Ehrendomkapitular Prälat Walter Seidel bei der Feierstunde zu seinem 80. Geburtstag (c) Bistum Mainz / Blum (Ersteller: Bistum Mainz / Blum)

Predigt im Pontifikalrequiem für Ehrendomkapitular Prälat Dr. theol. h.c. Walter Seidel

Datum:
Freitag, 7. Januar 2011

am 7. Januar 2011 im Mainzer Dom

Lesungen: Röm 8,31b-35. 37-39; Joh 14,1-6

Es ist nicht leicht, sich einen toten Walter Seidel vorzustellen. So lebendig steht er gerade hier im Dom, wo er so oft die Eucharistiefeier hielt und predigte, mit seiner Gestik und seiner Sprache vor unseren Augen. So wird er uns auch in lebendiger Erinnerung bleiben.

Walter Seidel kam aus seiner schlesischen Heimat, die ihn immer und ein Leben lang prägte, über einen Krankenhausaufenthalt in Bad Nauheim in die Diözese Mainz. 57 Jahre war Walter Seidel Priester in unserem Bistum. Am 27. Februar 1954 wurde er hier im Mainzer Dom von Bischof Stohr geweiht. Die erste und einzige wirkliche Kaplanstelle in Gießen/St. Bonifatius, damals noch so etwas wie die Mutterpfarrei der oberhessischen Gemeinden, hat ihn drei Jahre tief geprägt. Davon rühren seine Liebe zur Diaspora, aber auch die Freude am eigenen Glauben, nicht zuletzt aber auch sein großer Einsatz für die Ökumene.

Vor mehr als 50 Jahren kam Walter Seidel als Studentenseelsorger nach Mainz. Lehrende und Lernende der Johannes Gutenberg-Universität kamen in jener Zeit immer wieder mit ihren Fragen, Wunden und Nöten aus der Zeit des Krieges und danach in die Hochschulgemeinde. Walter Seidel war maßgeblich beteiligt am Entstehen der Gebäude der Hochschulgemeinde und der Kirche St. Albertus. 1963 übernahm er die Pfarrei St. Albertus, damals eine der ganz wenigen Hochschulgemeinden in unserem Land, die auch eine Pfarrei bildeten. Damit war eine wichtige Spur in diesem Leben gelegt: die unermüdliche Sorge für die Akademiker aller Arten, ja für Verantwortliche überhaupt im Bistum Mainz. Künftig liegt fast alles, was er unternimmt, in der Gesamtausrichtung dieses Auftrags. So wird er Diözesanseelsorger für die Akademikerarbeit und bald darauf auch zuständig für die wichtige Priesterfortbildung, die damals noch in den Anfängen steckte. Prälat Seidel gehört in die Reihe einiger besonders herausragender Pioniere einer neuen Hochschulpastoral nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dieser Zeit rühren unzählige Freundschaften. Viele Studierende haben in diesen Jahren bei ihm die Zurüstung des Glaubens für ihr persönliches Leben und ihre berufliche Verantwortung gefunden. Als Prälat Seidel gut zehn Jahre später diese Aufgabe abschloss - man denke an die Umwälzungen des Jahre 1968 - war die Welt schon anders geworden.

Walter Seidel blieb der Hochschule und nicht zuletzt der akademischen Welt sehr verbunden. Er war immer auch der Theologie zugetan. Ich bin dankbar, dass die Katholisch-Theologische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität dies durch die Verleihung des Ehrendoktorates anerkannte. Prälat Seidel hatte nicht nur ein hohes Interesse und eine große Sensibilität für die Fragen der Kunst, z. B. im Blick auf die Ausgestaltung des „Aschermittwochs der Künstler", sondern er hatte selbst ein künstlerisches Talent, in der Musik verbunden mit dem Violinspiel; aber er hatte eben auch, durch die Kunst der Gestik und Mimik, ein regelrechtes schauspielerisches Talent, hier nicht unähnlich seinem großen Gönner Hermann Kardinal Volk und auch dem verstorbenen Papst Johannes Paul II. Später sagte er einmal: Mit vier Jahren konnte ich auf der Geige spielen, lange bevor ich lesen konnte.

Zur Akademikerpastoral gesellte sich, wie schon erwähnt, die Bildungsarbeit auf vielen Ebenen. Er wusste, wie wichtig die Weiterbildung für alle pastoralen Berufe ist, um verantwortungsvoll und glaubwürdig den Fragen der Zeit standzuhalten. Die Tätigkeit im Haus am Dom und die Vorträge im Dom sind hier eigens zu nennen. Ab 1972 hat er eine herausragende Arbeit für die Ökumene geleistet, und zwar auf allen Ebenen: im Bistum, in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, auf der Ebene der Bundesrepublik und in der Region Rhein-Main, aber auch als Teilnehmer der ökumenischen Gespräche zwischen der VELKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Ich freue mich, dass Bischof Prof. Dr. Paul-Werner Scheele aus dieser Zeit unter uns ist. Dabei hatte er lebendige Kontakte und große Wertschätzung für die Schwestern und Brüder aus den orthodoxen und den reformatorischen Kirchen.

So liefen schließlich dann auch fast alle Fäden bei der Planung und beim Bau des Erbacher Hofes bei Prälat Seidel zusammen. Hier konnte er seine vielfältigen Erfahrungen aus der Akademikerarbeit einbringen. Prälat Seidel hat es immer wieder verstanden, durch Menschenfreundlichkeit und Humor, Gastfreundschaft und den Stil des Hauses, Kompetenz und ein gutes Witterungsvermögen für die „Zeichen der Zeit" zuerst für den Bau, aber auch für die Sacharbeit eine gedeihliche Atmosphäre zu schaffen. Dass der Erbacher Hof, gleichzeitig gefördert durch Herrn Weihbischof Wolfgang Rolly und nun glücklich fortgesetzt durch den jetzigen Direktor, Prof. Dr. Peter Reifenberg, inzwischen zu den angesehenen Akademien und Bildungshäusern in unserem Land gehört, geht auf diese geglückte Gründung zurück. 15 Jahre hat Prälat Seidel insgesamt dieses Haus grundlegend geprägt. Hier findet man auch heute noch die Spuren seiner Persönlichkeit und seines Wirkens: Katholische Weite und ökumenische Offenheit verbinden sich miteinander. Unkonventionelle, ja auch unbequeme und vergessene Themen und Gestalten werden zum Leben erweckt. Die kulturelle Diakonie, der Dienst an der Kultur, war für ihn zentral. Vor allem konnte Walter Seidel in hervorragender Weise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses motivieren und für den großzügigen Einsatz in ihm gewinnen. Er war auch in diesen Dingen von Grund auf Seelsorger. Überhaupt führte er mit vielen Menschen seelsorgliche Gespräche, nicht zuletzt aus dem Bereich der Ökumene. Nicht wenige Menschen begleitete er auch auf dem Weg von Konversionen in unsere Kirche. Diesen Aufgaben ist er, solange er nur konnte, auch nach seiner Versetzung in den Ruhestand (2001) treu geblieben. Dies gilt auch für den Ritterorden vom Hl. Grab zu Jerusalem, dessen Prior der Rhein-Main-Provinz er war. Seine Brüder aus dem Orden werden dies noch selbst bezeugen.

Wenn man sich fragt, worin die ungewöhnliche Wirkung von Walter Seidel auf die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche lag, so wird man besonders auch an seine Predigten im Sonntagsgottesdienst um 11.30 Uhr hier im Dom denken. Zahlreiche Menschen fanden sich jeden Sonntag zu diesem Gottesdienst ein. Viele hat er dadurch jahrzehntelang bereichert. Dies haben in Briefen an mich in diesen Tagen auch Herr Ministerpräsident Kurt Beck und Herr Oberbürgermeister Jens Beutel bestätigt.  Nach meinem Empfinden waren es vor allem drei Elemente, die sein Ansehen erklären und kennzeichnen:

  • Walter Seidel war durch und durch von der Verkündigung des Evangeliums geprägt. Es war seine tiefe Leidenschaft, gleichsam mit Haut und Haar, mit Leib und Seele, Zeuge von Gottes Heil für die Welt zu sein. Davon war er gepackt. Wie der hl. Paulus von sich selbst sagte, lag geradezu eine Art Zwang auf ihm, Kunde zu geben von dieser unzerstörbaren Freude im eigenen Leben (vgl. 1 Kor 9,16). Ich erinnere mich, wie er mir einmal erzählte, dass er als Kaplan in Gießen fast die gesamte Woche mit dem Rucksack und Fahrrad unterwegs in die Gemeinden war, teilweise mit dem späteren Weihbischof Rolly, um in den Häusern der katholischen Heimatvertriebenen den Kindern und Jugendlichen vom Glauben zu verkünden, oft bei der Enge der Wohnungen in der Küche am Herd. Als er davon erzählte, leuchteten seine Augen ganz besonders. Er war immer fasziniert vom Evangelium und wollte dies möglichst spannend anderen erzählen. Vermutlich war er deshalb für viele so faszinierend, weil er selbst vom Evangelium so begeistert war.
  • Es blieb nicht nur beim Verkünden. Er war leidenschaftlich überzeugt, dass der Verkündigung immer auch die Tat des Lebens folgen musste. Was er selbst sagte, tat er auch in seinem Leben. Uns allen sind dabei Grenzen gesetzt. Offenbar hat ihn das Wort, das der Bischof bei der Überreichung von Brot und Wein bei der Priesterweihe spricht, besonders getroffen und ein langes Leben lang in Anspruch genommen: „Bedenke, was du tust, ahme nach, was du vollziehst, und stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes." Gerade darum konnte Walter Seidel auch viele Menschen von der radikalen Mitte des Glaubens her überzeugen. Obwohl er in seiner ganzen Existenz ein Mann der Kirche war, war er deshalb auch nie so etwas wie ein Funktionär.
  • Aber gerade so wusste Walter Seidel auch um die eigenen Grenzen, dass wir immer wieder hinter dem Wort Gottes zurückbleiben, schließlich um die eigene Sündigkeit. Deswegen konnte er auch bei allen Anforderungen, die er stellte, groß sein im Verzeihen und darum auch im Aufrichten von Menschen, die gescheitert oder in Bedrängnis waren. Diese Mischung von Entschiedenheit und Nachsicht, Treue zum Evangelium und Barmherzigkeit machte ihn in besonderer Weise glaubwürdig. Deshalb haben ihn immer wieder auch viele Menschen aufgesucht, die in ihrem eigenen Leben gestrandet waren, in verzweifelte Situationen kamen, einen Neuanfang suchten und auch nicht wenige, die in der Kirche und an der Kirche litten.

Die meisten von uns kannten Walter Seidel, der vom Papst im Jahr 1978 zum „Päpstlichen Hausprälaten" und 1993 zum Ehrendomkapitular ernannt wurde, in seiner stets rüstigen und unermüdlichen Erscheinung. In den Sommermonaten 2008 verließen ihn seine körperlichen Kräfte. Nach einem Krankenhausaufenthalt war er fast zwei Jahre lang im Bruder-Konrad-Stift ans Krankenbett gefesselt. Für diesen aktiven, manchmal auch regelrecht ungeduldigen Menschen, der immer gerne nach vorne stürmte, war dies ein hartes Schicksal. Er hat es im Blick auf das Kreuz des Herrn mit großer Ergebung getragen. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne die Gemeinschaft von freundlichen und hilfsbereiten Menschen, die ihn in diesen still gewordenen Jahren umgaben. Ich möchte Ihnen allen an diesem Tag, da wir nun von Walter Seidel Abschied nehmen, im Namen des ganzen Bistums und persönlich ein herzliches Vergelt´s Gott zurufen: zuerst seiner Familie mit Prof. Dr. Elmar Seidel, seinem Bruder, der leider nicht hier sein kann und nach meinen Informationen selbst im Krankenhaus liegt, Frau Rosemarie Henke-Wolff und ihrer Familie, Herrn Prof. P. Dr. Werner Löser SJ, der oft mit ihm im Krankenzimmer die hl. Messe feierte und zum festen geistlichen Begleiter dieser Jahre wurde, Herrn Dr. Georg Vancura mit allen Ärzten, auf der Station die Schwestern Ulrike und Stefanie und schließlich im Bruder-Konrad-Stift die Schwestern Devota und Donata. Ich weiß, dass noch viele zu nennen wären.

Nun ist Prälat Walter Seidel für immer aus dieser Welt von uns gegangen. Er hat gerade in den letzten Wochen seines Lebens im Blick auf Weihnachten von der notwendigen Stille gesprochen, die erforderlich ist, um das Geheimnis des Glaubens und besonders von Weihnachten zu verstehen. Immer wieder sind ihm einige Worte aus dem Johannesevangelium, die auch Programm seines Lebens waren, über die Lippen gekommen. „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen." (14,2); „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich." (14,6); „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen." (15,5)

In der Silvesternacht, kurz vor der Jahreswende 2010/2011, hat Gott, der Herr, unseren Mitbruder und Freund Prälat Walter Seidel nach langen Monaten der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit, wo er auch an sich selbst neu die Vergänglichkeit des Menschen erfahren musste, in sein ewiges Reich gerufen. Wir danken ihm für seinen großen priesterlichen Dienst in unserem Bistum und in der von ihm geliebten Kirche. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz