Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Papst Benedikt XVI, ist durch und durch ein Mann, der von der weltverändernden Kraft des Evangeliums überzeugt ist. Er ist ein Mann, der auf die Macht des Wortes vertraut. Deshalb wendet er sich in den Gottesdiensten immer wieder den biblischen Lesungen zu. Dies wollen wir heute nach seinem Beispiel auch tun.
Wir haben soeben das Evangelium des Weißen Sonntags gehört. Auch wir heute haben ähnlich wie Thomas Fragen an das Ostergeschehen: Was hat sich denn wirklich am Ostermorgen ereignet? Was konnte man sehen? Was ist uns heute zumutbar?
Niemand ist bei der Auferweckung Jesu durch Gott unmittelbar dabei gewesen. Es ist ein geheimnisvolles Handeln, das nur Gott selbst zugänglich ist. Aber was die Auferstehung bedeutet und bewirkt, wird uns in den Erscheinungen Jesu Christi offenbar. Dazu gehört die Thomasgeschichte. Am Abend des Auferstehungstages kommt Jesus zu den verängstigten Jüngern. Sie erkannten ihn nicht nur an seinen Worten, sondern er zeigte ihnen auch seine durchbohrten Hände und seine Seite. Jetzt entstand Freude unter ihnen. Sie haben Jesus gesehen, nicht nur mit den leiblichen Augen, sondern auch mit den Augen des Herzens.
Einer war nicht dabei. Thomas ist auch sonst ein eigenwilliger Kopf, der offen mit Jesus umgeht und seine Bedenken auch sonst nicht verschweigt (vgl. Joh 14,4 f.; 11,16; 20,24; vgl. auch Mt 28,17; Mk 16,11-14; Lk 24,11.25.38.41). Er will handgreiflich die Male der Nägel an den Händen und die Seitenwunde nicht nur sehen, sondern die Finger und die Hand hineinlegen. Er will einen regelrechten Beweis.
Thomas wird dafür weder von Jesus noch von den Aposteln getadelt. Er wird mit seinen Fragen ernst genommen. Wir dürfen im Glauben Fragen stellen und auch unsere Zweifel zur Sprache bringen. Was wäre die Bibel ohne die Klage und den Protest, ohne Hiob und das Rechten der Propheten mit Gott? Nein, Thomas darf nicht wegen seiner forsch erscheinenden Art gescholten werden. Er hat ein Menschenrecht auf eine Antwort.
Freilich bekommt er eine andere Antwort, als er denkt. Acht Tage später sind die Jünger wieder um ihn versammelt. Diesmal ist er dabei. Es ist wieder Sonntag. Jesus geht überraschend, beinahe entwaffnend auf Thomas ein: „Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!“ Thomas darf die Probe aufs Exempel machen. Aber gerade hier lässt uns die Geschichte im Stich. Es wird nicht erzählt, was Thomas getan hat. Wir wissen es nicht. Ich glaube eher, dass Thomas auf den handgreiflichen Beweis verzichtet hat, weil der Herr ihm so eindringlich begegnet ist; seine Zweifel sind durch die lebendige Gegenwart des Herrn schlagartig überwunden worden. Jeder Glaube ist bei allem Suchen nach Verstehen immer auch ein Sprung: Wir müssen uns mit unseren Bedenken einmal loslassen, um mit frischen Augen eine neue Wirklichkeit überhaupt erkennen zu können.
Dies ist jedoch kein blinder Satz in den Abgrund. Die Male der Nägel an den Händen und die Wunde an der Seite sind auch wichtig, weil sie Thomas Jesus als den Gekreuzigten, den er ja kannte, wieder erkennen lassen. Es ist kein Phantom oder ein Schwindel, denn die Wundmale unterstreichen ja in besonderer Weise das konkrete Leiden und den unerbittlichen Tod Jesu. Er ist es wirklich. Jesus lebt.
Thomas möchte handgreiflich sehen. Aber nun wird auch er von Jesus auf die Probe gestellt. Er soll sich zwar nicht ohne Wenn und Aber, aber doch offen und ohne zwangshafte Vorstellung auf das einlassen, was er wirklich sehen kann. Er soll sich nicht verschließen und gegenüber einer neuen, vielleicht unerhörten Wirklichkeit nicht blind werden. Zweifel und Bedenken darf Thomas haben, aber er soll sich darin nicht einmauern, sondern offen auf die unverstellte Wirklichkeit zugehen und sehn, was ihm begegnet. Sonst kann man nicht zum Glauben kommen. Dies meint Jesus mit dem Wort: „... und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“
So engagiert und beinahe schroff Thomas mit seinen Bedenken umgeht, so sehr lässt er sich nun auch auf den erkannten, auferweckten Herrn ein. Er antwortet auf das, was er gesehen hat. Das Unverständnis mündet jetzt in das Einverständnis. Er ruft Jesus in einem einmaligen Bekenntnis an: „Mein Herr und mein Gott!“ Thomas hat unerbittlich gefragt, jetzt zögert er nicht im Geringsten, sich auch zu Jesus zu bekennen. Wer radikal fragt und den Mut hat, bis zum Ende zu gehen, der nimmt die Antwort auch tiefer und dankbarer an, wenn er sie findet. Darum ist das Bekenntnis des Thomas auch das tiefste und höchste Glaubenszeugnis für Jesus Christus im ganzen Neuen Testament. Das Johannesevangelium gelangt hier zu einem unbestreitbaren Höhepunkt und schließt sich wie ein Kreis mit seinen ersten Worten zusammen: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Das Wort war Gott!“ (1,1)
Das Evangelium endet so ursprünglich mit einem zuerst dunklen, überraschenden Wort: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Thomas konnte in einzigartiger Weise den Herrn sehen. Diese Zeit der Apostel ist vorbei. Aber unser Glaube ist nicht einfach blind. Wir glauben, weil Thomas und andere gesehen haben. Darum sind wir auf den Glauben der Apostel angewiesen. Aber weil sie auch und gerade ihre Zweifel nicht verborgen haben, können wir ihnen und zumal Thomas wirklich Vertrauen schenken.
Thomas ist einer von uns. Wir dürfen so sein wie er. Der Herr nimmt beide, Thomas und uns Spätgeborene, auf diesen Weg des Sehens und des Glaubens mit. Und dies geschieht, wie auch die Geschichte der Emmaus-Jünger zeigt (vgl. Lk 24,13-35), vor allem auf einen doppeltem Weg, wo er uns auch heute noch unmittelbar wie damals gegenwärtig werden kann: In seinem Wort und in seinem Mahl, jetzt in der Eucharistiefeier. Darum werden auch wir selig gepriesen.
(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort
von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz
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