Predigt im Pontifikalamt zur Eröffnung des 1000-jährigen Jubiläums des Willigis-Doms

am 1. Februar 2009 im Mainzer Dom

Datum:
Sonntag, 1. Februar 2009

am 1. Februar 2009 im Mainzer Dom

Lesungen: 1 Kön 8,22-23.27-30; 1 Kor 3,10-17; Joh 2,13-22

Wo wohnt Gott?, fragen schon die Kinder. Erst recht die Bibel. Er wohnt nicht wie wir Menschen, auch wenn er ganz in unserer Wohnwelt gegenwärtig ist. Mit aller Deutlichkeit sagt es Paulus in Athen: „Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind." (Apg 17,24) Aber die Menschen haben immer die Neigung, Gott in ihrer Welt zu haben. Oft ist eine tiefe Gotteserfahrung mit einem bestimmten Ort verbunden - und wenn es die Kargheit der Wüste ist. Gott sagt zu Jakob: „Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst ... Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe ... Wirklich - so antwortet Jakob nun Gott -, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht. Furcht überkam ihn und er sagte: Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels." (Gen 28,15-17)

 

Dies gilt auch heute für jedes Gotteshaus. Darum werden wir aber auch immer gewarnt, Gottes Unbegreiflichkeit und Herrlichkeit in ein noch so schönes Haus einzusperren. Unnachahmlich sagt es Salomo im Tempel-Weihegebet: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe." (1 Kön 8,27) Marc Chagall hat besonders in St. Stephan als gläubiger Jude durch seine wohl über 80 Blautöne diese Unfasslichkeit Gottes über alle „Himmel der Himmel" hinaus eindrucksvoll ins Bild gebracht. Schon im Alten Bund liegen sie ganz dicht beieinander: heuchlerische Verehrung und wahre Anbetung, Tausende von Opfern und Starrheit der Herzen, Wesen und Unwesen des Kultes. Immer wieder rechnet Gott ab mit der Unaufrichtigkeit und Verkommenheit der Gebete, wenn unser Handeln ihnen nicht entspricht (vgl. z.B. Amos 4,4ff.). Man kann bis in die heiligsten Räume hinein schachern, am Ende dem Mammon dienen und aus dem Tempel eine Räuberhöhle machen (vgl. Mt 21,13; 6,24).

 

Keine Zeit ist gegen diesen Missbrauch Gottes gesichert. Auch wir nicht. Aber es bleibt wahr, und darum bauen wir Kirchen: Gott braucht kein Haus, aber wir Menschen aus Fleisch und Blut in Raum und Zeit lebend brauchen ein sichtbares Zeichen seiner Gegenwart bei uns. Die ganze Geschichte der Offenbarung Gottes im AT und NT besteht in einem beständigen Sichherablassen Gottes zu uns. Er thront nicht einfach fern von der Menschenwelt, sondern kommt durch die Schöpfung und seine Boten zu uns, ja das Wort Gottes zeltet und wohnt in Jesus Christus ganz real bei uns. Gerade dieses Geschehen der Menschwerdung ist das Ziel des Herabstiegs: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." (Joh 1,14) Dieser Abstieg Gottes in unsere Welt geht unendlich weit: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." (Phil 2,6-8)

 

Darum bauen wir trotz aller Mahnungen und Bedenken mit Freude und Begeisterung für Gott ein Haus. Damit setzen wir uns freilich einem hohen Anspruch aus, der Maß und Richtschnur über unser Leben wird: Wir dürfen Gott nicht an den Rand unseres Lebens schieben, sondern räumen ihm einen Platz ein, mitten in unserer Welt, neben unseren Häusern, zwischen den Hütten und den Wolkenkratzern. Wehe aber, wenn wir dann erst recht unehrlich sind und ihm einen wirklichen Platz in unserem Leben verweigern. Es wäre nicht das erste Mal, denn er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf, er wird unterwegs geboren in einem Stall (vgl. Joh 1,11; Lk 2,7).

 

Hier liegt wohl auch der Grund, warum schon im Alten Bund beim Bau der Tempel um Verzeihung gebeten wird. „Höre sie (die Menschen) im Himmel, dem Ort, wo du wohnst, und verzeih!" (1 Kön 8,39) Deswegen ergeht immer bei jeder Kirchweihe und erst recht bei einem Jubiläum die flehentliche Bitte: „Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Tag und bei Nacht, über der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll. Höre auf das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte verrichtet ... Höre sie im Himmel, dem Ort, wo du wohnst. Höre sie, und verzeih!" (1 Kön 8,29f.) Auch wir bekennen mit unseren Vorfahren, dass wir dem Anspruch, den Gott an unser Leben stellt, so oft nicht gerecht geworden sind.

 

Jedes Zeitalter, alle Menschen und jeder für sich wissen, dass wir vor diesem Anspruch versagen: Ich bin der Herr, dein Gott. So fliehen wir auch zu den vielen Götzen unseres Lebens und opfern oft unseren Glauben für ein Linsengericht. In unseren Tagen spüren wir ganz besonders, dass wir im Blick auf die Wahrheit und die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und die Friedfertigkeit versagen. Wir haben uns in vielem übernommen, große Türme wie in Babel erbaut, Warnungen unseres Gewissens in den Wind geschlagen, guten Rat missachtet, sind überheblich und gierig geworden.

 

Aber der Anruf und der Anspruch bleiben über uns. Also können wir im Grunde nur umkehren, wenn wir denn bereit dazu wären. In diese Situation gehört das Leitwort unserer Jubiläumsfeier: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig - und das ist seid ihr!" (1 Kor 3,16f.) Die Bibel treibt es auf die Spitze: Wir dürfen uns nicht zufrieden geben und betören lassen durch großartige Steine, wertvolle Kunstschätze und kostbare Gewänder. Auch ein Jubiläum, gerade ein Jubiläum, kann uns auch, weil wir ja so viel veranstalten, betäuben. Deshalb nimmt uns Gottes Wort durch den hl. Paulus noch mehr auf den Prüfstand. Gott wohnt nicht nur durch unsere Kirchen in unserer Lebenswelt, sondern er wohnt - und dies ist zum Erschrecken! - in uns selbst, wenn wir uns ihm öffnen und ihm wirklich entsprechen. Und dies gilt nicht nur in unserer inneren Gesinnung und in den guten Absichten, sondern soll sich auch in unserem konkreten weltlichen Verhalten zeigen. Wir sind gerade auch mit unserem Leib und allen seinen Aktivitäten Gottes Tempel. Der Geist Gottes wohnt in uns - ein fast vergessenes Lehrstück unseres Glaubens.

 

Diese Worte werden uns schon 2000 Jahre zugesprochen, doppelt so lang als das Alter des Domes. Jede Generation hat dabei den Auftrag, das Wohnen Gottes in unserer Welt nicht zu einer Farce zu machen. Die 1000 Jahre mahnen, dass wir auf unserer Wegstrecke, die ja im Vergleich zum Ganzen nur spärlich ist, unsere Aufgaben erfüllen und Gottes Gegenwart in unserer Welt nicht Lügen strafen. Wo sind unsere besonderen Aufgaben, wo sind die Imperative heute für uns? Ich möchte gerade zu dieser Eröffnung des Jubiläumsjahres drei Akzente setzen:

 

  • Gottvergessenheit: Es geht dabei nicht nur oder in erster Linie um die Leugnung Gottes, auch wenn es heute einen neuen militanten Atheismus in unserer Welt gibt. Mit Gottvergessenheit meine ich eher das Austrocknen einer religiösen Sensibilität überhaupt. Wir schließen unsere Welt über unseren Köpfen und glauben, alles selbst entscheiden und machen zu können. Wir merken die Gottesfinsternis in unseren eigenen Herzen nicht. Wie sind gerade in unserer Zeit die Verantwortung im Blick auf die Verehrung und das Zeugnis Gottes in unserer Welt, der Besuch und die Beteiligung am Gottesdienst dramatisch gesunken?!

 

  • Lebensfeindlichkeit: Wir führen uns immer wieder als Herrn über Leben und Tod auf. Wir vergreifen uns dauernd am Leben der anderen, und dies ganz besonders bei den Schwachen am Anfang und am Ende des Lebens. Wir brauchen Jahre und Jahre, um wirklich einige lebensfeindliche Skandale zu vermeiden, z.B. die Spätabtreibungen. Aber auch sonst sind wir in allen unseren Fragen der Wirtschaft und auch der Wissenschaft rücksichtslos, wenn es um unser eigenes Leben, das Leben unserer Generation geht. Klimapolitik ist ein weiteres Sichtwort dafür, aber auch das Anwachsen vieler Süchte. Wann entdecken wir eine neue Lebensdienlichkeit für unser Tun?

 

  • Ungerechtigkeit/Entsolidarisierung: Lebensdienlichkeit verletzt man auch, wenn man die Lebenschancen von Menschen nicht wahrnimmt, besonders wenn man sie verkürzt. Dies geschieht nicht nur durch grobe Ungerechtigkeit, nicht zuletzt durch Betrug, sondern auch wenn die Solidarität zwischen arm und reich, überhaupt zwischen den verschiedenen Schichten, immer mehr abnimmt, wie dies offenkundig bei uns in letzter Zeit mehr und mehr der Fall ist. Dabei geht es nicht um die Beseitigung der Freiheit, des Wettbewerbs oder um irgendeine Gleichmacherei. Aber manche Gruppen von Menschen haben es besonders schwer, den Anschluss an den durchschnittlichen Wohlstand der meisten Menschen zu finden. Es sind nicht zuletzt gerade auch Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und kinderreiche Familien. Sie brauchen in unserer Gesellschaft kräftige Fürsprecher und eine mutige Lobby.

 

Die Bibel verheißt uns für diesen Einsatz den höchsten Lohn. Ich bin mir dabei bewusst, dass diese Akzente in einem Dreiklang zusammengehören und dass sie im Lauf dieser 1000 Jahre immer wieder hier und anderswo von der Kanzel ausgerufen worden sind. Es ist auch immer wieder viel von dieser Botschaft verwirklicht worden. In einer wunderbaren Sprache sagt es uns der Prophet Jesaja für gestern, heute und morgen: Gesegnetes Tun findet man in folgenden Situationen und Aufgaben: nämlich „die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deiner Verwandten nicht zu entziehen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach. Wenn du dann rufst, wird der Herr dir Antwort geben, und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: Hier bin ich. Wenn du der Unterdrückung bei dir ein Ende machst, auf keinen mit dem Finger zeigst und niemand verleumdest, dem Hungrigen dein Brot reichst und den Darbenden satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf und deine Finsternis wird hell wie der Mittag." (Jes 58,6-10) Dies, zusammen mit Gotteslob und Lebensfreundlichkeit, ist wohl das, was uns im Kern das geschenkt hat, was in den 1000 Jahren Kontinuität sowie Identität gewährt hat. Darum bitten wir auch für heute und morgen. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann
Es gilt das gesprochene Wort

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz