Predigt im Pontifikalgottesdienst zum 70. Geburtstag

am 16. Mai 2006

Datum:
Dienstag, 16. Mai 2006

am 16. Mai 2006

An einer Stelle in der Heiligen Schrift kommt der 70. Geburtstag vor. Der Mensch erfährt dabei seine Vergänglichkeit. Gegenüber der Ewigkeit Gottes sind die Worte des Psalmisten eher düster im Blick auf die Hinfälligkeit des Menschen: „Du lässt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: ‚Kommt wieder, ihr Menschen!’ Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht ... Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.“ (Ps 90,3-4.10)

In Erinnerung an die Urgeschichte des Menschen wird die Erfahrung ausgesprochen, dass der Mensch nicht mehr im Paradies lebt und dass er unter Mühsal und im Schweiße seines Angesichts das Brot essen wird (vgl. Gen 3,16-19). Wenn er sich bis in das Alter abgearbeitet hat, spürt er diese Endlichkeit noch viel stärker.

Es ist gut, dass wir an die Begrenztheit des menschlichen Lebens erinnert werden, gerade auch an einem Geburtstag. Die Heilige Schrift weiß, dass dies freilich nicht nur unsere einzige Erfahrung ist, nämlich dass das Leben einfach und plötzlich ohne Ertrag zu Ende geht. Es fliegt nicht einfach weg wie ein Vogel. Wir haben auch Grund zum Dank. Dies beginnt schon mit unserem Dasein, das wir durch die Hand Gottes unseren Eltern verdanken. Es ist immer schon ein Wunder, dass wir überhaupt sind und unser Leben bis zum heutigen Tag bewahrt worden ist. Hier legt sich die Frage des Philosophen nahe: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? So ist das Erste an diesem Tag das Staunen darüber, dass wir grundlos in der Welt sind und durch die Güte Gottes leben dürfen. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass es unzähligen Menschen auf unserer Welt viel schlechter geht. Für sie ist unser Leben oft zur Hölle geworden. Nicht alle wohnen auf der Sonnenseite der Erde. Um so mehr empfinden wir Dank und sind zum weltweiten Zeugnis von Glaube, Hoffnung und Liebe verpflichtet.

So gibt es auch keinen Anlass zu Selbstgerechtigkeit und Stolz. Mit Recht sagt der hl. Paulus: „Und was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kor 4,7) Dies steigert nochmals unsere Dankbarkeit.

Vor so viel Gunst und Gnade entsteht in unserem Leben das, was ich gerne mit dem Wort Zuversicht bezeichnen möchte. Sie rührt davon her, dass es uns trotz mancher Schicksalsschläge bisher gut gegangen ist. Zuversicht ist mehr als Hoffnung. Sie ist auch viel mehr als ein bloßer Optimismus. Es ist eine intensive, gestärkte, begründete Hoffnung. Dies schafft Vertrauen und Gewissheit, dass wir auch in Zukunft diese gnädige Unterstützung und Begleitung erfahren dürfen. Diese Erfahrung lässt geradezu die Erwartung aufkommen, dass wir auch in Zukunft bewahrt werden. In treffenden Worten sagt dies schon der mailändische Kirchenvater und Bischof Ambrosius: „Zuversicht ist die Stärke unserer Hoffnung und zugleich so etwas wie Autorität, eine Ermächtigung des Hoffenden.“ (Erklärung zu Psalm 118, 15, 28)

Ich glaube, dass wir Christen diese Zuversicht im Glauben auf besondere Weise erfahren dürfen. Seitdem Gott in Jesus Christus bereits mitten in der Geschichte das Heil angekündigt und gebracht hat, wissen wir, dass Gott wirklich unter uns ist und mit uns das Leben teilt. Die Erfüllung der Hoffnung liegt nicht in endzeitlicher Ferne und ist keine verzweifelte Utopie, vielmehr ist sie gewiss vorläufig, bruchstückhaft und verletzlich, aber wirklich und erneuernd gegenwärtig. Man kann und darf darum zuversichtlich sein. Diese Zuversicht ist Sache aller Christen. Wir fliegen dabei nicht leichtfüßig und illusionär über die oft brutale Wirklichkeit unserer Welt. Schließlich ist es die Hoffnung, die am Holz des Kreuzes gesiegt hat. Deshalb ist die Zuversicht oft eher verborgen wirksam. Diese Hoffnung wird oft auch durch uns selbst, durch unsere Furcht, unsere Zweifel und unseren Kleinglauben verdeckt.

Verehrte, liebe Schwestern und Brüder, dies ist auch das Bekenntnis meines Lebens. Es ist eine auf Gott bauende, dadurch vertrauensvolle Zuversicht. Die Erfüllung dieser Erwartung verlangt Geduld und Gelassenheit. Dies ist etwas anderes als Nachlässigkeit. Wir legen nicht träge die Hände in den Schoß. Es ist eine aktive Geduld. Sie weiß, was der Herr uns sagt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.“ (Lk 17,10) Diese Zuversicht wächst durch die Erfahrung, dass Gott jedes begonnene Werk zur Vollendung führt: „Ich vertraue darauf, dass er, der bei euch das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu.“ (Phil 1,6)

Eine solche Zuversicht ist ein zentrales Kennzeichen des christlichen Glaubens. Wie schon das Neue Testament zeigt, ist diese Zuversicht gerade für die frühe Christenheit wichtig, weil sie nach dem ersten Aufschwung der Begeisterung im Glauben müde geworden ist und überall Phänomene einer schleichenden Resignation sowie des stillen Abfalls zeigt. Hier schenkt uns diese Zuversicht aus dem Glauben auch heute das beste Heilmittel (vgl. besonders Hebräer-Brief 11,1 u.ö.). Dafür ist uns in beiden Testamenten der Bibel Gottes Segen verheißen: „Gesegnet der Mann, der auf den Herrn sich verlässt und dessen Hoffnung der Herr ist. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und am Bach seine Wurzeln ausstreckt: Er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt; seine Blätter bleiben grün; auch in einem trockenen Jahr ist er ohne Sorge, unablässig bringt er seine Früchte.“ (Jer 17,7 f., vgl. auch Ps 1,3)

Dennoch dürfen wir die Klage über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, die wir am Anfang im Psalm 90 gehört haben, nicht vergessen. Es wäre sonst ein zu billiges Lob des menschlichen Lebens, auch wenn es aus dem Glauben erfolgt. Wir wissen schließlich um unsere Versäumnisse und unsere Vergehen. Gott kennt auch die Abgründe unseres Herzens. Es ist darum ein großer Trost, sagen zu dürfen: „Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles.“ (1 Joh 3,20 b)

Vor diesem Hintergrund mahnt uns der Psalmist nicht nur negativ im Blick auf die Hinfälligkeit des Menschen, er bittet auch um die rechte Lebensweisheit, mit unserer Endlichkeit so umzugehen, dass das Leben als Gabe Gottes angenommen und erfüllt gelebt werden kann. „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ (Ps 90,12) Das Wissen um die Begrenztheit der uns zugemessenen Zeit soll uns die Kostbarkeit jedes einzelnen Tages bewusst machen. Wir sollen jeden Augenblick als Gabe des guten Schöpfergottes staunend annehmen und als Herausforderung bestehen. Ein weises Herz gewinnt einer, der seine Grenzen kennt, weil er an die Begrenztheit des menschlichen Lebens denkt.

So versöhnt uns auch der Psalmist am Ende bei aller eindringlichen Mahnung wieder: „Es komme über uns die Güte des Herrn, unseres Gottes. Lass das Werk unserer Hände gedeihen, ja lass gedeihen das Werk unserer Hände.“ (Ps 90,17) Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz