Predigt von Bischof Karl Lehmann im Hohen Dom zu Mainz

Datum:
Sonntag, 31. Dezember 2000

Nur noch wenige Stunden trennen uns vom Anfang des neuen Jahres. Dann wird alles, was in den letzten 12 Monaten geschah, unwiderruflich zum alten Jahr gehören. Es ist und war gelebtes Leben. An manches denken wir gerne zurück, anderes tut weh und bedrückt uns. Dies hängt auch damit zusammen, dass hinfort an dem, was war und noch ist, keine Korrekturen mehr möglich sind. Insofern hat das Jahresende etwas eigentümlich Zwiespältiges an sich, nämlich eine unbestreitbare Endgültigkeit, obgleich wir wissen, dass morgen alles weitergeht. Es ist wie bei einem Rhythmus, zu dem Einschnitte gehören, die ein Stück übersichtlicher gestalten. Jahre teilen unser Leben ein. Gerade deshalb gehören Rückblick und Ausblick gemeinsam zu einem solchen Abend. Dabei geht es nicht nur um den Ablauf einer solchen Feier.

Eine solche Besinnung ist immer auch eine Art Jahresbilanz, die offen legt, was wirklich geschehen ist. Manches, was unübersichtlich und wirr in unserem Herzen lebt, wird geordnet. Manches darf dann auch der Erinnerung übergeben, aufbewahrt oder auch vergessen werden. So werden wir offener und freier gegenüber den unverbrauchten Möglichkeiten, die uns ein neues Jahr schenkt.

 

I.

 

Da ist zunächst alles, was geglückt ist. Es fängt mit unserem eigenen Leben an. Das Jahr hat viele Abschiede gebracht. Wir mussten am Grab von Menschen stehen, von denen wir glaubten, sie wären noch länger bei uns: Erzbischof Johannes Dyba, Geistlicher Rat Werner Krimm, die Dekane Gottfried Nolde und Werner Ruhl, auch Pfarrer und KAB-Präses Manfred Gärtner. Manche kommen hinzu. Gerade hier, in der Bitterkeit des Todes liegt etwas unwiderruflich Endgültiges. Die Zeit bricht jäh ab. Das Leben erscheint unvollendet. Die Frage drängt sich auf: Was eigentlich bleibt? Man kann auf die Dauer dieser Herausforderung nicht ausweichen. Im Glauben wissen wir, dass nur Gott die Fragmente unseres Lebens zu einem Bild zusammensetzen und vollenden kann. In diesem Sinne traf das Leitwort dieses Heiligen Jahres: Sein ist die Zeit in die Mitte unseres Lebens. Dies ist eine Lehre für uns: Halt und Geborgenheit schenkt allein die Hoffnung, dass Gott alles sammelt und bewahrt, auffängt und reinigt, was unwiederholbar vergangen zu sein scheint.

 

Wir haben in dem zu Ende gehenden Jahr ein Heiliges Jahr gefeiert. Wie immer man unsere Zeit zählt, auf jeden Fall beginnen spätestens morgen das Dritte Jahrtausend und ein neues Jahrhundert. Auch im Bistum haben wir viele Erfahrungen im Umgang mit unserer Zeit gemacht. Manches haben wir auch für die Zukunft gelernt. So z.B. die Einladung zu Besinnung und Feier an diesem Silvesterabend, die viele Menschen dankbar aufgegriffen haben. Wir wollen dies fortsetzen.

 

Aber wir danken ganz besonders Papst Johannes Paul II. Seit Jahren hat er ganz auf dieses Jahr 2000 hingelebt. Niemand hat so früh und so leidenschaftlich schon seit Jahren hellsichtig dieses Heilige Jahr als Chance und Aufgabe für uns Christen angekündigt und auch angemahnt. Es gab auch hier Höhepunkte, wie z.B. das Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte, die Reisen in den Nahen Osten, besonders nach Israel und Jerusalem, und schließlich das Weltjugendtreffen, bei dem der gewiss gebrechlich wirkende Papst fast 2 Millionen junge Menschen anzog. Wir sind ihm dankbar, dass er gerade auch bei der physischen Belastung unentwegt und wach das Evangelium unverkürzt der Welt und in der Kirche verkündigt. Er zeigt uns, wie es um unsere Sendung bestellt ist und was wir ihm Dritten Jahrtausend mutig aufgreifen und weiterführen müssen.

 

Es gab in der Welt auch einzelne Lichtblicke, die uns hoffen lassen: in Korea sprechen über 50 Jahre verfeindete Menschen und Regierungen wieder miteinander. In Jugoslawien ist vom Volk ein verhängnisvoller Diktator gestürzt worden. Wir zittern mit den bedrängten Menschen im Nahen Osten, denn der lang ersehnte Friede erscheint zum Greifen nah und doch so ungeheuer verletzlich und darum fern. Überhaupt ist es ein Kennzeichen unserer Tage, dass wir die tiefe Ambivalenz zwischen Frieden und Unfrieden, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Fortschritt und Rückschritt, Humanität und Barbarei erfahren müssen und dass uns deswegen auch manchmal die so notwendige Unterscheidung der Geister schwer fällt. In diesem Zusammenhang war die EXPO in Hannover, bei der wir als Kirchen sehr gute Chancen hatten, eine wichtige Begegnung, ja ein Fest der Völker, das eine viel größere Bedeutung hat als die Unheilsnachrichten über die nicht voll erreichten Ziele vermuten lassen, die von Anfang an überzogen waren.

 

Immer wieder stehen wir sprachlos vor Ausbrüchen von Gewalt, nicht zuletzt gegenüber Ausländern, Bürger jüdischer Herkunft sowie Armen, nicht zu vergessen auch Frauen, Kinder und Alte. Die Gewaltbereitschaft ist allenthalben im Steigen begriffen. Die deutschen Bischöfe haben in ihrem neuen Friedenswort "Gerechter Friede" auf diese Fragen eine wichtige Antwort zu geben versucht: Wir müssen schon im frühesten Stadium von Konflikten aufeinander zugehen und durch präventive Maßnahmen, nicht zuletzt das Gespräch, den Ausbruch von Gewalt zu verhindern oder wenigstens zu verringern versuchen. Friedenserziehung ist keine Angelegenheit mehr von pazifistisch agierenden oder auch verschrieenen Minderheiten, sondern gehört grundlegend zum christlichen Menschenbild.

 

Gewalt ereignet sich auch beim Versagen von Natur und Technik. Unser etwas verborgener, aber doch noch wirksamer Fortschrittsglaube hat durch die Katastrophen des Überschallflugzeuges Concorde und der Seilbahn im österreichischen Kaprun einen schrecklichen Dämpfer erhalten, den wir nicht so schnell vergessen sollten. Es gibt auf Erden keine absolute Sicherheit. Um so mehr wissen wir, was es heißt: Sein ist die Zeit. Wenn wir daran denken, dann sind wir auch in der Lage, gelassener und nüchterner mit den Risiken unserer Welt umzugehen und so zu leben.

 

II.

 

Damit ist auch schon in vieler Hinsicht ein Vorblick in das, was kommt, geschehen. Ich möchte dennoch einige Aufgaben kurz nennen, die sich uns besonders im neuen Jahr nahelegen. Ich kann hier freilich diese Prioritäten nur erwähnen. Sie sind immer wieder an anderer Stelle ausführlicher entfaltet worden.

 

Unsere rasend beschleunigte Zeit und der rasante Wandel machen es uns schwer, diesen manchmal zwanghaften Lauf der Dinge wenigstens durch Besinnlichkeit zu unterbrechen. Wir alle, auch die Glaubenden, sind bis in unser Denken und Fühlen hinein von einem sehr säkularen Bewusstsein mitbestimmt. Es ist schwerer geworden, wenigstens einen Spalt der Tür zur Transzendenz, zu Gott und Ewigkeit zu öffnen. Der Zeitgeist schlägt sie mit kräftigem Wind immer wieder zu. Umso mehr müssen wir alle Aktivitäten des kirchlichen und christlichen Lebens auf das Eine Notwendige konzentrieren: die Wege zu Gott offen zu halten und in Wort und Tat von ihm Zeugnis zu geben. Dazu gehört untrennbar ein neuer missionarischer Aufbruch, den wir in Ost und West lebensnotwendig brauchen und zu dem wir Bischöfe erst wenige Tage vor Weihnachten in einem neuen Text "Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein" aufgerufen haben.

Alles andere ist sekundär, ohne dass wir fundamentalistisch denken dürfen. Ohne Gebet und Gottesdienst ist ein solcher Aufbruch jedoch schlechthin nicht möglich. Wir brauchen dringend ihre Erneuerung und Vertiefung. Gerade die großen Märtyrer der Christen, die wir im Jahr 2000 in unserer Kirche und gemeinsam mit anderen Christen in Erinnerung gerufen haben, können uns immer wieder zeigen, wie sehr der Geist der Anbetung, der keine Kniefälle macht vor alten und neuen Götzen, eng zusammengehört mit einem Leben in Freiheit, was auch ein Funktionieren demokratischer Lebensformen und Institutionen einschließt.

 

Die Katastrophen, auch Naturkatastrophen aller Art wie Erdbeben und Überschwemmungen, und die Grenzen unseres Lebens zeigen uns, dass wir Menschen immer auch gefährdet sind und zugleich andere gefährden. Dies gilt zuerst für das Leben. Das menschliche Leben steht dabei im Vordergrund, aber wir sind immer auch Mitgeschöpfe der Steine, Pflanzen und Tiere und brauchen sauberes Wasser und gesunde Nahrung, frische Luft und ein intaktes Klima. Darum müssen wir die Sorge um die Bewahrung und Förderung allen Lebens steigern, wie wir es seit 10 Jahren in der jeweiligen "Woche für das Leben" mit unseren evangelischen Partnern versuchen. Wir sind überall gefährdet, uns zu Richtern und Herren des Lebens aufzuwerfen und merken dabei oft gar nicht, dass wir mit unseren Manipulationen und Ausbeutungen der Erde am Ende uns selber treffen, wie die Klimaveränderungen, aber auch die BSE-Seuche belegen. Ehrfurcht vor dem Leben gehört künftig noch mehr zu den ersten Geboten.

 

 

Am Beginn des Dritten Jahrtausends wird diese Herausforderung des Schutzes des Lebens am Anfang und Ende des Daseins noch dringlicher. Die Sorge um das Leben des ungeborenen Kindes gegen alle Versuchung zur Abtreibung ist nur ein Vorspiel, freilich von grundlegender Bedeutung, für die steigende Bedrohung des Lebens. Schon aus diesem Grunde müssen wir unsere Beratung ungewollt schwangerer Frauen, die in Nöte und Konflikte kommen, mit aller Entschiedenheit fortsetzen. Dies ist keine Frage bloß am Rand des ethischen und kirchlichen Lebens, sondern gehört in die Mitte. "Wähle das Leben", sagt mit aller Deutlichkeit bereits das Alte Testament. Dabei sollten wir nicht resignierend erklären, mit dem Verzicht auf die Ausstellung von Beratungsnachweisen ab dem 1.1.2001 könnten wir die Frauen in dem für das ungeborene Kind tödlichen Konflikt auf Leben und Tod nicht mehr erreichen. Hier gibt es gewiss Einbußen und mindestens Übergangsschwierigkeiten. Aber der Beratungsnachweis wäre auch grundlegend – nicht nur in kirchlicher Perspektive – missverstanden, wenn man in ihm fast nur noch letztlich die Möglichkeit zu einer straffrei bleibenden Abtreibung sieht, wie es leider trotz jahrelanger Aufklärung immer mehr der Fall ist. Ich bitte daher alle Schwestern und Brüder von ganzem Herzen, die in der Sache ungebrochene, ja erweiterte und vertiefte Fortsetzung der kirchlichen Beratung voll zu unterstützen und abtreibungsgeneigte Frauen auf unsere Beratungsstellen hinzuweisen, welche die Mutter zur Annahme und zum Austragen des Kindes ermutigen und ihr dazu Hilfen zukommen lassen wollen.

Der Test geht noch weiter. Leben wird künftig noch subtiler und raffinierter gefährdet. Dabei sind es oft verführerische Wege, die angeboten werden. Wer möchte nicht alles tun, um bisher unheilbare Krankheiten zu heilen! Aber ein noch so guter Zweck kann nicht unzulässige Mittel rechtfertigen, wie sie z.B. beim "therapeutischen Klonen" durch das Verbrauchen, d.h. Töten von Embryonen in Anwendung kommen. Wir sollten uns gerade in Deutschland durch die Förderung alternativer Forschungswege, die nicht zu solchen Mitteln greifen, auszeichnen und dadurch in Wettbewerb treten. Deshalb darf das Embryonenschutzgesetz an diesem Punkt nicht verwässert werden. Dies gilt ähnlich für andere Entdeckungen, wie die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die bei aller großen Bedeutung freilich immer wieder mit unbegründeten Utopien verbunden wird, wie z.B. die ewige Jugend des Menschen. - Auf ähnliche Gefahren am Ende des Lebens möchte ich nur hinweisen, wie die Gesetzgebung zur aktiven Sterbehilfe in Holland erweist.

 

Ich möchte in diesem Zusammenhang nur noch die notwendige Förderung von Ehe und Familie erwähnen, die von alters her der bevorzugte, ja nach unserer Überzeugung der einzige Ort der geordneten Weitergabe des Lebens ist und sein soll. Wer diese Lebensformen gering schätzt, gefährdet die Grundfesten der menschlichen Gemeinschaft, auch wenn er dies erklärtermaßen nicht will. Deshalb fordern wir erneut alle, die die sogenannten alternativen Lebensformen mehr zur Geltung bringen wollen, auf, sich mit dem Abbau wirklicher Diskriminierungen zu begnügen und nicht das Abstandsgebot zu Ehe und Familie zu missachten.

 

Schließlich ist nicht zu übersehen, dass der verantwortliche Umgang mit dem Leben auch viel zu tun hat mit der Annahme des Fremden: Wie wir das ungeborene und das geborene Kind neu aufnehmen in die Menschheitsfamilie, so ähnlich müssen wir auch fremde Menschen aufnehmen und ihnen gegenüber Menschenwürde respektieren. Schon der Alte Bund hat hier jede Nächstenliebe universal ausgeweitet und von Einschränkungen befreit, wenn er sagt, wir sollten den Fremden lieben wie uns selbst. Hier kann es keine Kompromisse geben. Hier müssen die Christen ein Anwalt der Fremden bleiben und immer mehr werden.

 

III.

 

Ich breche hier ab. Es soll bei einigen Prioritäten bleiben, auch wenn vieles andere nicht minder wichtig bleibt. Auf jedem genannten Feld brauchen wir ein gutes Gelingen, das nicht einfach von uns abhängt. Ein Segen können wir zwar füreinander sein und werden, wenn wir uns gerecht und barmherzig zueinander verhalten. Aber den wahren Segen können wir uns nicht selbst beschaffen. Gedeihen und Gelingen müssen uns geschenkt werden. Kaum jemand hat dies so gut zur Sprache gebracht wie Jochen Klepper, der in der nationalsozialistischen Zeit wegen seiner jüdischen Frau verfolgt wurde und 1942 in den Tod ging. Neben anderen Liedern hat er uns hinterlassen:

 

Der Du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.

Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.

 

Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unserer Zeiten:

bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.

 

(Evangelisches Gesangbuch 1995, Nr. 64)

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

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