Predigt im Ostersonntags-Gottesdienst

27. März 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 27. März 2005

27. März 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Lesungen: Apg 10, 34a. 37-43; 1 Kor 5,6b-8; Mt 28,1-10

Liebe Schwestern und Brüder!

Es ist theologisch und spirituell nicht gut, bei allem Jubel an Ostern zu schnell hineinzuspringen in das Ereignis der Auferstehung Jesu Christi. Tod und Auferstehung, Passion und Pascha gehören eng zusammen. Auch der Auferstandene trägt noch die Wundmale des Gekreuzigten. Bei aller Freude über den Sieg Jesu – wir sind noch nicht jenseits der Todesgrenze. Auch wir stehen in diesen Tagen immer wieder vor der Härte des Todes. Nicht wenige haben in diesem langen Winter und bis in unsere Tage hinein geliebte Menschen verloren, mit denen sie lange durch das Leben gegangen sind und denen sie viel verdanken. Neben Naturkatastrophen, politischen Unruhen und terroristischen Anschlägen beklagen wir auch in diesen Tagen das Drama eines einzelnen Menschen, dessen Schicksal durch die modernen Medien seit Wochen täglich um die Welt geht, nämlich Frau Terry Schiavo in den USA. Und wenn wir immer wieder in der Öffentlichkeit mit unserem kranken Papst Johannes Paul II. konfrontiert werden, spüren wir etwas vom mühsamen Weg des Menschen bis zur Vollendung. Dabei wollen wir viele Menschen, die in diesen Tagen und Stunden ihr kurzes oder langes Leben beenden, mit den vielen Trauernden, aber auch den Ärzten und allen Pflegenden, die sie bis zum letzten Atemzug begleiten, nicht vergessen.

Von Jesu gewaltsamem Tod sind wir rasch bei allen Menschen, die durch Gewalt sterben, sei es unabsichtlich durch Unfälle oder absichtlich durch vielfältige Formen des Mordens. Heute scheinen wir manchmal fast größere Schwierigkeiten zu haben, wenn Menschen langsam, vielleicht quälend langsam, ihr Leben beenden. Offenbar wächst die Versuchung, mit menschlichen Mitteln einzugreifen und den Zeitpunkt des Todes selbst zu bestimmen. Die Erfolge der modernen Medizin erscheinen in ihrer tiefen Ambivalenz: Wir sind froh und dankbar für die Möglichkeiten, auch in äußersten Situationen Leben zu retten und zu verlängern. Viele dürfen noch bei Bewusstsein länger auf dieser Erde und bei ihren Lieben verweilen und vielleicht auch manches in ihrem Leben noch in Ordnung bringen. Aber wir spüren auch, wie diese Segnungen zu einer schweren Bürde für Ärzte, Pflegende und Angehörige werden können, wenn nämlich die Verlängerung des Lebens für die Beteiligten zur Qual werden kann.

Die Gefahr ist groß, dass Ärzte und Pflegende, aber auch Angehörige oder Betreuungspersonen und Richter zu Herren über Leben und Tod werden können. Es gibt kaum eine schwierigere Situation als die Verantwortung in einer solchen Lage. Wir spüren, dass unsere oft abstrakt erscheinenden Diskussionen z.B. über das Betreuungsgesetz und die Gestalt einer Patientenverfügung rasch Wirklichkeit in unserem Leben werden können. Braucht es nicht die Schriftform, um den letzten Willen eines Menschen verbindlich erkunden zu können? Gilt eine Willenserklärung auch dann noch, wenn sie lange Zeit vor einer Entscheidungssituation getroffen worden ist? Wer kann überhaupt für sterbenskranke Menschen entscheiden?

Auch wenn Jesus eines gewaltsamen Todes stirbt, so werden wir auf dem Kreuzweg seiner letzten Stunden dennoch voll in die Abgründe menschlichen Leidens mit hineingenommen. Von Schritt zu Schritt kann man sich kaum vorstellen, dass es noch schlimmer wird. Deshalb begleiten wir den Herrn auf den vierzehn Stationen des Kreuzweges oder bei den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz. Unser Glaube lehrt uns, dass Jesus noch tiefer, nämlich in die Abgründe des Todes gestiegen ist. Schließlich gehört es schon früh zu den Glaubensartikeln: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ oder in der älteren Sprachform „Abgestiegen zu der Hölle“. Ob Unterwelt oder Hölle, jedenfalls geht es um einen Ort ohne Wiederkehr, der nur aus Schweigen, Finsternis und Einsamkeit besteht. Es ist die Negation alles Guten und die Summe allen Übels. Das Schlimmste an dieser Existenz ist die absolute Verlassenheit von Gott und den Menschen. Die unauslotbare Tiefe der Gottferne ist der Inbegriff allen Schreckens. Viele Psalmen, z.B. 22 und 88, sprechen von diesem „Ur-Leiden der Gottverlassenheit“ (H. J. Kraus). Die Frommen des Alten Bundes haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass der Weg in die Unterwelt schon mitten in diesem Leben beginnen kann: Not jeder Art, Krankheit, Verlassenheit (vgl. Weish 17). Wenn Leben in der Bibel die Fülle von Freude, Gesundheit, Kommunikation, Nähe zu Gott ist, dann ist alles, was diese Lebensinhalte schwächt, vermindert oder zerstört, Tod, Trauer, Not, Chaos, Leiden, Einsamkeit, Gottverlassenheit. Die Theologie unserer Tage hat in diesem Sinne den Tod und erst recht die Unterwelt als radikale Verhältnislosigkeit, als Verlassenheit schlechthin verstanden.

Gerade auch von hier aus können wir ermessen, was es heißt, Menschen auf dem Weg zum Ende ihres irdischen Lebens nicht allein zu lassen, Kranke zu besuchen, Sterbenden beizustehen und Toten durch eine würdige Bestattung die letzte Ehre zu erweisen, die wir ihnen als Menschen geben können. Diese Aufgaben gehören zu den sieben Werken der Barmherzigkeit, die gut biblisch begründet sind. Im Blick auf das Sterben des Menschen gibt es bei allen schwierigen Übergangsstufen letztlich doch einen feinen, entscheidenden Unterschied zwischen einem Sterbenlassen, bei dem wir vielleicht nicht alle Mittel in äußersten Situationen anwenden, und dem Töten, wenn wir durch unser Verhalten den Tod fördern und ihm evtl. nachhelfen. „Sterbehilfe“ möchte ein – wie uns scheint – nicht mehr lebenswertes Dasein beenden, vor allem aus „Mitleid“ mit dem „sinnlos Leidenden“. Dies ist eine verführerische Idee. Manche ethischen Entwürfe sehen im Mitleid die Quelle aller Sittlichkeit. Aber nun ist es gewiss nicht so, dass dem Schwerkranken nur die sinnlose Quälerei und die Auslieferung an die medizinischen Apparate im Namen aller Lebenserhaltung um jeden Preis übrig bleiben. Das Mitleid, das nicht bereit ist, den Weg mit dem Sterbenden zu gehen, kann sich auch als wenig human erweisen. Wir hätten aber auch ein falsches Menschenbild, wenn dieses nur von unaufhaltsamem Fortschritt und heiler Ganzheit bestimmt wäre. Auch die Leidensfähigkeit gehört zum Menschen. Natürlich wollen und sollen wir körperliche Schmerzen bekämpfen, die auch die Leidensfähigkeit beeinträchtigen. Wahres Mitleid geht einen solchen Prozess brüderlich-schwesterlich mit, trägt einen solchen Prozess des Sterbens mit und leidet auch den Gang und vielleicht die Reinigung und die Vollendung eines menschlichen Lebens mit aus. Zur Endlichkeit und Kreatürlichkeit gehört auch die Erfahrung der Schwächeseiten des menschlichen Lebens.

Die Passion Jesu, der Weg zum Kreuz und die Stunden an ihm laden uns ein und fordern uns auf, diese oft bitteren Stunden mitzugehen. Es ist auch immer wieder gut, wenn wir das Elend und die Ohnmacht des Menschen erfahren. Unser Verhältnis zu den Sterbenden und vielleicht auch noch unser eigenes Leben werden dadurch verwandelt. Jeder Tod sagt uns: Du musst dein Leben ändern! Darum ist es keine Lösung, Menschen schneller in den Tod hinein zu befördern, sie z.B. verhungern zu lassen. Was für ein schlimmes Schauspiel ist es, wenn wir Richter verschiedener Ebenen dazu zwingen, wie Herren über Leben und Tod Entscheidungen zu treffen? Gewiss darf auch der technisch verzögerte Tod nicht den Sieg über das menschliche Sterben davontragen. Der sterbende Mensch darf auch in dieser Situation nicht zum „Objekt“ degradiert werden. Der Arzt darf das kreatürliche und solidarische Fundament des Menschseins, das Arzt und Patient miteinander elementar verbindet, nicht auflösen. Er ist und bleibt, wie ein großer Mediziner um 1800 sagte (Masse), „der Zeuge der großen Szenen des Lebens“.

Das Schicksal Jesu Christi zeigt uns, dass wir auch im bitteren, grausamen und entsetzlichen Tod nicht in eine Leere fallen. Wir versinken nicht in das Bodenlose. Es ist bei allem Abstieg in die äußerste Finsternis einer da, der uns mit seinen Händen auffängt und trägt. In der Tat geht es hier um die Alternative: Absurdität oder Glauben. In diesem Sinne ist der Tod, wie viele Denker es auch gesehen haben, der letzte Feind des Menschen. Aber im Glauben an Gott als den einzigen Hüter des Lebens kann der Mensch über diesen Tod gewinnen. Er kann dies in Jesus Christus. Mit ihm kann er mitten in aller menschlichen Ohnmacht jubeln: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15,54f.).

Dabei wissen wir, dass dies nicht Ausdruck eines Leichtsinns ist, der die Härte des Leidens und die Tiefe des Schmerzes nicht ernst nimmt. Wir sind gewiss immer, solange wir in der Geschichte leben, gefährdet durch den Tod und gezeichnet von einer letzten Zweideutigkeit unseres Lebens. Aber wir dürfen die feste Zuversicht haben, dass der auferstandene Herr auch für uns die Schlüssel des Todes und zum Leben in der Hand hat. „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne (und Töchter) offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.“ (Röm 8,23f.) Der Kolosserbrief sagt es uns auf etwas andere Weise: „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ (Kol 3,3f.)

Wir sagten am Anfang, dass man Tod und Auferstehung nicht auseinander reißen darf. Wenn wir dies bewahren und bedenken, dann ernten wir wirklich die Frucht des Geistes, die durch die Auferstehung Jesu Christi über uns ausgegossen wird. Es ist aber ein großes Geheimnis, das uns die ganze Passion Jesu, aber auch unser eigenes Leben zeigt: nur im Abstieg nach ganz unten, nur in der Hingabe an den Anderen und nur im niedrigen Dienst gewinnen wir den „Aufstieg“, das „Leben“, den „Himmel“. Es ist das Geheimnis des Weizenkorns: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,24). So gehören Tod und Auferstehung für den Christen zusammen. Es ist Pascha. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz