Predigt im Pontifikalgottesdienst am Pfingstsonntag

8. Juni 2003, im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 8. Juni 2003

8. Juni 2003, im Hohen Dom zu Mainz

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Pfingsten ist der Durchbruch der neuen Wirklichkeit, die durch die Auferstehung Jesu Christi angebrochen ist. Es geht um den Sieg Jesu Christi am Kreuz und in der Auferweckung über die Mächte des Todes und der Sünde, des Hasses und des Unfriedens. Pfingsten bringt kein neues Evangelium, es macht uns aber fähig, das Evangelium Jesu Christi unverkürzt und in seiner ganzen explosiven Kraft für unsere Zeit, für jede Zeit zu hören, zu verstehen und weiterzusagen. Darum ist Pfingsten auch das Fest der Geburt der Kirche. Da wird sie grundlegend ausgestattet durch den Geist, damit sie die Botschaft Jesu Christi weitertragen kann in alle Welt, in alle Kulturräume, Sprachen und durch alle Tiefen und Höhen der Geschichte hindurch.

Gerade das Johannesevangelium legt großen Wert darauf, dass der Geist nichts grundstürzend Neues bringt. „Er wird von dem Meinen nehmen," sagt Jesus. Aber das bedeutet auch, dass er das Evangelium Gottes immer wieder neu zur Sprache bringt, zur Erfahrung kommen lässt, dass nicht einfach nur daran erinnert, dass es einmal gewesen ist, sondern es mit der ganzen Kraft Wirklichkeit werden lässt in jeder Zeit, auch in unserer Zeit. Der Geist macht wahr, was die Bibel mit einem kleinen Wort so ausdrückt: Jesus hat uns ein für alle Mal das Licht und das Leben von Gott, dem Vater gebracht. Er hat ein für alle Mal, wirklich einmal alles durchlitten, alles ist wirklich auch konkret in unserer Geschichte Ereignis geworden. Aber nicht so, dass man es abschließt, dass man alles sozusagen archivieren kann, sondern: Da ist etwas geschehen, ein für alle Mal, und das gilt gerade auch heute und solange die Welt besteht. Darum ist Pfingsten der Durchbruch der neuen Wirklichkeit, die Jesus uns geschenkt hat, in die Geschichte hinein, in unseren Alltag, in unser tägliches Leben.

Zwei Dinge dauern durch den Geist auch von Ostern her an: der Ostergruß des Auferstandenen, wie wir ihn gerade nochmals im Evangelium gehört haben, heißt „Friede!". Und dieser gehört mit der Ostergabe, der Freude, zusammen. Der hl. Paulus sagt: Friede und Freude, das sind die Früchte des heiligen Geistes (vgl. Gal 5,22). Der Geist wirkt, wenn wir Streit und Hass lassen können, wenn wir uns versöhnen, wenn Friede unter uns herrscht, Friede im Sinn der Bibel. Das betrifft nicht nur das Verhältnis von Menschen, es bedeutet das Verhältnis der Ausgeglichenheit, des Lebenslassens in der ganzen Schöpfung. Und Freude ist ein Zeichen und eine Frucht von Ostern: Es ist die Freude darüber, dass wir bei allem Kampf, den wir fortsetzen müssen, das Böse, Tod, die Sünde, Verzweiflung letztlich nicht mehr fürchten müssen. Sie sind im Kern überwunden, und wir werden eingeladen, in Freude zu kämpfen gegen alles Widrige und Schwierige in der Welt. So ist der Geist die Verbindung der Jünger, die lebendige Beziehung der Jünger zum auferstandenen Herrn. Er schafft durch den Geist eine erneuerte Welt, vor allem – wir haben es eben gehört – durch die Vergebung der Sünden (vgl. Joh 20, 19-23). Da werden die feindseligen und unversöhnlichen Mächte der alten Welt, die in uns wirksam sind und um uns herum, wirklich überwunden.

Meine lieben Schwestern und Brüder, der Geist sorgt dafür, dass diese Gabe Gottes unversehrt und rein, nämlich als Gabe Gottes in unsere Welt kommt. Sie wird dadurch, dass sie in unsere Welt kommt, nicht verwässert oder angepasst, sondern weil es die Gabe Gottes ist, weil sie dem Geist Gottes entspricht, ist sie zugleich von Gott her mit aller Kraft bei uns und erreicht unsere Zeit und Geschichte treffsicher, sie kommt bei uns auch wirklich an. In diesem Sinne bedeutet das Kommen des Geistes immer die Aktualisierung der Frohbotschaft Gottes für die Welt.

Meine lieben Schwestern und Brüder, dieses Kommen des Geistes, diese Neuheit des Geistes ist immer noch das Aktuellste und Wichtigste für die Welt, auch wenn wir dies gewöhnlich wenig wahrnehmen und verstehen.

Ich meine, mustergültig sagt dies – hinein in unseren Alltag des Einzelnen, der Gemeinschaften, aber auch der Gesellschaft – die Pfingstsequenz, wie wir sie eben gesungen haben. Dieses Lied stammt aus Paris und ist etwa um das Jahr 1200 entstanden. Aber was darin gesagt wird, ist mit keinem Buchstaben veraltet, sondern trifft genau auch unser Leben: „Ohne dein lebendig Wehn kann im Menschen nichts bestehen, kann nichts heil sein noch gesund". Dann wird entfaltet, was das konkret heißt: „Was befleckt ist, wasche rein. Dürrem gieße Leben ein. Heile du, wo Krankheit quält. Wärme du, was kalt und hart. Löse, was in sich erstarrt: Lenke, was den Weg verfehlt." Das ist genau auch unsere Wirklichkeit, und darum spüren wir, dass der Geist uns leitet und lenkt, auch wenn wir gelegentlich irre gehen und zweifeln. Er führt uns den Weg, so wie der Herr es uns versprochen hat: Er wird euch in alle Wahrheit einführen.

Meine lieben Schwestern und Brüder, das gilt nicht nur für den Einzelnen und unsere kleineren Lebensgemeinschaften. Das gilt auch für die notwendigen Erneuerungsvorhaben in unserer Gesellschaft: Wir brauchen dringend diesen Geist, den Geist, der Selbstblockaden für die Reformen überwindet, sodass wir nicht nur einfach am Bisherigen festkleben und festhalten, nur unseren Besitzstand sehen: Der Geist macht uns Mut, auch uns selber zu überschreiten, nicht nur auf uns selber zu schauen, sondern auch auf die vielen, die mit uns sind und die künftig das Geschick der Menschheit lenken. Der Geist macht uns auch Mut, auf Neues und noch nicht völlig Erprobtes, bei dem noch nicht alle Sicherheit da ist, zuzugehen. Der Geist gibt uns auch den Mut zu wissen: Wir sind nie ganz fertig. Wir müssen immer wieder auch bereit sein, neue Erfahrungen zu machen, vieles umzustellen in unserem Leben, einzeln und gemeinsam, und auch da und dort etwas zu revidieren, wo wir etwas nicht mehr einfach so weitermachen können. Nicht, damit wir es schlechter haben, sondern damit wir etwas ändern, um das Entscheidende bewahren zu können. Und darum brauchen wir den Geist, denn er ist der wahre Mut zur Zukunft, und er kann uns aus dieser Resignation, aus dieser Lähmung herausreißen und uns mehr Zuversicht und Hoffnung schenken.

Dies, meine lieben Schwestern und Brüder, ist die ewig neue und stets junge Kraft des Geistes, die ganz zentral das Leben der Christen und der Kirche auszeichnet, von Anfang an, deswegen spricht man auch von der Geburt der Kirche an Pfingsten. Wir brauchen diese Kraft des Geistes, ganz besonders im Einzelnen, aber auch als Kirche unterwegs und zwischen den Zeiten, in der wir vieles bestehen müssen, in der wir nicht müde werden dürfen und auch nicht glauben dürfen, dass man immer mit allem einfach nur so weitermachen könne. Es muss auch den Mut zum Wandeln geben, damit wir wirklich echten Bestand haben. Der Geist bringt uns diesen unwahrscheinlichen Mut, der nicht einfach vom Menschen kommt, sondern der das Leben Gottes bringt, das nicht einfach in unseren eigenen Interessen erstickt werden kann, sondern in dem wir weit werden, tiefer werden, tiefer gründen auch und auch höher hinauskönnen, nämlich über unsere Köpfe weg. Amen.

---------------------------------

copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz

Es gilt das gesprochene Wort

---------------------------------

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz