Predigt im Pontifikalamt am 1. Weihnachtsfeiertag

25. Dezember 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 25. Dezember 2005

25. Dezember 2005, im Hohen Dom zu Mainz

Predigttext: Joh 1,1-18 (Evangelium)

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Weihnachten verbinden wir gerne mit den vertrauten und liebenswerten Geschichten der Geburt Jesu im Stall zu Bethlehem, mit den Hirten und Schafen, nicht zuletzt dem Gesang der Engel, der den Menschen von der Herrlichkeit Gottes her Frieden verkündet. Gegenüber diesen stimmungsvollen Bildern erscheinen die Texte der Messe am Tag – es sind ja ursprünglich drei Eucharistiefeiern für die Nacht, den Morgen und den Tag vorgesehen – zwar hoheitsvoll und erhaben, aber zugleich doch immer etwas fremd und kühl.

Doch man findet auch schnell vieles, was den ersten drei Evangelien auf der einen Seite und dem vierten Evangelium auf der anderen Seite gemeinsam ist. Da ist die Rede vom Licht, das die Menschen in der Finsternis erhellt. In der Mitte steht das Wort von der Herrlichkeit Gottes, die nun sichtbar auf Erden erschienen ist. Wenn in den ersten Evangelien davon die Rede ist, dass in der Herberge kein Platz mehr war und Jesus im Stall geboren wurde, so lässt auch das Johannesevangelium diesen Zug nicht einfach aus, wenn es z.B. sagt: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst ... Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (1,5.11) Das Evangelium vom helllichten Tag sagt im Kern also nichts anderes als die Botschaft der Heiligen Nacht. Das eine Evangelium in den vier Evangelien sagt uns, dass in dem Kind in der Krippe der allmächtige Gott zu uns in unsere irdische Welt und Geschichte gekommen ist.

Noch etwas ist, freilich auf sehr verschiedene Weise, den Evangelien, wenigstens teilweise, gemeinsam: Sie begnügen sich nicht mit der Erzählung von der irdischen Geburt und vom ersten Auftreten Jesu. Am ehesten ist dies noch bei Markus so, der Jesus durch Johannes den Täufer ankündigen lässt. Aber Matthäus und Lukas suchen vor der Geburt, woher er kommt. Dabei zeigt sich sein geheimnisvoller Ursprung. Johannes geht hier in seinem Evangelium noch weiter zurück und sieht den Ursprung des Sohnes ganz in Gott. So ist er auch ganz derjenige, der offenbart, wer und was Gott ist: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“ (1,1.18)

Der so genannte Prolog des Johannesevangeliums beginnt mit einem mächtigen Auftakt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott.“ (1,1f.) „Wort“ – hinter diesem einfachen und doch tiefen Wort kann man die Weisheit des Alten Orients, des Alten Testaments und des griechischen Denkens in einem finden. Der Logos ist zugleich die Ordnung der Wirklichkeit, die Transparenz der Dinge auf ihren Ursprung hin, die Sprache als eng verbunden mit der Struktur und Ordnung der Welt; zugleich ist der Logos aber auch so etwas wie das, was wir heute mit „Sinn“ bezeichnen. Der Logos ist auch gleichsam die versammelte Weisheit der ganzen Welt. Zugleich ist er ganz nahe bei Gott, ja sein Platzhalter, aber er ist dennoch verschieden von ihm.

„Im Anfang“ zu Beginn des Johannesevangeliums erinnert sofort an die ersten Worte der Bibel des Alten Testaments: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...“ (Gen 1,1) Dies bedeutet, dass am Anfang Gottes Initiative durch sein Wort stand. Es ist am Anfang nicht das Chaos, das herrscht, auch nicht die Tat, die alles hervorbringt. Am Anfang ist es das von Gott kommende Wort, das die Dinge lichtvoll und tatkräftig hervorbringt. Alles, was ist, verdankt sich ihm. Gottes Wort ist wirkmächtig wie sonst nichts: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.“ (Gen 1,3) Wenn Gott spricht, entstehen die Dinge. Er spricht nicht über sie, wie wir es tun. „Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ (1,3)

Aber nun kommt es zu einem ganz unerwarteten Höhepunkt in diesem Vorspruch des Johannesevangeliums, wenn es heißt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (1,14) Denn bisher schien es doch so, als ob das Wort ganz auf der Seite Gottes und damit jenseits der menschlichen Welt ist. Ist Gott nicht gerade dadurch Gott, dass er über uns erhaben ist, nichts zu tun hat mit Kampf und Streit, Leid und Tod? Dies ist nun das absolut Neue, ja zugleich auch das größte Paradox: das Wort ist Fleisch geworden. Es ist ein wirkli-ches Werden. Gott spielt nicht mit uns. Er schlüpft nicht einfach kurzzeitig in ein menschliches Gewand. Er wird wirklich einer von uns. „Fleisch“ heißt hier auch nicht einfach Leib, sondern meint einen ganzen Menschen, eine konkrete menschliche Natur. Dazu gehört, dass dieser Mensch in seiner konkreten Gestalt zugleich hinfällig, vergänglich und ohnmächtig ist. Damit wird das Verständnis von Gott regelrecht revolutioniert. Die Theologie braucht bei aller einfachen Wahrheit der ersten Worte und Bekenntnisse Jahrhunderte, um dieses Geheimnis des Gott-Menschen angemessen zur Sprache zu bringen: ganz Mensch, ganz Gott, und doch wirklich einer, ohne ein fabelähnliches Mischwesen zu sein.

Wenn Gottes Wort so zu uns kommt, ist es gewiss ein riesiger Rollentausch, ja ein wirklicher Gegensatz. Darum sprachen die Christen von Anfang an auch von einem regelrechten „Tausch“: Gott wird Mensch, und der Mensch nimmt teil am Leben Gottes. Ja noch mehr, er erniedrigt sich. Er hat das Leben in sich (vgl. Joh 5,26) und begibt sich doch unbegreiflicherweise auf den Weg des Todes (vgl. 13,1; 19,30f.). Aber man darf nicht nur auf diesen Abstieg und diese Entäußerung (vgl. auch Phil 2,6ff.) Gottes durch die Menschwerdung des Wortes sehen, sondern auch auf die Erhöhung, ja die Rettung des Menschen: Er ist nicht einfach dem Tod und der Vergänglichkeit ausgeliefert und verfallen. Er ist zum Leben mit Gott berufen. Und dies vollzieht sich nicht im luftleeren Raum. Das Wort Gottes ist wirklich da, eine greifbare Person, unter uns, er teilt unser Leben, den Raum und die Zeit.

Dies ist eine Offenbarung auch in dem Sinne, dass nun die Größe des Menschen an den Tag kommt: Er ist, wie die Alten sagten, „capax Dei“, d.h. er ist fähig, in seinem armen, aber doch unendlichen Wesen Gott aufzunehmen. So groß ist der Mensch. Dies zeigt auch unauslöschlich die Würde, die im Menschen liegt. Gott wird Mensch, und nur so kann er unter uns wohnen (vgl. 1,14). Darum darf er in seiner Freiheit auch nicht anderem oder anderen untergeordnet, für irgend etwas verzweckt, instrumentalisiert werden. Alle Rede über die Würde des Menschen kommt – auch in unserer Verfassung – letztlich von dieser ganz unerwarteten Aus-zeichnung des Menschen her. Immer mehr müssen wir seine verborgene Größe entdecken.

Dies hat aber gewaltige Konsequenzen. Dann müssen wir in jedem Menschen, nicht nur in einigen Herrschern und Genies, die Größe des Menschen entdecken und vor allem bewahren. Dann ist jede Form der Menschenverachtung und der Rücksichtslosigkeit, mit der ein Mitmensch zur Seite gestoßen oder aus dem Weg geräumt wird, ein tiefer Angriff auf diese Würde. Nicht wir geben sie ihm, dem Menschen, sondern er hat sie von Anfang an. Dies gilt gerade für den Armen. Weihnachten begründet erst so recht im Einklang mit der ganzen Bibel die letzte Würde des Menschen, gerade auch wenn er leidet, krank ist, behindert ist. Seit Weih-nachten wissen wir besser, dass dies so ist. Und nur wegen dieser gemeinsamen Menschenwürde kann Jesus beim Weltgericht auch sagen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)

Jetzt verstehen wir auch, warum es unter den Weihnachtsgeschichten verschiedene Formen gibt, die uns vertrauten Erzählungen vom Stall und von der Krippe, aber auch die Entfaltung der weihnachtlichen Botschaft in die Menschheit und in die ganze Weltgeschichte hinein: Gott ist wirklich zu uns gekommen. Er hat die Würde des eigenen Wesens, die wir oft mit Füßen treten, mahnend aufgerichtet. Sie gilt für alle Menschen. Darum weitet sich unser Blick an Weihnachten zu den Armen und Ärmsten der Welt, nicht zuletzt zu den Kindern, von denen viele unter Gewalt und Hunger leiden. Stellvertretend liegen uns an Weihnachten besonders auch und gerade die Menschen in Lateinamerika am Herzen.

Wir müssen uns immer wieder aufrütteln lassen, worum es geht. Gott selbst ist in seiner ganzen Unendlichkeit in unsere Welt gekommen. Er überfliegt sie nicht. Er teilt unser Menschsein, bis in das Erleiden von Gewalt und in den Tod. Darum können wir auch immer wieder die Würde des Menschen in allen Gebrochenheiten, ja Verletzungen der menschlichen Existenz entdecken. Sie nimmt uns in Pflicht. So anschaulich ist das Leben Gottes unter uns: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen, bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt.“ (1 Joh 1,1-3)

Weihnachten macht uns deutlich, dass dies kein Märchen ist oder eine wirklichkeitsfremde Vision darstellt, sondern dass das Wort Gottes unter uns ein konkreter Mensch geworden ist. Darum ist unsere Freude vollkommen (vgl. 1 Joh 1,4), an ihr muss darum auch unsere Liebe zu Gott und zum Nächsten wachsen. Amen.


Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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