Predigt im Gottesdienst zum Jahresabschluss

am 31. Dezember 2003 im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Mittwoch, 31. Dezember 2003

am 31. Dezember 2003 im Hohen Dom zu Mainz

Das Jahresende und der Neubeginn bieten die Chance, dass wir den Lauf der Dinge zwar nicht anhalten, aber doch geistig und spirituell unterbrechen können, um in Besinnung und Meditation den künftigen Weg zu bedenken. Dabei ist es immer ein Wagnis, aus den Abertausenden von Fragen und Problemen einige wenige auszuwählen. Wenn wir jedoch dem Gang der Zeit nicht einfach ausgeliefert sein wollen, können wir wenigstens durch eine Bildung von Schwerpunkten und Prioritäten ein Stück weit mitsteuern. Ich denke an diesem Abend vor allem an vier große Herausforderungen.

Mut zur Zukunft

Zur endlichen Zeit gehört auch der Wandel, den wir einerseits hinnehmen und erleiden und anderseits herbeiführen und gestalten. Vieles entscheidet sich in diesem Spiel über die Gestalt unserer Gesellschaft. Die Probleme sind bekannt und brauchen hier nicht mehr wiederholt zu werden. Oft sind wir geradezu gierig nach Abwechslung und Neuerung. Aber es gibt Felder, wo wir uns schon mit geringeren Modifizierungen schwer tun. Manche Nachbarn unseres Landes sind offenbar beweglicher und anpassungsfähiger. Ein guter Hausvater weiß sehr gut, dass es im finanziellem erhalten auch einer Familie ein Auf und Ab gibt. Es ist schön, wenn man sich über eine längere Zeit mehr leisten kann. Die Welt geht aber nicht unter, wenn es auch wieder Zeiten einer stärkeren Einschränkung gibt, ohne dass deswegen jemand hungern muss. Mut zur Zukunft setzt voraus, dass wir eine größere Veränderungsbereitschaft gewinnen.

Man kann dankbar sein, dass den politischen Kräften vor Weihnachten gelungen ist, gemeinsam ein Reformpaket zu schnüren und nun auch auf den Weg zu bringen. Ob es wirklich auch schon ein Durchbruch ist oder zu einem solchen führt, kann dahingestellt bleiben. Die Meinungen sind verschieden. Wenn der Sozialstaat deutscher Prägung, um auch künftig funktionieren zu können, an einigen Stellen umgebaut werden muss, ist dies nicht notwendig schon sein prinzipieller Abbau, aber bei jeder Transformation muss man höllisch aufmerksam sein, ob dabei nicht heimlich oder offen Umverteilungsprozesse stattfinden, die am Ende zu Lasten derer gehen, die sich in unserer Gesellschaft nicht so lauthals wehren können wie politisch und medial durchsetzungsfähigere Gruppen. Wir haben dazu in einer Erklärung von der Deutschen Bischofskonferenz her " Das Soziale neu lernen" (12. Dezember 2003; Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen 28) besonders im Blick auf Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und andere benachteiligte Gruppen zur Wachsamkeit im Reformprozess aufgerufen. Deshalb ist dieses Wort auch kein Gegensatz zum größeren Dokument "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" (1997).

Mut zu Kindern

Alle reden von der Familie. Freilich verstehen manche darunter, dass Familie da existiert, wo Kinder sind. Dies bringt die Sorge einer gemeinsamen Verantwortung, die gewöhnlich am Besten in einer Familie geschieht. Aber für uns gehören Ehe und Familie zusammen, was heute immer stärker ins Hintertreffen gerät (vgl. meinen Hirtenbrief zur Österlichen Bußzeit 2003, in : Frei vor Gott, Freiburg 2003, 158-165.) Deshalb möchte ich gerade junge Menschen immer wieder aufrufen, es trotz schwieriger Erfahrungen in ihrer Umwelt und anderer modischer Lebensformen sich auf die Ehe einzulassen und darin einen besonders geeigneten Raum der Sorge und der Geborgenheit für die Familie zu entdecken.

Bei allem Reden über die Reform unserer Sozialsysteme kommt die Unentbehrlichkeit eines gelungenen Verhältnisses zwischen den Generationen zu kurz. Viele Probleme rühren daher, dass der Zusammenhang der Generationen – man geht von drei oder fünf aus – in eine Schieflage gekommen ist (vgl. mein Eröffnungsreferat zu dieser Frage bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 22.09.2003 in Fulda). Diese lässt sich nicht mit den üblichen politischen Maßnahmen einfach verändern, schon gar nicht in den kurzen Rhythmen von Legislaturperioden. Deswegen sind politsch-ökonomische Anreize nicht unwichtig. Es geht schlicht darum, dass vor allem Frauen und Männer in den Lebensgemeinschaften und Ehen wieder Mut zu Kindern fassen. Man sollte daran nicht vorbeireden. Dies wird nicht möglich sein ohne einen größeren Blick über alle Zweisamkeit hinaus auf unsere Gesellschaft und ihre Zukunft. Dabei sind materielle Unterstützungen im Sinne einer Fortsetzung der Familienpolitik gewiss notwendig, aber es bedarf auch einer vertieften Bejahung und Solidarität aller nicht zuletzt mit den Frauen, die den Mut zum Kind haben.

Wir schätzen viel zu wenig diese Einsatzbereitschaft von Frauen, diemindestens zeitweise oft ihren geliebten und erfolgreichen Beruf aufgeben müssen und nicht wenige Schwierigkeiten haben, wenn sie in ihn wieder eintreten wollen. Kinderkriegen ist eben nach Einführung der "Pille" keine Selbstverständlichkeit. Wir achten viel zu wenig den Dienst, den vor allem die Mütter leisten, wenn sie Mut zu Kindern haben und diesen auch in langen Monaten und Jahren der Sorge unter Beweis stellen. Und dies kann nicht nur eine Sache der einzelnen Familie sein. Der Mut zur Zukunft entscheidet sich und manifestiert sich gewiss am Mut zu Kindern.

Mut zu einem neuen Europa

Das Projekt eines neuen Europa darf nicht scheitern. Es gibt dazu keine Alternative. Im kommenden Jahr gibt es die große Erweiterung der EU auf 25 Mitgliedsstaaten und zugleich Wahlen zum Europäischen Parlament. Leider geschieht dies ohne Vorliegen eines verbindlichen Entwurfs zu einem Vertrag für eine Europäische Verfassung.

Ich bin dennoch zuversichtlich, dass diese Frage bald wieder neu aufgegriffen werden wird. Man muss nüchtern sehen: Europa wächst nicht zuletzt durch ökonomische Interessen und Gemeinsamkeiten – der Euro ist eine Erfolgsgeschichte – zusammen, aber sie können für sich allein auch schon auf eine mittlere Dauer kein ausreichender Motor für die spirituell-ethische Einheit sein, um die die Gründerväter der Europäischen Einigung sehr genau wussten. Dabei spielt eben doch zunehmend die Frage eine Rolle, auf welche gemeinsamen Werte sich dieses neue Europa stützt. Vielleicht gelingt es nach der Klärung zentraler Verfassungsprobleme, die auch immer Machtfragen sind, am Ende mit etwas größerer Ruhe und Gelassenheit auf die bislang weitgehend verdrängten Themen vor allem des Gottesbezugs und der biblisch-christlichen Wurzeln Europas in der Präambel zurückzukommen. Die Christen dürfen in dieser Bemühung nicht müde werden.

 

Mut zum missionarischen Zeugnis

Vom Christen wird im Blick auf diese Notwendigkeiten, frischen Mut zu fassen, viel erwartet. Gerade in der großen Öffentlichkeit geschieht dies heute schon vielfach in ökumenischer Zusammenarbeit. Der Ökumenische Kirchentag in Berlin vom 29.Mai bis 01. Juni 2003 hat uns auf diesem Weg ermutigt. Auch wenn die Zeit zu noch größerer Einheit drängt, so lässt sich dennoch nichts einfach vom Zaun brechen. Unreife Früchte verderben bald. Aber wir müssen noch entschlossener die noch trennenden Unterschiede angehen. Wir haben schon so viel erreicht, dass wir auch in schwierigen Fragen Zuversicht haben dürfen.

Nicht minder wichtig ist es, die Lebendigkeit und Fruchtbarkeit unseres Glaubens nach innen hin, zu den Gleichgültigen und Lauen, aber auch nach außen in Richtung der wirklich Fernstehenden und Nichtchristen zu bezeugen. Das missionarische Zeugnis ist eine Schlüsselkategorie für das Gelingen von Kirche heute und morgen. Wenn wir nicht intensiver an die Hecken und Zäune gehen, werden wir immer mehr wirkungslos und echolos auf uns zurückgeworfen. Wenn das Weisenkorn nicht stirbt, bleibt es allein.

Wir haben im kommenden Jahr dafür eine ganz besondere Gelegenheit. Es sind 1250 Jahre seit dem Märtyrertod des Heiligen Bonifatius vergangen (754 – 2004). Wenn wir dieses Jubiläum begehen, muss das Wiedergewinnen missionarischer Zeugniskraft nach seinem Beispiel und Vorbild ein Kernanliegen werden. Bonifatius erinnert uns nicht bloß daran, dass wir – bis in viele Bistumsgründungen und – grenzen hinein - von weit her kommen, sondern das wir auch als Kirche über die Zeiten hinweg zur Erneuerung fähig sind und darum auch das Evangelium unter anderen Rahmenbedingungen in unsere Welt tragen können. Das Evangelium der Versöhnung ist so notwenig wie eh und je.

Nur so können wir im Jahr 2004 ein Jubiläum feiern. Nützen wir die Chance. Es gibt viele Angebote dafür. Hier in Mainz, wo der Heilige Bonifatius Erzbischof war, haben wir eine besondere Verpflichtung und Chance.

Wir brauchen also vielfachen Mut. Dies scheint mir auch deshalb geboten zu sein, weil unsere Gesellschaft in ihrem unvermeidlichen Pluralismus immer unübersichtlichter, widersprüchlicher und darum auch bis zum Zerreißen wirrer wird. In einer solchen Situation kann man nur überleben, wenn man bei aller Toleranz und Kooperationsbereitschaft ein klar erkennbares und unverwechselbares eigenes Gesicht hat. Nur dies kann wirklich anziehen. Klarheit und Entschiedenheit des christlichen Zeugnisses – nicht zu verwechseln mit Engstirnigkeit und Borniertheit – wird das Kennzeichen des künftigen Kircheseins werden und bleiben. Wir haben dafür auch große Selige und Heilige geschenkt bekommen, die uns dazu ermutigen: Edith Stein, Johannes XXIII. und Mutter Teresa. Mit diesem Mut darf uns vor den Zweideutigkeiten unseres Lebens nicht bange werden. Es ist ohnehin ein Kennzeichen des Christen, dass er vor der Not der Zeit nicht flieht. Er weiß um die Launen des Zeitgeistes mit seiner Verführungskraft. Aber die Hingabe des Lebens vollzieht sich mitten in der Vergänglichkeit unserer Welt. Sie geschieht nur im Hier und Jetzt. Dazu braucht es in besonderer Weise den Mut, sich in die tiefe Zweideutigkeit unserer Welt zu begeben, ohne sich an sie zu verlieren. Dies kann nur in der Einheit von Glaube, Hoffnung und Liebe geschehen. Sie können erreichen, dass mitten in der Endlichkeit und Sterblichkeit unseres Lebens etwas Bleibendes gesät wird, entsteht und gedeiht. Die Liebe hat dabei nochmals eine ganz eigene Kraft und ist näher an der Ewigkeit: "Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei ; doch am Größten unter ihnen ist die Liebe." (1 Kor 13, 13)

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz