Gottesdienstes anzuzeigen. Damit werden wir auch an unsere Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, vor allem zur Gemeinschaft des Glaubens, erinnert. Da durch das Läuten allen dieselbe Stunde angezeigt und die selbe Einladung überbracht werden, weist die Glocke auch auf unsere Gemeinschaftsverpflichtung und auf unsere Solidarität hin. Dies wird besonders offenkundig, wenn Menschen aus dieser Gemeinschaft abberufen werden und nicht mehr unter uns sind. Seit alter Zeit wird beim Tod und / oder bei der Beerdigung die Totenglocke geläutet. Ähnlich ist es, wenn besondere Ereignisse für alle angezeigt werden, zum Beispiel Katastrophen, Feuer, Überschwemmungen.

Die Glocken machen uns aber auch den Rhythmus eines Jahres, besonders eines Kirchenjahres bewusst.Es gibt in den meisten Kirchen eine Läuteordnung. Die großen Feste, wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten werden in besonderer Weise durch das Glockenläuten eröffnet und begleitet. Bei großen Ereignissen, an die wir erinnert werden sollen, läuten die Glocken, wie zum Beispiel in Erinnerung an die Bombardierungen unserer Städte, an die Gründung einer Stadt, an die Schrecken der Pogrome (z.B. Reichskristallnacht am 09./10. November 1938.

So helfen uns die Glocken, dass wir die Zeit unseres Lebens, einzeln und gemeinschaftlich nicht einfach einebnen. Die Glocken helfen uns, unser Leben, nicht zuletzt unsere Jahre, Monate und Tage in ihrem Gefüge und in ihrer Ordnung zu verstehen. So machen uns die Glocken auf das Geheimnis der Zeit für das Leben der Menschen aufmerksam. Wir vergessen dies gewöhnlich im Trubel und Stress der Termine und der Daten. Es ist nicht alles gleich-gültig. Die Glocken helfen uns, unser Leben besser zu erkennen und zu sichten, vielleicht es auch dann, wieder zu ordnen.

Ein wunderbares Zeugnis für den Sinn der Glocken habe ich bei dem kürzlich verstorbenen großen russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn gefunden:

„Schon immer waren die Menschen

selbstsüchtig und oft wenig gut, aber

das Abendläuten erklang, schwebte

über den Feldern, über dem Wald. Es

mahnte, die unbedeutenden, irdischen

Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken

der Ewigkeit zu widmen. Dieses

Läuten bewahrte die Menschen davor,

zu vierbeinigen Kreaturen zu werden.

In diese Steine, in diese Glockentürme

legten unsere Ahnen ihr Bestes, die

ganze Erkenntnis eines Lebens."

Es ist also nicht so abwegig, wenn wir sagen, dass mit den Glocken uns auch Gott zu erreichen sucht. Indem die Glocken vom Geheimnis der Zeit und vom Sinn unseres Lebens künden, sprechen sie direkt oder indirekt von Gott. Gott hält unsere Zeit in seinen Händen. Die Glocken verkünden auf ihre Weise. Sie erinnern uns schon durch ihren Klang an die Höhen und Tiefen unseres Lebens, an die Vielfalt und Andersartigkeit der Menschen. Aber gerade in ihrer Vielfalt, wenn sie auch jeweils auf einen eigenen Ton eingestimmt sind, so dass wir von einer d-Glocke, einer g-Glocke und einer fis-Glocke sprechen, gut zusammenklingen, ein eindrucksvolles Geläut ergeben. Und dies gilt nicht nur für die Glocken einer Kirche oder eines Turmes, sondern auch für die Abstimmung mit den Glocken in der Nachbarschaft oder gar in einer Stadt. So wird das gemeinsame Erklingen auch zu einem Sinnbild des menschlichen Lebens, nicht zuletzt in der Gemeinschaft eines Dorfes oder einer Stadt.

So ist es verständlich, dass wir manchmal Glocken fast wie Personen behandeln. Sie rufen ja auch und haben eine Stimme. Darum ist es auch ein guter Brauch, dass die Glocken Namen erhalten. In unserem Fall sind es, wie auch sonst häufig, die Kirchenpatrone: Maria von Magdala, Stephanus und Willigis. Pfarrer Stefan Schäfer hat in seinem schönen „Brief an die Pfarrgemeinde" die Bedeutung dieser drei Patrone für die Gemeinde gut umschrieben. Um den Sinn und die Bedeutung der einzelnen Glocken noch zu unterstreichen, hat der Wiesbadener Künstler Eberhard Münch passende Symbole und Zeichen auf die Glocken aufgetragen.

Wenn die neuen drei Glocken nun geweiht sind und nach dem Ausbau des Glockenstuhls mit der alten Beatrix-Glocke, der drittältesten in unserer Stadt aus dem Jahr 1493, und - so hoffen wir - am 27. Februar 2009 im Rahmen des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt Mainz im Jahr 1945 erklingen, dann hat dies noch eine ganz besondere Bewandtnis. St. Stephan ist in ganz besonderer Weise eine Kirche des Friedens und der Versöhnung. Dies gilt schon am Anfang ihrer Erbauung, als Erzbischof Willigis St. Stephan als eine Gebetsstätte für den Frieden errichtet hat. Dafür ist diese Kirche gestiftet. Indem der große jüdische Maler Marc Chagall uns die in der Zwischenzeit wohl weltberühmten Glasfenster für diese Kirche geschenkt hat, ist diese Stiftung noch viel tiefer geworden. Er hat trotz der Erfahrung von so viel Hass und Zerstörung, die für sein Volk aus unserem Land kamen, die Mauern der Fremdheit überwunden und uns ein wichtiges Zeichen der Verständigung zwischen Juden und Christen, der Versöhnung zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk, aber auch des Friedens für alle Menschen hinterlassen. Dieses Vermächtnis ist Erbe und Auftrag zugleich, für uns und die kommenden Generationen. Damit wird konkret anschaulich, was das Zweite Vatikanische Konzil oft zum Ausdruck gebracht hat, wenn es die Kirche als ein „Grundsakrament" bezeichnet, ein „Zeichen und Werkzeug des Friedens und der Versöhnung". Die Fenster, die Glocken, der Bau selbst und auch der Kreuzgang, der zur notwendigen Besinnung einlädt, gehören zusammen.

Jetzt wundern wir uns nicht mehr, warum wir Glocken haben, sie wieder wollten und auch jetzt wieder weihen werden. Sie sind nicht nur ein Museumsstück. Es ist dabei aufschlussreich, dass die Glocken wahrscheinlich vor einigen Tausenden Jahren von Asien über den Nahen Osten, schließlich aber besonders über die Klöster (in der Wüste und über die Kultur der Benediktiner-Abteien), zu uns gekommen sind. Man kennt sie in zahlreichen Religionen. Sie weisen uns auf das Geheimnis der Zeit, damit unseres Lebens und schließlich so auf Gott selbst.

Darum beten wir auch im Zusammenhang der Weihe: „Segne diese Glocken, die dein Lob künden. Sie sollen deine Gemeinde zum Gottesdienst rufen, die Säumigen mahnen, die Mutlosen aufrichten, die Trauernden trösten, die Glücklichen erfreuen und die Verstorbenen auf ihrem letzten Weg begleiten. Segne alle, zu denen der Ruf dieser Glocken dringen wird und führe so deine Kirche von überallher zusammen in dein Reich."

Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz