Predigt im Abschluss-Pontifikalgottesdienst zum 1000-jährigen Domjubiläum

im Dom zu Mainz am 15. November 2009

Datum:
Sonntag, 15. November 2009

im Dom zu Mainz am 15. November 2009

(Fernsehübertragung durch das ZDF)

Am Ende des Jubiläumsjahres wollen wir mit dem Kirchenjahr auf die Vollendung des Menschen schauen. Es geht wie bei den tausend Jahren um einen Weg, um den Menschen als Pilger zwischen den Zeiten. Wir leben ja nicht im Wahn, als ob wir ewig existierten. Wir leben auf ein Ziel hin, das wir erreichen möchten.

Das Ziel erreicht man nur aus bestimmten Situationen und mit gewissen Mitteln. Wie beides zusammengehört, zeigen uns die Heiligen. Wir dürfen nur kein Zerrbild und keine Karikatur von ihnen machen. Was heilig bedeutet, lässt sich nicht in erster Linie durch die Aufzählung bestimmter Eigenschaften klären. Heilig ist Gott, und das, was zu ihm gehört. Das ist bereits für das Alte Testament der Tempel, das sind Geräte für den Gottesdienst, das sind die Priester im Dienst; dies gilt im gewissen Sinne auch für Israel als Volk.

Zum Heiligsein gehört vor allem, dass etwas - und gar Personen - ganz Gott geweiht ist. Wir sind durch Gott von den Verstrickungen in die Sünde befreit und sollen uns nicht mehr vom Zauber des Bösen und der Bosheit gefangen nehmen lassen, auch nicht uns verführen lassen durch Reichtum, Macht und Prestige. Darum wird im Alten und Neuen Testament zu uns gesagt: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig." (vgl. Lev 19,2, vgl. Mt 5,48; 1 Petr 1,16). Diese Heiligkeit wird besonders verwirklicht in einer Reihe sozialer Gebote, die von Regeln für das Recht der Armen zur Nachlese auf Äckern und im Weinberg, über Vorschriften zur gerechten Lohnzahlung bis hin zum Gebot der Liebe zu den Nächsten und zu den Fremden reichen. Diese Heiligung ist nicht ein Werk der Menschen, sondern die Befreiungstat Gottes. Nur durch diese Rettung können wir den bösen Mächten in uns und um uns herum entkommen und so leben, wie es Gottes Willen entspricht. Aber gerade wenn wir in diesem Sinne geheiligt sind, sind wir auch immer zur Verwirklichung des neuen Lebens in unserem Alltag aufgerufen. So nennt das Neue Testament die lebenden Christen „Heilige" (z.B. Röm 1,7; 1 Kor 1,2; Kol 3,12; 2 Kor 1,1; Phil 1,1 usw.).

Darum kann man aber auch in jedem Stand zur Heiligkeit berufen werden. Es gibt heilige Bettler und heilige Könige, Frauen und Männer, Junge und Alte. Die bekannten und die unbekannten Heiligen machen uns Mut, das Dasein eines Christen in allen Lebenssituationen zu verwirklichen. Jesus Christus ist kein unerreichbarer Idealmensch, kein Göttersohn, der uns ganz ferne ist. Der Glaube ist kein hohles Versprechen, keine schöne Utopie, keine unerreichbare Vision, „zu schön, um wahr zu sein". Vielmehr sind alle Heiligen ein realer Erweis dafür, dass Gottes Reich ganz in unsere Nähe gekommen ist und auf viele Weisen durch unser Glaubens- und Lebenszeugnis verwirklicht werden kann. Die namentlichen und die anonymen Heiligen zeigen uns also die elementare Wahrheit des Pauluswortes, das wir zum Leitmotto des Jubiläumsjahres gemacht haben: „Denn Gottes Tempel ist heilig - und das seid ihr!" (1 Kor 3,17b). Die Heiligen zeigen uns, dass wir wirklich zur Änderung unserer Welt berufen und befähigt sind, wenn wir uns nur selbst dazu ändern lassen.

Deswegen wollen wir dieses Jubiläumsjahr auch ausmünden lassen mit einem Blick auf die Heiligen unseres Bistums. In den Fürbitten werden wir sie besonders zu unserem Schutz anrufen. Der Mainzer Heiligenschrein erinnert uns an sie. Wir können unschwer ihre Namen verbinden mit einem Auftrag des Christen auch in unserer heutigen Zeit. Es sind heilige Bischöfe und heilige Frauen, Kontemplative und Aktive, Männer und Frauen, verborgene Einsiedler und bekannte Fürsten. Immer wieder erinnert uns die Bibel an die große Zahl derer, die sich vor dem Bösen bewahrt haben und dadurch Heilige geworden sind. Der Hebräerbrief erinnert uns daran: „Sie haben aufgrund des Glaubens Königreiche besiegt, Gerechtigkeit geübt, Verheißungen erlangt, Löwen den Rachen gestopft, Feuersglut gelöscht ... sie sind stark geworden, als sie schwach waren; ... Andere haben Spott und Schläge erduldet, ja sogar Ketten und Kerker. Gesteinigt wurden sie, verbrannt, zersägt, mit dem Schwert umgebracht; sie zogen in Schafspelzen und Ziegenfällen umher, notleidend, bedrängt und misshandelt. Sie, deren die Welt nicht wert war, irrten umehr in Wüsten und Gebirgen, in den Höhlen und Schluchten des Landes." (Hebr 11,33.34.36-38).

In der Mitte der vielen Mainzer Heiligen steht der hl. Martinus. Er ist auch der Patron dieses Domes und des Bistums. Eine einfache Tat vor 1600 Jahren hat ihn weltberühmt gemacht. Seine Geschichte geht um die Welt und beeindruckt Große und Kleine, wie wir wieder in diesen Tagen an den Martinsumzügen der Kinder beobachten konnten. Mit einem Schwertstreich teilt er in der Kälte seinen Soldatenmantel und gibt dem frierenden Bettler am Stadttor von Amiens die Hälfte seines Mantels.

Damit hat er für alle Zeiten gezeigt, worauf es in unserem Leben ankommt, dass wir nämlich die Güter unserer Erde und unser Eigentum, buchstäblich bis auf das letzte Hemd, zu teilen bereit sind. Das Ursymbol der Mantelteilung betrifft alle Güter und Chancen unseres Lebens. Gerade in unserer heutigen Welt brauchen wir dringend diese Grundsolidarität unter den Menschen, und dies international und im Horizont der Menschheitsfamilie. Übersehen wir aber in unseren Milieus die Armut nicht. Die Solidaritätsaktion „1 Million Sterne" hat uns die Augen geöffnet auch für die Not bei uns: viele Kinder bekommen nicht jeden Tag eine warme Mahlzeit. 

Das Leben des hl. Martinus zeigt uns, dass diese Grundhaltung des Teilens nicht selbstverständlich ist. Sie kommt aus dem Glauben an Gott, dem höchsten Gut und Garanten der Würde eines jeden Menschen. Dazu bedarf es immer wieder der Abkehr von den Bosheiten unseres täglichen Lebens und der Umkehr zu Gott und zum Nächsten. Der Aufruf  zu dieser Umkehr ist nicht nur die Befreiung aus Sünde und Schuld, sondern auch ein Freispruch zu einem Leben, das nicht mehr nur uns selber gehört. Martinus hat es uns nacheinander in vielen beruflichen Situationen vorgelebt: als Soldat und Offizier, als Einsiedler und auch als Bischof, der in der schwierigen Zeit gegen Ende seines Lebens gegen seinen Willen ein Stück öffentlicher Verantwortung übernehmen musste. So wundert es uns nicht, dass Martinus auch im Frankenreich zu einem beliebten Heiligen und für sehr viele Kirchen zum Patron wurde. Wie wichtig er über ein Jahrtausend gelebtes Christentum überzeugend vermittelte, zeigen auch die über 30 Martinus-Darstellungen in unserem Dom, z.B. von weit her schon erkennbar als Reiterstandbild mit dem bedürftigen Armen hoch am Dom über unseren Häusern, aber immer noch in unserer menschlichen Welt. 

Sage niemand: „dafür bin ich nicht geeignet, davon bin ich weit entfernt". Oft geschieht das Gute, ohne dass wir es immer merken. Aber zum Heiligsein gehört immer auch der Kampf zwischen Gut und Böse. Er tobt sogar in unserem eigenen Inneren. Den allermeisten Menschen wird die Heiligkeit nicht einfach naiv strahlend geschenkt. Erst vor kurzem konnten wir überrascht entdecken, dass eine Ikone der Heiligkeit unserer Tage, die hl. Teresa von Kalkutta, ein Leben lang - wie ihr bisher unbekanntes geistliches Tagebuch erweist - gegen Anfechtungen und Zweifel, Versuchungen und Verdunkelungen des Glaubens gekämpft hat. Dann können auch wir viele Sinnlosigkeiten und Ungerechtigkeiten, Hoffnungslosigkeiten und Gewaltausbrüche in unserem Leben wenden und zu beherrschen lernen, auf jeden Fall sie vermindern. 

Dazu sind wir alle gerufen, ohne oder mit Heiligenschein. Darin mündet auch unser Domjubiläum. Es hört nicht einfach auf. Es muss übergehen in eine noch überzeugendere Gestalt unseres christlichen Lebens heute. Insofern entlässt uns das Ende des Jubiläumsjahres in die neu erfahrene Normalität unseres Lebens. Wir sind hoffentlich nun noch besser in unserem alltäglichen Leben angekommen. Amen.

 (c) Karl Kardinal Lehmann

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz