Predigt in der Eucharistiefeier zum Silbernen Bischofsjubiläum

am 2. Oktober 2008 im Mainzer Dom

Datum:
Donnerstag, 2. Oktober 2008

am 2. Oktober 2008 im Mainzer Dom

Die Kirche und ihr Herr

Predigttext: Mt 14,22-33

Ich möchte mein Bild von Kirche und meine Erfahrungen in diesen 25 Jahren des bischöflichen Dienstes, zu denen weitere 20 Jahre als Priester hinzukommen (10. Oktober 1963), am Evangelium, das wir soeben gehört haben, anschaulich machen. Es geht um den Gang Jesu auf dem Wasser.

Das Evangelium beginnt mit einem wichtigen Vorspann: Jesus hat offensichtlich den ganzen Tag sich um die Menschen gekümmert, die ihn regelrecht verfolgen. „Alle suchen dich" (Mk 1,37), sagen die Jünger fast vorwurfsvoll. Er heilt die Kranken und speist die vielen Menschen und er tut dies aus „Mitleid" (Mt 14,14) mit ihnen. Die Jünger möchten ihn gewiss mehr für sich haben. Er denkt zuerst an die vielen. Aber so sehr Jesus sich den Menschen und auch den Jüngern zuwendet, er braucht auch, wie der Anfang unseres Evangeliums zeigt, die Einsamkeit und das Gebet. Darum schickt er die Jünger mit dem Boot voraus und die Leute nach Hause. „Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg." (14,23) Er braucht diese Zeit zum Gebet mit dem himmlischen Vater. Auf einem Berg jenseits des anstrengenden Alltags ist er ihm näher. Jesus muss wohl auch immer wieder seine Sendung überdenken. Die Menschen wollen ihn zum König machen. Er aber darf sich nicht von irgendwelchen Machtgelüsten verführen lassen, sondern sucht, gerade auch im Gebet, den Willen des Vaters. Auch wir brauchen solche schöpferischen Pausen, nicht zuletzt der Einkehr bei Gott und des Gebetes. Wir verlieren uns sonst im Gestrüpp des Alltags und unserer Geschäftigkeiten. Dies gilt gerade für die Kirche.

Inzwischen ist das Boot der Jünger schon weit vom Land entfernt. Ein Sturm kommt auf. Das Evangelium fasst knapp zusammen: „Das Boot ... wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind." (14,24) Wörtlich heißt es sogar, dass das Boot regelrecht von den Wellen „gequält" wurde. Hinter dem Wort vom Boot steht nicht nur die alltägliche Lebenserfahrung dieser Fischer, sondern auch das Schicksal der Kirche. Sie wird ja immer wieder mit dem Bildwort des Bootes/Schiffes beschrieben. Sie leidet durch die ganze Geschichte hindurch auf den kleinen und großen Meeren unserer Welt. Manchmal wird sie auch regelrecht gequält, ähnlich wie Menschen leiden. Dazu kommt noch der „Gegenwind" (24). Der Rückenwind durch den Zeitgeist kann uns blenden. Die Verkündigung und Durchsetzung des Evangeliums hat es immer wieder mit widrigen Winden zu tun. Die Kirche darf nie den Kampf mit ihnen aufgeben und erlahmen. Manchmal haben wir wie die Jünger das Gefühl, dass es sehr lange dauert, bis die Quälerei aufhört und der Sturm nachlässt. Erst „in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen" (25). Nach der jüdischen Zeitzählung dauert die vierte Nachtwache von 3 Uhr bis 6 Uhr morgens. Gott lässt uns manchmal lange in den Stürmen der Nacht warten. Aber es ist eine alte Glaubensüberzeugung des Volkes Israel, dass Gottes Hilfe am Ende der Nacht, am Morgen kommt.

Es interessiert Matthäus offenbar nicht so genau, wie dieses Gehen auf dem Wasser ablaufen kann. Es gibt in vielen Religionen die Sehnsucht, dass es dem Menschen möglich ist, über das Meer zu schreiten, Herr zu sein über alle bedrohlichen Mächte, einschließlich des Todes. Es gibt dafür auch eine sehr bezeichnende Legende aus dem Buddhismus, die unserem Text erstaunlich nahe kommt. Kein Wunder, dass die Jünger erschrecken und vor Angst schreien (26). Jesus nimmt ihnen schon durch sein Wort die Ängste. Schon sein menschliches Sprechen wirkt in diesem Getöse befreiend. Aber vor allem ist es die Zusage von Hilfe, die zwar oft in der Bibel vorkommt, aber hier ganz besonders dicht und konzentriert ist: „Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!" (27, vgl. Jes 43,1 ff.) Dieses Wort Jesu wird auch uns immer wieder in den Bedrängnissen, Anfechtungen und Ängsten gesagt. Die drei Worte stehen im Zentrum des Glaubens: Vertrauen, Gegenwart Gottes, Überwindung von Furcht und Angst. Dabei geht es nicht nur um einen allgemeinen Trost, den jeder aussprechen kann. Hinter dem unscheinbaren Wort „ich bin es" steckt nicht nur der Hinweis auf den Sprechenden, sondern da verbirgt sich der Name, mit dem Gott sich selbst vorstellt (vgl. Ex 3,14): Ich bin der, der immer bei euch ist. Sein starker Arm wird ihnen helfen.

Matthäus macht hier nun im Unterschied zu Markus (6,45-52) und auch Johannes (6,16-21) einen größeren Einschub und erzählt, wie es besonders mit Petrus weitergeht. Er spielt ja gerade im ersten Evangelium eine ganz herausragende Rolle. Petrus geht auf das ermutigende Wort Jesu direkt ein: „Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme." Die Bitte zeigt seine Bereitschaft, sich im Angesicht aller Bedrohungen auf Jesus Christus zu verlassen. Petrus ist zweifellos in diesem Sinne eine vorbildliche Gestalt des Jüngers und damit des Glaubenden. Petrus hat schon einen bergeversetzenden Glauben. Und Jesus gibt ihm in der Tat die Kraft dazu. Dies gehört ja zur Sehnsucht des Menschen, über das Wasser zu schreiten - was sonst nur ein Gott vermag - sondern dass die Kraft dazu auch den Menschen geschenkt wird. Auch uns ermutigt in bedrohlichen Situationen Jesus immer wieder mit dem Ruf „Komm!" (29). In der Tat kann Petrus in diesem grenzenlosen Vertrauen auf den Herrn über die Wasser schreiten. Der Glaubende kann Unerhörtes leisten. Aber sofort zeigt sich auch eine Grenze bei Petrus und damit auch bei uns selbst: „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen." (30) Darin zeigt sich eine ganz wichtige Einsicht: Wenn wir das Vertrauen auf den Herrn verlieren und auf die Macht der Wellen und die Kraft des Windes starren und uns eher ängstlich dem Bedrohlichen zuwenden, gehen wir unter. Eine sehr menschliche und mehr als verständliche Haltung, die dennoch ins Verderben führt.

Aber Petrus reagiert auch hier - wie auch sonst - mitten im Versagen richtig und ruft „Herr, rette mich!" (30) Man wird an Psalm 69 erinnert: „Hilf mir, oh Gott! Schon reicht mir das Wasser bis an die Kehle. Ich bin in tiefem Schlamm versunken und habe keinen Halt mehr; ich geriet in tiefes Wasser, die Strömung reißt mich fort ... entreiß mich dem Sumpf, damit ich nicht versinke. Zieh mich heraus aus dem Verderben, aus dem tiefen Wasser! ... Erhöre mich, Herr in deiner Huld und Güte!" (69,2 f.; 15 f.; 17). Hier reicht die Geschichte tief in die Glaubenserfahrung des Volkes Gottes zurück. Gott hat bei der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten seinem Volk gerade in der tiefsten Not geholfen: „Es ging dein Weg durch das Meer, es gingen deine Pfade durch große Fluten und nicht war gesehen die Spur deiner Füße." (Ps 77,20). Oder ein Prophetenwort: „So spricht Jahwe, der einst durch das Meer einen Weg bahnte und einen Pfad durch mächtige Wasser." (Jes 42,16, vgl. auch Ijob 9,8). Unser Glaube wurzelt tief in diesen befreienden Erfahrungen des Volkes Gottes, zuerst unserer Brüder und Schwestern im biblisch-jüdischen Glauben (vgl. dazu auch Röm 11,13 ff.).

Jesus erhört Petrus unverzüglich (vgl. Ps 18,17; 144,7). Das Ausstrecken der Hand Jesu schafft Ruhe (vgl. Ps 144 und Ps 18). Jesus verbindet diese Rettung mit einem Tadel, der auch uns zugesprochen wird. „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?" (31). So fragt uns Jesus auch heute, einzeln und gemeinsam. Beide Worte sind für den ersten Evangelisten typisch: der Kleinglaube der Jünger und ihr Zweifel. Daran hängt es.

Der Ausdruck „Kleinglaube" reicht tief in die Urgestalt des Evangeliums zurück (vgl. Mt 6,30 und Lk 12,28, Q-Quelle). Kleingläubig sind die Jünger, die die Heilsbotschaft erkannt und angenommen haben, sich auch in die Nachfolge rufen ließen, aber als Glaubende immer wieder versagen, besonders wenn sie in Situationen der Anfechtung kommen. Deshalb verhalten sich die Jünger ängstlich in Gefahren (vgl. Mt 8,26; 14,31), aber auch im Blick auf die täglichen Sorgen (vgl. Mt 6,30; 16,8). Es ist nicht die grundlegende Verweigerung des Glaubens, sondern der Mangel an Vertrauen und das fehlende Durchhalten des Glaubens. Der Kleinglaube ist der Unglaube der Jünger. Dieser hat viel mit unserer Halbherzigkeit, der Gleichgültigkeit und dem bloßen Taufscheinchristentum zu tun. Diese Müdigkeit der durchaus Glaubensbereiten trifft der Tadel Jesu. Er gilt nicht nur allgemein, oder nur dem „Laien". Petrus ist ja nicht nur der Prototyp des Jüngers, sondern - wie man immer deutlicher erkennt - die apostolische Grundgestalt. Also sind auch wir „Amtsträger" im tiefsten Sinne angesprochen, vielleicht sogar zuerst. Und dies steht in einem eklatanten Gegensatz zu dem Bekenntnis, das die Jünger dann doch nach dieser Erfahrung des Ganges Jesus auf dem Wasser zum Ausdruck bringen: „Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn." (33) Aber dieses Bekenntnis, das die Jünger zur Anbetung führt (vgl. 28,17), darf nicht immer wieder von Zweifeln zersetzt werden (vgl. zum Zweifel 14,31; 21,21; 28,17), darf auch nicht Ausdruck einer momentanen Stimmung oder Begeisterung sein, sondern braucht - wie das andere Bekenntnis des Petrus im Matthäus-Evangelium lautet - Entschiedenheit und Stetigkeit. Jesus fragte seine Jünger: „Für wen halten die Leute den Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich. Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!" (16,13-16).

Ist dies nicht ein wunderbares, freilich auch sehr nüchternes und provozierendes, erschreckendes und zugleich ermutigendes Bild von Kirche? Ich jedenfalls möchte in diesem Evangelium die Summe der Erfahrungen im Umgang mit Jesus als dem Herrn aller bedrohlichen und chaotischen Mächte und auch im Umgang mit der Größe und dem Elend der Kirche sehen. Wenn wir dieses Evangelium immer wieder uns zu eigen machen, werden wir nicht enttäuscht. Nichts anderes zeigt uns das tiefe Blau auf dem Gebetsbild, das ich mir für den heutigen Tag ausgesucht habe: Jesus rettet den im Wasser Versinkenden. Dem Glaubenden gibt Jesus Stärke, dem Zweifelnden und Versinkenden reicht er helfend die Hand. Das Bild entstammt dem Mainzer Evangeliar aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und ermutigt uns, auch in den Stürmen unserer Tage - komme, was da wolle - Vertrauen zu haben in unseren Herrn, unterstützt vom lebendigen Glauben der Kirche über die Zeiten hinweg. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz