Rabanus Maurus: Eine Säule der Kirche von Mainz

Datum:
Freitag, 3. Februar 2006

Öffentlicher Festvortrag im Rahmen der Akademietagung „Rabanus Maurus – Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof von Mainz“ am 3. Februar 2006 im Hohen Dom zu Mainz

I.

Er hat zwar in der Neuzeit den Titel „Lehrer Deutschlands“ (Praeceptor Germaniae) bekommen, dennoch wird vielen der Name Hrabanus Maurus als fern und fremd erscheinen. Wohl wird ihm einer der ältesten, bis heute gesungenen Hymnen, das Veni Creator Spiritus, zugeschrieben. Aber seine Gestalt weckt jedenfalls beim breiteren Publikum – und dies gilt auch für Fulda und Mainz, als den beiden wichtigsten Wirkungsstätten des Abtes von Fulda und Erzbischofs von Mainz – kaum mehr als historische Erinnerung. Zu Lebzeiten war er freilich ein gefragter Mann, der als Lehrer und Pädagoge weiten Einfluss hatte und viele Begabungen des damaligen Europa an sich zog. Darum wurde er auch ein geschätzter Autor, der uns nicht nur eine riesige Zahl von Handschriften – man spricht von ca. 1600 –, sondern auch ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen hat. In der berühmten Sammlung „Patrologia Latina“ von J.-P. Migne füllt Hrabanus Maurus sechs umfangreiche Bände. Freilich fehlt er in keiner Darstellung der Geschichte des Frühmittelalters . Und ganz selbstverständlich kennt ihn die Fachwelt in vielen Disziplinen.

Ein Ereignis hat ihn freilich bis heute gekennzeichnet. Es ist die Speisung vieler Armer bei der großen Hungersnot des Jahres 850. So heißt es in einem Jahresbericht: „In diesem Jahre (850) drückte schwere Hungersnot die Völker Germaniens, vornehmlich die um den Rhein wohnenden; denn ein Scheffel Getreide wurde in Mainz für zehn Seckel Silber verkauft. Es hielt sich aber zu der Zeit der Erzbischof Hraban auf einem Hof seines Sprengels namens Winkel auf, wo er Arme, die von verschiedenen Orten kamen, aufnahm und täglich mehr als 300 speiste, die abgerechnet, welche beständig bei ihm aßen.“ Nicht zuletzt darum wird Hrabanus Maurus in Winkel (Rheingau) heute noch gefeiert.

Hrabanus selbst hat auf seine Herkunft aus Mainz hingewiesen. Hier wurde er geboren und getauft. Seine Eltern, Waluram und Waltrat, waren Angehörige des rheinfränkischen Adels. Sie hatten an verschiedenen Orten Besitz, z.B. in Dromersheim, Hofheim, Oppenheim und Dienheim, alles Orte in der näheren und weiteren Umgebung von Mainz. Es gibt auch einige Urkunden, aus denen hervorgeht, dass das Ehepaar oder auch der Vater allein die genannten Besitzungen an das Kloster Fulda übertrug.

Das Geburtsjahr Hrabans ist immer noch umstritten, kann aber nach dem, was wir über Hrabans Lebensgang wissen, um 780 angenommen werden. Sicher ist er als sehr junger Mensch, wahrscheinlich als Kind, und damit als „puer oblatus“, nach Fulda gekommen. Oblate ist in der alten und mittelalterlichen Kirche die Bezeichnung für Kinder, die von Eltern oder Vormündern Gott bzw. dem Kloster „dargebracht“ und für das klösterliche Leben bestimmt wurden. Der Brauch bezog sich auf Vorbilder im Alten Testament und wurde schon im frühen Mönchtum ausgeübt. Er blieb nicht unumstritten. Im Allgemeinen hielt man Zehnjährige für fähig, die Entscheidung über den Klostereintritt selbst zu treffen. Das Konzil von Trient hat im Übrigen ein Mindestalter von 16 Jahren zur Gültigkeit der Profess vorgeschrieben. Die Oblaten waren vielfach hochgebildet, da sie im Kloster erzogen wurden und deshalb auch die Klosterschule im vollen Umfang durchlaufen konnten.

Eine Klärung bedarf auch der Name. In der wissenschaftlichen Literatur wird meist Hrabanus Maurus geschrieben. Hier lehnt man sich zunächst einmal an die althochdeutsche Schreibweise an. Hrabanus bedeutet der Rabe oder auch der junge Rabe. Maurus ist ein ehrender Beiname. Der große Lehrer des Hrabanus, Alkuin, hat diesen Namen des Lieblingsschülers des hl. Benedikt dem jungen Hraban hinzugefügt. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass „Maurus“ schwarz, Mohr bedeutet und auch mit einer angeblich dunkleren Hautfarbe des Hrabanus im Zusammenhang stehen könnte. Gerne hat er in seinen Büchern die Initiale „M“ (und nicht etwa HR) verwendet. Er trug diesen Namen mit besonderem Stolz.

Jedenfalls kam Hrabanus im Elementarschulalter nach Fulda. Das Kloster war vor gut 40 Jahren gegründet worden. In einer Mönchsliste von 781 werden 364 lebende Mönche im Kloster erwähnt. Als Hrabanus nach Fulda kam, gehörten gewiss über 300 Mönche zur Gemeinschaft, auch wenn manche außerhalb des Fuldaer Stammklosters lebten und arbeiteten. Es waren die Jahre, in denen Fulda anfing, zu seiner schon oft gerühmten Bedeutung aufzusteigen. Besonders Karl der Große erwartete für seine Bildungsreform von Fulda Unterstützung. Hraban lernte in Fulda zunächst Lesen und Schreiben, vor allem aber lernte er die Bücher des Alten und des Neuen Testamentes sowie die Benediktsregeln. Die Psalmen lernte man auswendig. Bevor jemand durch die Profess Mönch wurde, musste er vor allem auch mit dem Meditieren nicht zuletzt der biblischen Schriften vertraut sein.

Hrabanus Maurus wurde 801 zum Diakon geweiht. Er hielt sich auch, wahrscheinlich vor 800, am Hof Karls des Großen in Aachen auf, möglicherweise damals schon bei Alkuin. Hrabanus muss dann vermutlich zwischen 802 und 804 (am 19. Mai 804 stirbt Alkuin) bei Alkuin in Tours eine zusätzliche Ausbildung erfahren haben. Hraban nennt ihn immer seinen Lehrer und rühmt ihn vor allem auch wegen der tieferen Einführung in die Heilige Schrift. Um das Jahr 804 geht er nach Fulda zurück und übernimmt bald die Verantwortung bei der Hinführung der jüngsten Angehörigen der Klostergemeinschaft zum mönchischen Leben. Das Kloster war damals unter Abt Baugulf innerlich ziemlich zerrissen. Dadurch wurde Hraban im Kloster selbst sehr gefordert. Im Jahr 814 wurde er zum Priester geweiht. Bald darauf wird er der Leiter der Klosterschule. Von 822-842 ist er in einer für Fulda außerordentlich wichtigen Zeit Abt des Klosters. Er fördert die theologische Lehre, baut das Kloster stärker aus und verbessert offenbar in ganz neuer Form die Verwaltung des Klosters. Dabei darf man nicht vergessen, wie sehr die Versorgung der Mönche und der übrigen Klosterinsassen mit Nahrung und Kleidung die Kräfte anspannten. Abt Hraban hatte hier wohl eine große Geschicklichkeit. Er hat aber auch die Schreibkunst und das Vertrautsein mit den zahlreichen Handschriften, die man herstellte, gefördert. Dies dürfte in vieler Hinsicht auch zum immer größeren Ansehen des Klosters geführt haben. Bekanntlich zieht sich der Abt aus politischen Gründen um 842 von diesem Amt zurück und verbringt auf dem Petersberg bei Fulda Jahre des intensiven Studiums, aber besonders auch des Abfassens vieler Werke, vor allem auch der Schriftkommentare.

Um 810 vollendet Hraban mit 30 Jahren sein erstes literarisches Werk, das ihn bis heute berühmt gemacht hat: De laudibus sanctae crucis (Vom Lob des Heiligen Kreuzes). Hier zeigt sich nicht nur, wie viel Hraban in Aachen und vielleicht noch mehr in Tours gelernt hat, indem er sich auch das klassische Wissen der Poetik zu Eigen machte, sondern dass er wohl auch ziemlich selbstständig und schöpferisch neue Wege gehen konnte. Winfried Wilhelmy hat dies im Katalog zur Ausstellung im Dommuseum zu Mainz ausführlich beschrieben. In die Abtszeit fallen aber auch größere Werke wie De instititutione clericorum (Über die Unterweisung des Klerus), etwa um 819 und die Schrift über die Zeitrechung De computo (ca. 820). Eine Zusammenschau des damaligen Weltwissens in fast allen wissenschaftlichen Teilbereichen stellt das große enzyklopädische Werk De rerum naturis oder manchmal auch De universo dar, das er nach 842 bearbeitet und abschließt. Bußbücher und liturgische Schriften runden das Bild ab. Die zahlreichen Handschriften, vor allem auch die bald erfolgten Abschriften zeigen den riesigen Kenntnisstand des Abtes im Wissen seiner Zeit.

Nach dem Tod von Erzbischof Otgar (827-847) wird Hraban im Jahr 847 zum Erzbischof von Mainz berufen. Er übernimmt im Alter von 67 Jahren nochmals eine neue große Aufgabe. Der Erzbischof von Mainz ist und bleibt natürlich ein Mönch mit allen weltlichen und religiösen Erfahrungen des Abtes. Seine Zeit in Mainz ist hautsächlich durch die Abhaltung von drei Synoden gekennzeichnet, nämlich 847, 848 und 852. Darauf ist nochmals zurückzukommen. Sehr bekannt blieb die eingangs schon erwähnte Versorgung der Bevölkerung bei der Hungersnot im Jahr 850 im Rheingau. Obgleich ihm ein wichtiges Amt übertragen worden war, hielt Rhaban sich politisch eher zurück, denn er wollte auch viel mehr Zeit haben zum theologischen Studium. In diesen Jahren hat Hraban auch noch sehr oft zur Feder gegriffen. „Mit ihm starb am 4. Februar 856 ein Mann, der sich als theologischer Schriftsteller vor allem durch seine Erklärungen der meisten biblischen Bücher wie durch zahlreiche andere, besonders auf Bibel- und Kirchenväterkenntnis aufbauende Werke sowie als Lehrer, Abt und Erzbischof weithin im Frankenreich höchstes Ansehen erworben hatte. Davon zeugt der Kreis seiner Schüler wie der Empfängerkreis seiner Briefe und Werke.“

Er wird in Mainz in der Grablege für die Erzbischöfe in St. Alban begraben. Albrecht Kardinal von Brandenburg möchte ihm in Halle eine würdigere Grabstätte bereiten. Die Wirren der Zeit haben dies jedoch nicht erlaubt. Eine letzte Ruhestätte scheint er in Aschaffenburg erlangt zu haben. Danach verlieren sich jedoch die Spuren.

Fulda und Mainz sind die beiden zentralen Schwerpunkte des Lebens von Hrabanus Maurus. Dies wird auch deutlich in der selbstverfassten Grabinschrift: In der Stadt (= Mainz) nämlich bin ich auf die Welt gekommen und im heiligen Quell wiedergeboren. Danach habe ich in Fulda die heilige Lehre gelernt, dort bin ich Mönch geworden und habe den Befehlen der Ältesten gehorcht. Richtschnur des Lebens war mir die heilige Regel. Obwohl ich sie immer in Unsicherheit und nicht bleibend bewohnte, war die Mönchszelle für mich der willkommene Aufenthalt.

Es ist hier nicht möglich, zu den vielen Schriften und kirchlichen Vorgängen in der Zeit des Abtes und Erzbischofs Hraban Stellung zu nehmen. Dies ist auch deshalb schwierig, weil die meisten Schriften nicht in einer kritischen Edition vorliegen. Dies gilt besonders auch für die schon genannten zahlreichen Schriftkommentare zum Alten und Neuen Testament. Ich möchte einige wichtige Themen und Probleme aufgreifen.

II.

Ein Einwand, der immer wieder seit langer Zeit, wenn auch mit unterschiedlichen Motiven und verschiedener Betonung ergeht, möchte feststellen, dass Hrabanus Maurus weitgehend kompilatorisch vorgehe und nur Materialien zusammenstelle, was gewiss im Sinne der Rettung der Überlieferung verdienstlich sei, aber eben doch von einer wenig schöpferischen Persönlichkeit zeuge. Im Grunde sei Hrabanus Maurus ein „öder Kompilator“. Man kann nun vieles dagegen einwenden, wie tief Hrabanus Maurus in seinem gesamten Werk von der Bibel inspiriert ist, und wie sehr sie ihm Maßstab ist und bleibt. Wie das Werk über die Natur der Dinge zeigt, ist er mit dem ganzen verfügbaren Wissen seiner Zeit über die irdischen Dinge vertraut. Er ist aber auch, wie gerade das Figurengedicht De laudibus sanctae crucis (Vom Lob des Heiligen Kreuzes) in beeindruckender Weise zeigt, gut geschult in den Schönen Künsten, wie nicht zuletzt seine Dichtungen bezeugen. Schließlich konnte er am Hof Karls des Großen und besonders beim großen Alkuin in Tours die besten Bildungschancen seiner Zeit ergreifen und nutzen.

Wir finden aber auch einen wachen Abt und Bischof, der durchaus in den Schriften immer wieder bei aller Objektivität und beim Blick auf die Überlieferung mit seiner Persönlichkeit erkennbar wird. Dies gilt z.B. auch im Blick auf die politisch Mächtigen, die er zu Nachsicht und Gerechtigkeit mahnt. Nüchtern und rational lehnt er es ab, dass man in einer verlorenen oder gewonnenen Schlacht ein Gottesurteil erkennen könne. Er lässt uns auch an seinem Leben teilnehmen, wenn er z.B. ganz offen von den Altersbeschwerden spricht. In diesen und anderen Texten gibt es eine erstaunlich frische, mutige und konsequente Persönlichkeit. Die schon genannte Ausstellung im Mainzer Dommuseum mit der Prachthandschrift „Vom Lob des Heiligen Kreuzes“ zeigt auch, wie viel Rationalität, Kombinatorik und Einfallsvermögen die Kunst des Figurengedichtes voraussetzt. Erst recht gilt dies, so bin ich überzeugt, auch von der Spiritualität des Hrabanus Maurus, ganz besonders etwa hinsichtlich seiner Kreuzesfrömmigkeit, aber auch seines Bildes von Jesus Christus, das tief von christologischen Grundfragen seiner Zeit zeugt, und dies bis in den Bilderstreit hinein.

Doch kann man m.E. die Vorwürfe an Hrabanus nicht allein auf diesem Weg entkräften, so wichtig diese einzelnen Erkenntnisse sind und noch viel stärker an den Tag gebracht werden müssen. Es geht wohl viel stärker um die Art und Weise, wie Hraban überhaupt Wissenschaft versteht, und welche Funktion er nicht nur im Bildungsprozess seiner Zeit, sondern auch in den Auswirkungen bis in unsere Gegenwart hinein wahrnimmt.

Es ist immer wieder dargestellt worden, dass die Karolingerzeit einen besonderen Schub darstellt in der Aneignung der antiken und christlichen Tradition. Dabei dürfen wir nicht unsere in vieler Hinsicht doch reich ausgestattete Bildungswelt mit Bibliotheken und vielfachen Informationssystemen voraussetzen. Alles musste entdeckt, transportiert, vor dem Verfall bewahrt, mit der Hand abgeschrieben werden. Die literarische und künstlerische Produktion war dürftig. „Ein Neubeginn setzte eine wenigstens notdürftige Kenntnis der Vergangenheit und ihrer vorbildlichen Autoren voraus. Wo diese Kenntnis vorhanden war, kam es zu erstaunlichen Neubildungen ... Wenn das Kloster Fulda sich unter Hrabanus verdoppelt hatte an Insassen, wenn ein Gutteil der großen mittelalterlichen Bibliothek damals aufgebaut wurde, wenn von Baugulf, Eigil und Hrabanus an eine Fülle aszetischer, exegetischer, homiletischer Literatur entsteht, aber auch Dichtungen geschrieben werden, erst schulmäßig, dann mit gelöster Zunge, schließlich in der Muttersprache, dann zeigt dies die Bedeutung dieser Schule in einer Zeit, die buchstäblich zwischen zwei Kulturen lag. Nicht dass Fulda oder irgendein im späteren Deutschland liegendes Kloster in der Gewalt des Bindens und Verknüpfens von Antike und Christentum an die Leistung der Angelsachsen herankäme: Auch Hrabans Vorbilder und Lehrer von Bonifatius bis zu Alkuin sind Angelsachsen gewesen; von England und Irland her, durch Iren und Angelsachsen, durch Kolumban und Bonifatius wurde das aufgelöste Europa zusammengefügt. Aber Fulda ist eine wichtige Etappe im Fortgang dieses Prozesses. Und es wirkt seinerseits wieder in den Westen hinüber. War Hrabanus noch nach Tours gezogen, so kam später Lupus von Ferrière nach Fulda, um dort seine theologische Ausbildung zu erhalten. So stellen sich Verbindungen her, und nimmt man zu Hrabanus seine Schüler hinzu, Engilbert, Werinbert und Hartmut in St. Gallen, Walahfried Strabo auf der Reichenau, Otfried in Weißenburg, um nur die bekanntesten zu nennen, so wird deutlich, wie weit sein Einfluss gereicht hat, wie schwer die Grenze zu ziehen ist zwischen wissenschaftlicher Eigenleistung und dem Entbinden und Freisetzen einer geistigen Bewegung, die über ihn hinausgeht.“

Man darf hinter der gelehrten Arbeit des Hrabanus nicht nur eine hingebungsvolle Sammlertätigkeit sehen, so leidenschaftlich Hrabanus Handschriften nachjagte. Marc-Aeilko Aris hat darauf hingewiesen, dass es sich um eine regelrechte „dokumentarische Technik der Textherstellung“ handelt, für die damals das Wort „colligere“ oder für die Auswahl der Texte „excerpere“ verwendet wird. „Compilare ist – in antikem Sprachgebrauch negativ besetzt – trotz der im 12. Jahrhundert üblich gewordenen neutralen Verwendung zu Hrabans Zeit noch nicht gebräuchlich.“ Hraban knüpft hier an besondere Verfahren an, das Wissen zu sichern. Er greift dabei auf die in der Antike vielfach geübte Praxis der Florilegien an. Sie sind für ihn die geeignete literarische Gattung, mittels der das gesicherte Wissen mitgeteilt werden kann. Gelegentlich wird dafür auch das Bild gebraucht, dass Hrabanus bienengleich in den Wiesen den duftenden Honig der Texte einsammelt.

Dieses Wissen ist aus Erkenntnisquellen gewonnen, die sich in einer ununterbrochenen Rezeption bewährt haben. „Wissenschaftlich richtig im Sinne Hrabans sind solche Aussagen, die entweder dem christlichen Glaubensbekenntnis, das auf der als Offenbarung verstandenen Heiligen Schrift gründet, nicht widersprechen oder als dessen zutreffende Auslegung gelten können. Mit Hilfe dieses Wissenschaftsbegriffs ist es Hraban möglich, einzelne Texte auch solcher Autoren zu würdigen und in seine Werke aufzunehmen, deren theologische Ansichten nicht durchgehend dem Orthodoxieanspruch genügen und deshalb von Fall zu Fall überprüft werden müssen.“ Hraban ist sich auch durchaus möglicher Fehlerquellen bei dieser Methode bewusst. Im Übrigen sieht er eine Bestärkung der Glaubwürdigkeit seiner Texte auch in der sittlich guten Lebensführung der Autoren. Die wissenschaftliche Forschung wird dadurch sehr stark an den überlieferten Text gebunden. „Wissenschaftlichkeit erscheint in diesem Sinne vor allem als sorgfältiger Umgang mit Texten, deren Beschaffung und Verbreitung für den Einflussbereich Hrabans gleichbedeutend ist mit dem Übergang von einer vorwiegend oralen zu einer wissenschaftlichen und damit schriftlichen Kultur.“

Diese Methode lässt sich in vielen Schriften des Hrabanus verfolgen, nicht zuletzt auch in seinen Schriftkommentaren. Besonders deutlich ist dies auch in seiner Schrift De institutione clericorum libri tres, die Hraban 819 fertig stellte. Für diese Schrift ist besonders präzise die Herkunft der Quellen nachgewiesen worden: patristische Texte, Konzilien, römische Traditionen, liturgische Texte, Konzilien der Karolingerzeit. Auch hier hat sich die Forschung im Blick auf die Verarbeitung der Quellen ein differenzierteres Urteil verschafft. Während man früher – längst vor E. R. Curtius – von Wirrwarr, Unübersichtlichkeit, von mangelnder gedanklicher Durchdringung, ja von Plagiat sprach , betrachtet man heute nicht nur die formale Seite, sondern viel stärker die inhaltlichen Aspekte, die insgesamt sehr viel stärker ein regelrechtes System erkennen lassen. Im Übrigen haben schon Franz Brunhölzl und Paul Lehmann darauf hingewiesen, Hrabanus habe ursprünglich seine Quellenangaben am Rand der Handschrift getreulich vermerkt.

Dies soll nur ein erster und vorläufiger Versuch sein, die gröbsten Missverständnisse vor allem des 19. und noch des 20. Jahrhunderts von der Arbeitsweise des Hrabanus zu klären. Man muss jedoch diese Leistung auch wieder zurückstellen in die Zeit der Karolingischen Reform. Der Beitrag des Hrabanus zur Vermittlung von Antike und Christentum hinein in die germanische Welt hat nicht zuletzt durch seine Autorität und sein Ansehen einen großen Rang. Josef Fleckenstein beendete seine Gedenkrede im Jahr 1980: „So dürfen wir in Hrabanus Maurus wie in seinem Lehrer Alkuin einen der großen Vermittler der europäischen Bildung am Eingang unserer Geschichte sehen, einen Vermittler, der in der Krise der Karolingerzeit deren geistiges Erbe den folgenden Jahrhunderten überliefert hat. Es war ihre tiefste Überzeugung, dass über diesem Erbe und über jeder großen geistigen Anstrengung, die es weiterführt, ein Hauch des göttlichen Geistes weht.“

Es ist aber nicht nur, so wertvoll dies ist, der Brückenschlag von der Antike in das Mittelalter hinein, sondern auch die Integration im Frankenreich selbst, nämlich zwischen dem östlichen und westlichen Teil. Allein die beiden Stichworte Tours und Fulda deuten dies an. Hinzukommt aber das Fördern einer volkssprachlichen Literatur, z.B. der Evangelienharmonie des Tatian in althochdeutscher Übersetzung. Dies gilt auch für den Umgang mit der deutschen Sprache überhaupt. „Im Unterschied zu Alkuin, der nur lateinisch schrieb und sprach, ist von Hrabanus überliefert, das er auch deutsch predigte und für deutsche Predigt der Geistlichen als Bischof Sorge trug. In Fulda werden Elemente einer methodischen Sorge für die Aufzeichnung und Weiterbildung der Volkssprache sichtbar.“ Diese volkssprachige Überlieferung und Schriftlichkeit bedarf noch eingehender Forschungen und ist bisher gewiss unterschätzt worden.

III.

Man muss die Tätigkeit Hrabans auch von seiner Verantwortung als Abt und später als Erzbischof verstehen. Dies wird z.B. leicht erkennbar an der schon genannten Schrift De institutione clericorum. Dies ist eine Programmschrift zur Klerikerausbildung und hat eine ausgesprochen systematische, aber eben doch auch reformerische Bedeutung. Er gibt seinen Zeitgenossen eine umfassende Antwort auf die Frage „Was ist ein Kleriker?“. Er behandelt die Rolle des Klerus in Kirche und Gesellschaft, seine innere Struktur, seine Tätigkeitsfelder, seine Ausbildung und die notwendigen Bildungsvoraussetzungen.

Es steckt zweifellos auch ein gewisses Bildungsideal der Zeit hinter dieser Schrift, in der der Geistliche eben zugleich auch ein Stück weit Gelehrter sein soll. „In seiner Schrift spiegelt sich die karolingische Reformgesetzgebung und die Sachsenmission genauso wie die Geschichte des Fuldaer Klosterkonvents und die persönliche Biografie. Verständlich wird De institutione clericorum erst durch die Freilegung der vielfältigen zeitgeschichtlichen Bezüge ... ein Plagiator oder öder Kompilator war Hrabanus nicht. Als bloßer Tradent überkommener Bildungstraditionen wäre er unterschätzt. In De institutione clericorum entwarf er in kritischer Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen ein eigenständiges, systematisch durchdachtes Idealbild des Klerikers: das Bild eines pastor doctus. Hrabanus strebte einen fachlich kompetenten, allgemein gebildeten Klerus an, plädierte für ein weltoffenes, pastoral engagiertes Mönchtum und steht für eine vorurteilsfreie Rezeption verschiedenster Bildungstraditionen. Er repräsentiert damit kultur- und kirchengeschichtliche Strömungen, die für das gesamte Mittelalter prägend wurden und zum Teil bis heute weiterwirken.“

Die Zeit als Erzbischof von Mainz ist ganz besonders gekennzeichnet durch die bereits genannten drei Synoden, die Erzbischof Hrabanus Maurus in den Jahren 847, 848 und 852 durchführte. Es geht dabei um viele Fragen der kirchlichen Organisation und Verwaltung. „Es geht darin um die Sicherung des Kirchenbesitzes, um den unwiderruflichen Besitzverzicht der Mönche, um das Verbot der Bestechlichkeit für Richter, um die Bestrafung von Priestermördern, um die Spendung der Sakramente an Sterbende und um die Bestattung und das Gebet für Gehenkte.“ Im Jahre 848 fand eine zweite Mainzer Synode statt, die zugleich eine Reichsversammlung in Anwesenheit des Königs war. Wir haben keine Akten dieser Synode. Es gibt nur parteilich gefärbte Berichte über sie. Dabei ging es vor allem um den Konflikt mit Gottschalk, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Die dritte Mainzer Synode fand auf Einladung Ludwigs des Deutschen statt, wiederum unter Vorsitz von Erzbischof Hraban. Fast der gesamte Episkopat aus dem Ostfrankenreich war anwesend. Manche früheren Beschlüsse wurden neu formuliert. Wiederum geht es um das Kirchengut, das Vergehen von Klerikern und Laien, über verschiedene Formen des Totschlags sowie um verschiedene Bußbestimmungen. Thema war auch das Verbot für die Bischöfe, auf die Jagd zu gehen. Das Eherecht und das Sonntagsgebot haben einen wichtigen Platz in den Beschlüssen. Dabei ist der heimlich begangene und nur in der Beichte bekannte Ehebruch ein Problem. Für das Bußwesen hatte sich Hraban immer schon interessiert, wie die Abfassung eines Bußbuches 841/842 belegt. Insofern haben die Synoden für das pastorale Konzept Hrabans eine große Bedeutung: „Auf den beiden Mainzer Konzilien von 847 und 852 hat Hraban versucht, ein Grundsatzprogramm für seine Tätigkeit als Erzbischof aufzustellen, das er auf seiner letzten Synode noch ergänzen sollte.“ Ob eine weitere Synode nach 852 stattgefunden hat, bleibt unsicher.

IV.

Wir haben bisher die Angelegenheit mit dem aus Sachsen stammenden Gottschalk übergangen. Dies muss jedoch noch eigens besprochen werden. Gottschalk ist wohl zwischen 806 und 808 als Sohn eines sächsischen Grafen geboren und wurde als „puer oblatus“ um 814 dem Kloster Fulda übergeben. Als er von einem Studienaufenthalt auf der Reichenau zurückkehrte, wurde er von seinem Abt Hrabanus Maurus zur Tonsur gezwungen. „Da Gottschalk das für ihn abgelegte Oblationsgelübde nicht anerkannte und auf seiner Freilassung bestand, kam sein Fall 829 vor die Synoden von Mainz und Worms ... Das Mainzer Urteil sprach Gottschalk bedingt frei, die endgültige Entscheidung ist nicht bekannt; jedenfalls durfte Gottschalk Fulda verlassen. Die folgenden 20 Jahre seines Lebens liegen im Halbdunkel.“ Gottschalk war sehr unstet. Er ließ sich auf rechtlich anfechtbare Weise als Mönch von Orbais zum Priester weihen. „Eine Wallfahrt, wohl vor 840, führte ihn nach Rom und Oberitalien, wo er durch seine als häretisch verdächtigte Lehre von der doppelten Prädestination Aufsehen erregte. Nach einem Aufenthalt am Hof des Grafen Eberhard von Friaul durchreist Gottschalk predigend die Balkanländer und kam bis ins heutige Bulgarien. 848 kehrte er nach Deutschland zurück, um sich zu rechtfertigen.“

Die doppelte Prädestination bedeutet die Vorausbestimmung der Erwählten zum ewigen Heil oder die Vorausbestimmung der Verworfenen zum ewigen Tod. Diese Lehre der doppelten Prädestination ist vor allem im Anschluss an den späten Augustinus entstanden. Gottschalk hat wohl eine Prädestination zur Sünde abgelehnt, hielt jedoch an der Auffassung des späten Augustinus fest, dass die Verworfenen praktisch nicht unter die Erlösung durch Jesus Christus fallen. Gottschalk sieht eine unveränderliche, von Gott gewollte, zwanghafte Vorbestimmung zum Verderben, gegenüber der die Betroffenen machtlos sind, d.h. ohne die Möglichkeit freier Willensentscheidung.

Das Urteil über Gottschalk ist insgesamt ziemlich eindeutig. Er ist ein unsteter Geist auch in der Anlage seiner Gedanken. Er baut verschiedene Texte relativ willkürlich aneinander und interpretiert sie recht eigenwillig. Alle seine theologischen Schriften sind von Kontroverse und Polemik erfüllt. Er geht auch mit den höchsten kirchlichen Autoritäten, sogar dem hl. Augustinus, erstaunlich kritisch um. Er hat dabei ein sehr großes Vertrauen in sein eigenes Urteilsvermögen.

Über dem Verhältnis Gottschalks zu Hraban steht von vornherein ein Unstern. Im Jahr 829 waren die beiden bereits in Fulda aneinandergeraten. Die beiden hatten ein denkbar schlechtes Verhältnis aus dieser Zeit. Mit Härte hatte Hraban die Einhaltung des Oblationsgelübdes verlangt. Hraban hat ihn dann in den kommenden Jahren ziemlich hartnäckig vor allem wegen seiner Äußerungen zur Prädestination verfolgt. Die Synode von 829, die unter dem Vorsitz des Erzbischofs Otger von Mainz stattfand, sprach Gottschalk vom Mönchsgelübde frei, überließ es aber dem Abt, ob ein Schadensersatz geleistet würde. Hraban gab sich mit dieser Entscheidung nicht zufrieden. Mit Heftigkeit kämpfte Hraban für das Gebundensein von Kindern an die einmal gefällte Entscheidung der Oblation. Hraban fand nicht immer Zustimmung in der Mönchsgemeinschaft. Auf der Mainzer Synode von 848 wurde Gottschalk als Häretiker verurteilt und zu Hinkmar von Reims geschickt, dem zuständigen Erzbischof. Gottschalk wurde im Kloster Hautvillers gefangen gesetzt. „Der (Gottschalk) wurde sehr eindeutig als hartnäckiger, im Hochmut befangener Häretiker beurteilt, der durch seine Irrlehren dem Volk schade. Darum müsse er daran gehindert werden, zu schreiben oder mit jemandem zu disputieren. Sein Verlangen, die Wahrheit seiner Lehre durch ein Gottesurteil zu erweisen, komme eher aus dem Hochmut als aus der Festigkeit des Glaubens. Die Versöhnung sei nur möglich, wenn Gottschalk von seinem Irrtum ablasse.“

Die Härte der Auseinandersetzung hat sicher auch mit den persönlichen Schwierigkeiten und den früheren Geschehnissen zu tun. Dies ist ein schwieriger Punkt im Wirken Hrabans. Er hatte aber besonders die Sorge, dass die Äußerungen Gottschalks die sittliche Kraft der Menschen schwäche. Er sprach vor allem aus pastoraler Sorge. Schließlich gibt es aber dennoch eine nicht unwichtige Geste Hrabans gegenüber Gottschalk: „Um Hraban gerecht zu werden, sollte man den Satz eines Briefes an Hinkmar nicht überlesen, in dem er sagt, man solle für Gottschalk beten, damit der allmächtige Gott das Heil gegen ihn, den schwachen Bruder, wirke und ihm ein belehrbares und mit dem rechten Glauben übereinstimmendes Herz gebe. Am Schluss dieses Briefes heißt es, noch sei ungewiss, welches Ende es mit Gottschalks Hartnäckigkeit haben werde. Der erste der folgenden Segenswünsche lautet dann, Gott möge daraus machen, was in seinen Augen gut sei.“

Der gesamte Konflikt muss vermutlich nochmals aufgegriffen werden. Hraban und Gottschalk reden letztlich aneinander vorbei. Beide haben verschiedenartige persönliche Erfahrungen und Überzeugungen von der sittlichen Handlungsfähigkeit des Menschen.

Hrabans Pontifikat dauerte 8½ Jahre. Er war in den letzten Jahren gesundheitlich geschwächt. Über seine Bestattung wurde schon das Nötige gesagt. Hraban hat sich bis in das hohe Alter nicht geschont. „In Fulda hat er nach Jahrzehnten ständiger Unruhen im Konvent die Ordnung der Mönchsgemeinschaft versucht und in Mainz eine Befriedung des Reiches nach den schweren Auseinandersetzungen um die Herrschaft unter den karolingischen Königen mitgewirkt. Als bereits erfahrener Mönch hatte er einmal dies Geschenk von Gottes Gnade erbeten, dass er zeit seines Lebens der Diener Christi, der Schüler derer, die gut lehren, und der Helfer derjenigen sein könne, die sich recht mühen. Trotz aller Fragen, die Einzelheiten seines Lebens offen lassen, wird man sagen dürfen, er habe in der Erfüllung seiner Aufgaben Mönchen und Klerikern, den Dienern Christi, Dienste geleistet, sich im Kontakt zu bedeutenden Männern um das Fortkommen im Streben nach der Wahrheit bemüht und vielen Menschen geholfen, Hochgestellten und Armen, in ihren Anliegen und in ihrer Not.“

An den Schluss möchte ich in diesem Sinne seine selbstverfasste Grabinschrift setzen, die am Anfang des Beitrags kurz erwähnt wurde: Werter Leser, wenn du mein Leben in sterblicher Zeit kennen lernen willst, so kannst du es im Folgenden tun. In der Stadt (= Mainz) nämlich bin ich auf die Welt gekommen und im heiligen Quell wiedergeboren. Danach habe ich in Fulda die heilige Lehre gelernt, dort bin ich Mönch geworden und habe der Weisung der Ältesten gehorcht. Richtschnur des Lebens war mir die heilige Regel. Obwohl ich sie immer in Unsicherheit und nicht bleibend bewohnte, war die Mönchszelle für mich der willkommene Aufenthalt. Aber, nachdem schon viele Jahre verstrichen waren, kamen Männer, die Schicksale des Klosters zu verändern, mich Schwachen von zu Hause wegzuschleppen, vor den König zu bringen und zu fordern, dass ich das Bischofsamt übernehmen solle. Mich, bei dem eigentlich kein Verdienst der Lebensführung, der Lehrweisheit, keine wohlgefällige Hirtenarbeit zu finden war. Der Geist war willig, aber entkräftet der schwache Leib, doch habe ich getan, was ich konnte und was Gott gab. Nun bitte ich dich aus dem Grab, lieber Bruder, hilf und empfiehl mich Christus, damit durch das Gebet die Gnade des ewigen Richters mich zur Ewigkeit rette, in dem sie nicht das Verdienst ansieht, sondern die tätige Hingebung. Mein Name aber ist Raban, und das Studium des göttlichen Gesetzes habe ich immer und überall geliebt. Allmächtiger Gott, gewähre ihm das Himmelreich und wahre Ruhe für immer in der Himmelsburg. Amen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

Es gilt das gesprochene Wort

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten enthalten

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz