Predigt im Ökumenischen Gottesdienst „60 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs“

am 8. Mai 2005 aus der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin, übertragen vom Ersten Deutschen Fernsehen

Datum:
Sonntag, 8. Mai 2005

am 8. Mai 2005 aus der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin, übertragen vom Ersten Deutschen Fernsehen

Biblische Lesung: Eph 2,13-18

Jeder hatte damals schon vor der militärischen Gesamtkapitulation am 7. Mai in Reims und am 9. Mai hier in Berlin Karlshorst – der 8. Mai ist das Kalender- und Urkundendatum dazwischen – auf seine Weise das Ende des schrecklichsten Krieges der Menschheitsgeschichte erlebt. Ich war am 24. April als Neunjähriger froh und glücklich, dass die einrückenden marokkanischen Truppen im französischen Heer die aus weißen Bettlaken eilig zusammengenähte und am hohen Kirchturm des Dorfes aufgehängte Kapitulationsfahne verstanden und achteten. Es fiel kein Schuss der schweren Geschütze. Mutige Männer hatten auch buchstäblich in letzter Minute die von der flüchtenden SS gelegten Zündschnüre durchschnitten, die eine kleine Brücke in die Luft jagen sollten, immerhin der einzige Zugang zu den Wiesen und Feldern jenseits des kleinen Flusses. So oder ähnlich haben viele in verschiedenen Schritten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihren 8. Mai erlebt.

Es war objektiv sicher der „Tag der Befreiung“. Aber schon Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner großen Ansprache am 8. Mai 1985 sofort hinzugesetzt: „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.“ Gewiss, manche, die in höchster Gefahr waren, konnten aufatmen. Wenigstens die Bombennächte waren vorbei. Es blieb dennoch eine große Enttäuschung. Der Kirchenhistoriker jüdischer Abstammung Hubert Jedin schrieb im römischen Exil: „In 1000 Jahren sah das deutsche Volk keinen Tag wie diesen... Es ist die größte Katastrophe der deutschen Geschichte. Kein Lichtstrahl erhellt das Dunkel.“ Die meisten Menschen waren mit Problemen des nackten Überlebens beschäftigt. Ein russischer General teilte Stalin lakonisch mit: „Menschen essen Gras und Rinde von den Bäumen.“ Auch die Soldaten, die sich noch vor Erschießungen wegen Defätismus fürchteten, konnten sich nicht so recht freuen. Der spätere evangelische Bischof Hermann Kunst schreibt zum 8. Mai: „Aber das Abendbrot am achten Mai verlief schweigend... Keine Spur von Jubel über die endlich geschenkte Freiheit und das Ende von Kriegsangst.“ Und Berlin erschien einem amerikanischen Offizier an diesem Tag als ein „brennender, rauchender, explodierender und Tod verbreitender Vulkan“.

Es gab Grund zur Angst. War dies das Ende Deutschlands? Jedenfalls sollte es nie mehr zum Störer und Zerstörer des Friedens werden. Von Befreiung war weniger die Rede, aber vom Sieg über den Feindstaat. Die fast noch tiefere Kapitulation war die Berliner Deklaration der Alliierten vom 5. Juni mit der Aussage: „Deutschland unterwirft sich allen Forderungen, die ihm jetzt oder später auferlegt werden.“ Es geisterten ja immer noch Ideen durch die Siegerländer, Deutschland in mehrere Länder mit vorwiegend land- und weidewirtschaftlichem Charakter zu zerstückeln. Stalin gab schon am 9. Mai diese gemeinsame Idee rasch auf. Schon zehn Tage zuvor waren bereits deutsche Kommunisten aus Moskau eingereist, um bald die Macht zu übernehmen. Die Potsdamer Konferenz der großen Drei hat am 2. August schließlich die schreckliche Flucht und Vertreibung von fünf Millionen Menschen legitimiert, von denen 1½ Millionen zu Tode kamen.

Doch gleichsam über Nacht hat sich auch die Welt verändert. Die Sieger misstrauten einander gründlich. Die Teilung Europas in Ost und West hatte bereits begonnen. Schon am 12. Mai spricht Churchill vom „Eisernen Vorhang“, der sich auf Europa senkt. Sein Zukunftsbild sind die Vereinigten Staaten von Europa. Dies war mitten in der Katastrophe eine Chance für Deutschland. Man brauchte es für ein europäisches Gleichgewicht. Die Europa-Idee weckte viel Begeisterung und machte aus den Besiegten bald Partner, freilich zunächst auf Bewährung. Der Kalte Krieg, ein ganz andersartiger dramatischer Weltkonflikt, veränderte rasch die Konstellation und erzwang geradezu Deutschlands Rehabilitierung. Die Einwurzelung der Demokratie in Deutschland ging leichter unter den vorteilhaften wirtschaftlichen Bedingungen („Wirtschaftswunder“).

Im Vergleich zu der totalen Ausweglosigkeit war es in der Tat eine ganz außerordentliche Gunst der Umstände, dass Deutschland sich bald erholen konnte. Das war nicht selbstverständlich. Osteuropa kam am 8.5. unter eine neue Diktatur. Auch heute noch haben wir Anlass zum Dank, dass bei uns so viele tief in der Katastrophe noch eine Chance gesehen und mutig ergriffen haben. Freilich hat die Geschichte vor allem die Westdeutschen privilegiert. Die Menschen im Osten trugen viel mehr die schwere Last der Katastrophe. Die Verbrechen Hitlers schlugen vor allem auch in der Vertreibung furchtbar auf die Deutschen im Osten zurück. Dies sehen wir heute noch zu wenig. Die Lasten waren ungleich verteilt. Gott sei Dank, dass wir wieder zur Einheit in Freiheit gefunden haben.

Ja, der 8. Mai war in dieser Sicht auch ein Tag der Befreiung. Es war nicht nur das Ende einer furchtbaren Gewaltherrschaft, sondern – wie wir heute deutlicher sehen – das Datum eines Neubeginns. Wir mussten uns nun neu bestimmen. Wir hatten uns radikal in der Barbarei verirrt. Der Zivilisationsbruch war letztlich unbegreiflich, nicht minder die Katastrophe ein Rätsel. Aber sie haben uns auch die Chance einer neuen Zukunft geschenkt. Wir sind demokratiefähig geworden und haben bald entdeckt, dass unser künftiger Platz nicht mehr in einem gesteigerten Nationalismus, sondern in der Integration Europas liegt. Rasch entstehen unsere Parteien: ob wiedererstanden oder ganz neu. Es folgen die Bundesländer und schließlich unser heutiger Staat. Aus der Trümmerwüste wird ein Land, das – mindestens im Westen – nun 60 Jahre in diesem so lange kriegsgeschüttelten Europa in Frieden und Wohlstand leben darf.

Wenn wir heute für dieses Wunder danken, werden wir nicht übermütig. Wir wissen, dass es auch nach sechs Jahrzehnten noch viele spürbaren Wunden gibt. Frieden ist ja nicht nur das Schweigen der Waffen. Zu ihm gehören auch Sicherheit des Volkes, soziale Ordnung im Sinne des Schutzes der Schwachen, Denk- und Glaubensfreiheit, Wohlergehen des Einzelnen, aber auch das Zurückdämmen von Krankheit und – soweit wir es vermögen – Katastrophen, das Fehlen von Korruption und Machtmissbrauch. Diesen Frieden (Schalom) haben die Menschen immer auch als eine elementare Gabe Gottes verstanden, ähnlich wie das Leben, das sich keiner selbst zu geben vermag. Das Heilsein oder Ganzsein einer Gemeinschaft und ihrer Lebensbedingungen kann vom Tun des Menschen her nur bewahrt oder gestört, aber nicht durch menschliches Bemühen allein herbeigeführt werden. Verantwortung, Vertrauen, Geborgenheit und die Wahrung des Rechts, besonders gegenüber den Schwachen, sind die Lebenselemente dieses Friedens.

Die christlichen Kirchen, die bei allen tiefen Wunden und Blessuren in der Zeit der Dunkelheit noch einmal gut davon gekommen sind, wollten sich – noch mitten im Elend – beim Aufbau eines neuen Miteinander beteiligen. Sie haben dabei bis zum Schluss der Tyrannei ihre Besten verloren, um nur Alfred Delp (2.2.) und Dietrich Bonhoeffer (8.4.) zu nennen. Zwei Dinge können wir von ihnen, niedergelegt auch in der Lesung aus dem zweiten Kapitel des Epheser-Briefes, für den heutigen Tag lernen. Der Friede ist schon in den Verheißungen des Ersten Bundes eine Sehnsucht der Menschen, deren Erfüllung sie vom Messias erwarten: „Er wird auftreten und ihr Hirt sein in der Kraft des Herrn... Sie werden in Sicherheit leben; denn nun reicht seine Macht bis an die Grenzen der Erde. Und er wird der Friede sein.“ (Mi 5,3f.) Die Christen bekennen über diese große und tiefe Gemeinsamkeit mit dem jüdischen Volk hinaus, dass sie die Überzeugung haben, in seinen Spuren und auf dem Weg seiner Nachfolge diesen Frieden zu finden. Darum gibt es das Bekenntnis: „Denn er (Jesus Christus) ist unser Friede.“ (Eph 2,14a)

Dieser Friede entsteht jedoch nicht durch eine allgemeine Weltverbrüderung. Er ist auch mehr als ein Interessenausgleich. Wir sehen es im Leben Jesu: Einstehen für das Reich Gottes, Aufstand gegen das Unrecht, Solidarität mit den Schwächeren und Entrechteten, gewaltloser Widerstand, Einsatzbereitschaft, ja Opfer. Nur so kann die Sehnsucht nach Versöhnung und Frieden mit dem Kreuz der Wirklichkeit zusammengebracht werden. Das menschliche Herz ist und bleibt immer von Zwietracht und Streitsucht, Eigensinn und Verhärtung, Selbstbehauptung und Überheblichkeit bedroht. Darum nisten auch überall Feindseligkeit, Tendenz zur Unterdrückung und Gewalt. Der Einsatz für den Frieden braucht darum Tapferkeit vor dem Bösen, Ausdauer im Leiden und Mut zur Freiheit und Stärke. Gerade das Friedenslied aus dem Epheser-Brief bindet die Versöhnung energisch an das Kreuz (vgl. 2,14-18): Wer nicht bereit ist zur Aufgabe der eigenen Vorurteile und der Übermacht eigener Interessen, zur Drangabe und Hingabe seiner Person, der ist auch nicht fähig, andere an seinem eigenen Glück und Wohl teilnehmen zu lassen, zum Teilen und zu einer geschwisterlichen Solidarität. Darauf kommt es aber an: gestern, heute und auch morgen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz