Religionsunterricht als „Anwalt der Vernunft“

Datum:
Samstag, 28. April 2007

Vortrag anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Zeitschrift „rhs – Religionsunterricht an höheren Schulen“ am 28. April 2007 in Mainz

Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft ist seit mehreren Jahren ein Thema der öffentlichen Debatten. Schon die Enzyklika Fides et Ratio (FR)  hat 1998 ein beachtliches Echo auch in Kreisen gefunden, die sich ansonsten durch kirchliche Verlautbarungen nicht angesprochen fühlen. Zu erwähnen sind insbesondere die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas  im Oktober 2001, sein Gespräch mit Kardinal Ratzinger  - heute Papst Benedikt XVI. – in der Münchener Akademie zu Beginn des Jahres 2004 und natürlich die Regensburger Vorlesung des Papstes im November letzten Jahres.  In den Feuilletons nahezu aller großen Zeitungen und Zeitschriften finden seitdem Debatten über Glaube und Vernunft statt, die nicht selten in den Leserbriefspalten fortgesetzt werden.

Ich möchte zunächst den gesellschaftlichen Kontext dieser öffentlichen Debatte skizzieren (I). In einem zweiten Schritt werde ich dann mit Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen das katholische Verständnis von Glaube und Vernunft erläutern (II); schließlich sollen einige Konsequenzen für den Religionsunterricht bedacht werden (III).

I.

Wer nach der Stellung von Glaube und Kirche in der Moderne fragt, stößt unausweichlich auf  das Phänomen und den Begriff der „Säkularisierung“.  Wie alle Schlagworte, die einen komplexen Vorgang oder Sachverhalt beschreiben wollen, wirft die Verwendung des Begriffs „Säkularisierung“ bei näherem Hinsehen mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Die Begriffsgeschichte ist ziemlich geklärt. Sie zeigt vor allem drei Bedeutungen auf. Säkularisierung meint zunächst eine Umwandlung geistlicher Besitztümer und Einrichtungen in solche weltlicher Herren, wie etwa Vorgänge nach dem Westfälischen Frieden 1648 und beim Reichsdeputationshauptschluss 1803 zeigen.  Der Entzug oder die Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Aufsicht und Herrschaft wird sodann auch in übertragener Bedeutung verwendet, indem man einen bestimmten Prozess der Verallgemeinerung z.B. von Begriffen, Verhaltensweisen und Erfahrungen meint, die früher einzig einen konkret biblisch-dogmatischen Sinn hatten (z.B. Wortschatz-Anleihen, Anregungen aus der religiösen Sprache usw.). Schließlich bezeichnet Säkularisierung den Prozess der Herauslösung der Welt aus den Zusammenhängen eines religiösen Sinngefüges überhaupt; die säkulare Welt bedarf keiner kirchlichen Sinngebung mehr, sondern versteht sich aus sich selbst. Gemeint ist damit das Vordringen einer „diesseitigen“ Wirklichkeitsauffassung und einer Lebenshaltung, die eine völlige Emanzipation vom Christlichen im Blick haben können. So gibt es in England bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Wortbildung secularism.

Es braucht hier nicht gezeigt zu werden, welche Wertungselemente im Einzelnen mitschwingen, z. B. die Frage einer Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Säkularisierungsprozesses, der Enteignung und des damit verbundenen Rechtsbruchs. Umgekehrt sehen manche in der Säkularisierung als Ablösung der politischen Ordnung von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung einen Akt der Legitimität und der Emanzipation. Die Verwandlung ursprünglich religiöser Vorstellungen in solche der vom Glauben unabhängigen, allgemein menschlichen, „säkularen“ Vernunft betrachten die einen als Prozess der Entkirchlichung und des Glaubensverlustes, andere sehen in dieser Ausweitung und Übertragung ursprünglich nur religiöser Elemente ins „Profane“ einen Zuwachs an „weltlichem Gewinn“. Dadurch wird „Säkularisierung“ zu einem tragenden geschichtsphilosophischen, kulturdiagnostischen und manchmal auch kulturkritischen Leitwort, ja zu einer prinzipiellen Interpretationskategorie, welche die geistige Signatur einer ganzen Zeit gleichsam stichwortartig in sich zusammenfasst.  Dadurch bekommt der vieldeutige Begriff eine merkwürdige Eindeutigkeit und Klarheit, die er jedoch letztlich nicht hat.

Bis in die 80er Jahres des vergangenen Jahrhunderts ging die Mehrheit der Soziologen davon aus, dass Säkularisierung entweder zur Privatisierung von Religion, also zum Ausschluss religiöser Überzeugungen und Geltungsansprüche aus Politik und Öffentlichkeit, oder gar zu ihrem völligen Verschwinden führen werde. Bekannt und geschichtsmächtig wurde die These vom Verschwinden der Religion im Marxismus und dann in der Religionspolitik der kommunistischen Staaten. Karl Marx verstand Religion bekanntlich als Ausdruck einer grundlegenden Entfremdung des Menschen von seinen Mitmenschen und der Natur, die endgültig aufzuheben Ziel der kommenden proletarischen Revolution sei. In einer wahrhaft freien Gesellschaft – so die Prognose von Marx und seinen Nachfolgern – werde nicht nur der illusorische Charakter der Religion von allen erkannt, sondern gebe es auch keinen Grund mehr, religiös zu sein. In einer weniger utopischen Variante meinte die These vom Verschwinden der Religion, dass im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts religiöse Überzeugungen und Praktiken immer mehr an intellektueller Plausibilität und sozialer Relevanz einbüßen. Diese auf den klassischen Positivismus zurückgehende These – man denke etwa an das bekannte Drei-Stadien-Gesetz von Auguste Comte – fand in unterschiedlichen Varianten vor allem im Westen zahlreiche Anhänger. Unter dem Eindruck dieser Säkularisierungstheorien, die Zeitdiagnose mit Geschichtsprognose verbanden, erübrigte sich für viele eine intensivere Auseinandersetzung mit Glaube, Theologie und Kirche.  Hier liegt sicher ein wesentlicher Grund dafür, dass die im II. Vaticanum artikulierte Bereitschaft der Kirche, in einen Dialog mit den Andersgläubigen und Nichtgläubigen zu treten, von säkularen Intellektuellen oft ignoriert wurde.

Auf den ersten Blick scheint die These von der Privatisierung der Religion oder ihrem Verschwinden plausibel zu sein. Nimmt man Kirchenmitgliedschaft und Gottesdienstbesuch als Indikatoren von Religiosität, dann kann man in der Tat in vielen Ländern Europas einen Abwärtstrend feststellen.  Dieser erste Blick ist jedoch ein beschränkter Horizont. Zum einen wird so die außerkirchliche und kirchlich nicht gebundene Religiosität nicht erfasst. Zum anderen ist der Blick auf Europa verengt. Doch selbst in Europa gibt es Länder wie Polen oder Irland, deren religiöse Situation mit der Säkularisierungsthese nur sehr schwer in Einklang zu bringen ist. Blickt man über Europa hinaus, verliert die These vom Verschwinden der Religion jede Plausibilität. Sieht man vom Sonderfall des kommunistischen China und Nordkorea ab, dann hat die gesellschaftliche Modernisierung weltweit keineswegs zum Niedergang der Religionen geführt. In Südkorea hat in den letzten 50 Jahren parallel zur rasanten Entwicklung des Landes z.B. die Zahl der Christen deutlich zugenommen. Das Christentum ist dort heute ebenso stark wie der traditionelle Buddhismus.

Ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Fall sind die USA, denen niemand ernsthaft einen Mangel an Modernität attestieren kann. Ebenso wenig lässt sich das intensive religiöse und kirchliche Leben übersehen. Die religiöse Vitalität in den Vereinigten Staaten zeigt zum einen, dass die Stärke der Glaubensüberzeugungen und der kirchlichen Bindungen in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft keineswegs geradezu automatisch abnehmen muss. Die Begegnung mit Andersgläubigen und Nichtgläubigen führt nicht notwendig zur Schwächung des eigenen Glaubens. Zum anderen ist eine liberale und demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung, die vor allem das Recht des Individuums auf freie Religionsausübung betont, der religiösen Vitalität einer Kultur offensichtlich nicht abträglich. Gerade auch mit Blick auf die katholische Kirche, die mittlerweile die größte Kirche in den USA ist, kann von einer Unvereinbarkeit von Glaube und Moderne keine Rede sein. In globaler Perspektive sind nicht die USA, sondern eher das säkularisierte Europa der erklärungsbedürftige Sonderfall.

Die Prognose vom Verschwinden der Religion hat sich jedenfalls nicht bestätigt. Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sprechen Religionssoziologen im Gegenteil von einer „Rückkehr der Religion“. Dieser Trend hat zugenommen. Die Phänomene, die zu dieser neuen Diagnose führen, sind freilich sehr heterogen. Dazu zählen das neue Interesse an Religion und Religiosität, wie es sich etwa auf dem Buchmarkt widerspiegelt, aber auch der große Zuspruch zu den Weltjugendtagen oder die weltweit große Anteilnahme am Sterben von Papst Johannes Paul II. und an der Wahl seines Nachfolgers. Erwähnt werden muss auch die bedeutende Rolle des Papstes und vieler anderer überzeugter Christen beim friedlichen Sturz des Kommunismus vor allem in Polen und in der ehemaligen DDR. Dazu gehören aber auch die Politisierung des Islam und die Entstehung eines islamistisch motivierten Terrorismus oder die „christliche Rechte“ in den USA, die vor allem weiße Evangelikale und protestantische Fundamentalisten umfasst. Die Beispiele zeigen, dass die so genannte Rückkehr der Religion ein zutiefst ambivalentes Phänomen ist , das uns teilweise erfreut, teilweise aber auch erschreckt. Darauf werde ich noch zurückkommen.

Zuvor ist darauf hinzuweisen, dass die Rede von der Rückkehr der Religion missverständlich ist. Der Soziologe Hans Joas hat zu Recht angemerkt, dass die traditionellen Religionen ja zwischenzeitlich nicht verschwunden waren und deshalb auch nicht einfach zurückkehren können. Da es eine rein säkulare, religionslose Gesellschaft weder in Europa, noch in Amerika oder in den islamischen Ländern gegeben hat, ist auch die Rede von einer „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) irreführend.  Zutreffender wäre es, von einer neuen Präsenz der Religionen in der Öffentlichkeit und in der Politik zu sprechen. Das religiöse Leben ist insgesamt sichtbarer geworden und viele Gläubige treten selbstbewusster auf, als dies in früheren Jahren üblich war. In diesen Zusammenhang gehören auch die Diskussionen um das Profil und den missionarischen Auftrag der Kirche.

Die neue Sichtbarkeit der Religion, ihre Rückkehr in die Öffentlichkeit ist nicht nur ein religionssoziologisch bedeutsames Phänomen. Sie ist auch eine Herausforderung für die Philosophie. Die These vom Verschwinden der Religion war von religionsphilosophischen und anthropologischen Grundannahmen getragen, die mittlerweile ebenfalls als widerlegt gelten dürfen. Die menschlichen Grundfragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens, nach Gut und Böse, nach Wahrheit und Irrtum verschwinden nicht in einer materiell saturierten und freien Gesellschaft. Sie werden auch nicht durch Wissenschaft und Technik beantwortet. Gerade wenn der Mensch nicht mehr von der Sorge um das tägliche Brot beherrscht wird und von religiösen oder weltanschaulichen Zwängen eher befreit wird, stellen sich die Fragen nach dem Sinn des eigenen Lebens, nach dem, was der Einzelne mit seiner begrenzten Lebenszeit anfängt, welchem Sinnangebot er folgt oder an welchen Werten und Zielen er sein Leben ausrichtet, nur umso dringlicher. Es war eine marxistische und positivistische Illusion zu meinen, dass der Mensch irgendwann einmal aufhören würde, sich diese Fragen zu stellen. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo hat deshalb schon vor einigen Jahren die These vertreten, dass „heute das Schweigen der Philosophie über Gott philosophisch relevanter Gründe zu ermangeln (scheint). Zum großen Teil geschieht es aus reiner Gewohnheit, fast aus einer Art Trägheit, dass die Philosophen nicht von Gott sprechen oder sich sogar ausdrücklich als atheistisch oder irreligiös betrachten.“  Vattimo ist nicht der einzige, der die Gottesfrage als philosophische Herausforderung annimmt. Zu nennen wären hier etwa auch Emmanuel Lévinas, Jean-Luc Marion oder Richard Swinburne.

Das gegenwärtige philosophische Interesse an religiösen Traditionen steht in einem engen Zusammenhang mit dem, was Habermas metaphorisch „entgleisende Säkularisierung“ nennt. Leo O’Donovan SJ, der ehemalige Präsident der Georgetown-University in Washington, hat schon im November 2000 auf dem großen Bildungskongress der Kirchen darauf aufmerksam gemacht, „dass der ökonomische Funktionalismus und das marktförmige Denken dabei sind, die letzten Flecken in unserer Gesellschaft zu erobern“.  Von vielen unbemerkt dringt ein ökonomisches Kosten-Nutzen-Denken in immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein und verändert unsere Alltagswelt und unsere sozialen Beziehungen. Die fortschreitende Auflösung des Sonntags als arbeitsfreier Tag ist nur ein Beispiel für diese Entwicklung. Dabei droht die Einsicht verloren zu gehen, dass die Wirtschaft das Bedürfnis nach Wohlstand befriedigen kann, nicht aber das Bedürfnis nach einem guten Leben. Viele suchen daher nach überzeugenden Visionen eines erfüllten Lebens, einem Ethos uneigennütziger Liebe und nach Lebensformen, die sich der Marktlogik entziehen. Hier liegt sicher ein wesentlicher Grund für das große Echo, das die Enzyklika Deus caritas est von Papst Benedikt XVI. gefunden hat.

Zudem stellt der wissenschaftliche und technische Fortschritt uns vor neue ethische Herausforderungen. Stichworte sind hier die Globalisierung, die sich vor allem über entgrenzte und deregulierte Märkte durchsetzt, die Gentechnik mit ihren eugenischen Möglichkeiten oder der Umgang mit Menschen, die noch nicht oder nicht mehr zu eigenen Willensbekundungen fähig sind. Es ist durchaus zweifelhaft, ob eine Ethik, die sich an Leitbegriffen wie Vertrag, aufgeklärtes Selbstinteresse oder Nutzenmaximierung orientiert, diesen Herausforderungen gerecht werden kann. Angesichts dieser ethischen Problemstellung plädiert Jürgen Habermas für eine Überwindung des säkularistisch begrenzten Bewusstseins und für eine Lernbereitschaft gegenüber religiösen Traditionen, ohne die das Humanum in der modernen Gesellschaft dauerhaft nicht erhalten werden kann.

Nun wäre es jedoch verfehlt, die Hinwendung zur Religion als Problemlösung anzupreisen oder gar den Sieg des Glaubens über die Vernunft auszurufen. Eine solche die Moderne ablehnende Haltung ist charakteristisch für fundamentalistische religiöse Gruppen. So bezieht etwa der Islamismus seine Überzeugungskraft aus den sozialen und ökologischen Folgeproblemen der global entgrenzten Märkte, die durch die Rückkehr zu einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung gelöst werden sollen. Ähnliche Argumentationen finden wir auch bei christlichen Fundamentalisten.  Es gibt nicht nur eine Ambivalenz der Moderne, auch die so genannte Rückkehr der Religion ist ein höchst ambivalentes Phänomen. Zur Signatur unserer Zeit gehört auch der religiös motivierte Zwang, der vom Gewissensdruck über Intoleranz bis zu offener Gewaltanwendung reicht. Nicht jede Form von Religiosität macht Menschen frei und nicht jede Religion fördert ein humanes Zusammenleben. Kardinal Ratzinger hat im Gespräch mit Jürgen Habermas deshalb nicht nur von „Pathologien der Vernunft“, sondern auch von „Pathologien in der Religion“ gesprochen.  Diese Pathologien in der Religion dürfen auch im interreligiösen Gespräch nicht verschwiegen werden. Es hat wenig Sinn, sich nur wechselseitig der Friedens- und Gerechtigkeitsliebe zu versichern, ohne bereit zu sein, auch die eigene Tradition selbstkritisch zu betrachten. Aus den Diskussionen im Vorfeld des Schuldbekenntnisses von Papst Johannes Paul II. im Heiligen Jahr (2000) wissen wir, wie schmerzhaft der ungeschönte Blick auf die eigene Geschichte und das Eingeständnis eigener Verfehlungen ist. Aber ohne diesen kritischen Blick werden wir die Pathologien in der Religion weder erkennen noch überwinden können.

Im Unterschied zum religiösen Fundamentalismus sieht die Kirche das Verhältnis von Glaube und Vernunft nicht als Nullsummenspiel, bei dem der Glaube nur auf Kosten der Vernunft gewinnen kann. „Es ist illusorisch zu meinen, angesichts einer schwachen Vernunft besitze der Glaube größere Überzeugungskraft;“ heißt es in der Enzyklika Fides et Ratio, „im Gegenteil, er gerät in die ernsthafte Gefahr, auf Mythos bzw. Aberglaube verkürzt zu werden.“ (FR 48) Deshalb wird in der Enzyklika um des Glaubens willen die Vernunft stark gemacht. Damit beschreitet das katholische Denken einen Weg jenseits von Säkularismus und religiösem Fundamentalismus. Diesen Weg gilt es nun zu skizzieren.

II.

Wer auch nur einen flüchtigen Blick auf die Geschichte des europäischen Denkens wirft, wird schnell bemerken, dass die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen, von Vernunft und Offenbarung zu den großen philosophischen und theologischen Themen gehört. Der Grund für dieses geistesgeschichtliche Phänomen liegt im christlichen Verständnis von Offenbarung und „Wort Gottes“.

Die Offenbarung Gottes ist von seinem innersten Wesen her als Wort und Botschaft auf den Glauben bezogen. Sie fordert die aufmerksame Gegenwart des Hörenden. Die Botschaft offenbart nur, indem sie jemandem etwas kundtut. Sonst ist sie nicht Botschaft. Wäre kein hörender Partner da, dann käme Gottes Wort gar nicht zur Sprache, es bliebe höchstens leerer Schall, der wieder in der echolosen Unbetreffbarkeit absoluter Einsamkeit verweht. Hören im vollen Sinne ist jedoch nicht bloß der passive Empfang irgendwelcher Laute, sondern das Verstehen des uns Zugesagten. Der „Hörer des Wortes“ (Karl Rahner) ist keine tabula rasa. Er weiß vielmehr immer schon etwas und hat immer schon Erfahrungen gemacht. Er kann die Botschaft nur annehmen und mitteilen, wenn er sie in Bezug zu dem bereits Gewussten setzt und in ihrer existenziellen Bedeutsamkeit bedenkt. Denn das Wort Gottes will den Menschen in seiner konkreten Existenz verwandeln, ihm eine neue Perspektive erschließen und eine neue Lebensorientierung eröffnen. Evangelium, Glaube und Umkehr gehören untrennbar zusammen. Ein die ganze Existenz des Menschen formender Glaube erfordert die denkerische Verantwortung. Ohne sie würde er seinen lebensprägenden Charakter verlieren.

Diese denkerische Verantwortung des Glaubens kann nicht auf die Sprach- und Denkformen einer bestimmte Kultur oder einer bestimmter sozialen Gruppe, auch nicht auf die Binnenlogik der Kirche begrenzt werden. Die christliche Botschaft, dass Gott das Heil aller Menschen will (vgl. 1 Tim 2,4), richtet sich ihrem Wesen nach an alle Menschen und erfordert eine Verkündigung, die von allen Menschen verstanden werden kann. Um der Kommunikabilität willen muss der Glaube die allen Menschen gemeinsame Vernunft voraussetzen. Nur so kann die Kirche dem biblischen Auftrag entsprechen, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,15). Die rationale Verantwortung des Glaubens muss der doppelten Forderung gerecht werden, den göttlichen Anspruch und die menschliche Verstehbarkeit dieses Anspruchs zu wahren. Die Kirche hat einerseits von Anfang an das Gespräch mit der Philosophie und dem Denken der nicht-christlichen Umwelt gesucht. Andererseits hat es aber auch immer Stimmen gegeben, die den eigenen und unverwechselbaren Anspruch des Glaubens gegen eine zu weit gehende Anpassung an das Denken und Handeln der Umwelt verteidigt und gegen eine zu harmonische Verbindung von Glaube und Vernunft Einspruch erhoben haben.

Grundlegend für das Verhältnis von Glaube und Vernunft ist die Begegnung von christlichem Glaube und griechischer Philosophie in der Frühzeit der Kirche, z.B. der Versuch, die Logos-Spekulation aufzunehmen und christologisch zu deuten. So erkennt der Märtyrerapologet Justin in der griechischen Philosophie logoi spermatikoi, also Keime jener Wahrheit, die in Jesus Christus als dem göttlichen Logos (Joh 1,1-18) offenbar geworden ist. Der christliche Glaube widerspricht nach Justin nicht den Erkenntnissen der griechischen Philosophen, sondern vollendet sie. Diesen Grundgedanken wird Clemens von Alexandrien dann in seinem umfangreichen Werk Stromata systematisch entfalten. Diese harmonische Sicht des Verhältnisses von christlichem Glauben und griechischer Philosophie blieb nicht unwidersprochen. Bekannt ist die berühmte Frage Tertullians: „Was also haben Athen und Jerusalem miteinander zu schaffen? Was die Akademie mit der Kirche? Die Häretiker mit den Christen?“ (De praesc. haer. 7,9.) Seine dualistische Sicht hat Tertullian jedoch nicht davon abgehalten, sich zur Verteidigung des Glaubens philosophischer Begriffe zu bedienen und das Arsenal antiker Rhetorik zu nutzen.

Auch im Mittelalter gibt es nicht nur ein Lösungsmodell für die Beziehung zwischen Glauben und Wissen. Ein Blick auf Anselm von Canterbury, sein immer wieder neu durchgespieltes Leitwort „fides quaerens intellectum“, Thomas von Aquin mit der stärker aristotelischen Tradition und Bonaventura mit einer intensiveren Bindung an Augustinus genügt, um die innere Vielfalt auch des mittelalterlichen Denkens wahrzunehmen. Selbst bei einzelnen Autoren gibt es in dem Gefüge von Glauben und Wissen gewaltige Spannungen, wenn man z.B. bei Thomas von Aquin nur die klassischen Aussagen in den großen Summen, die stärker auf eine Harmonie tendieren, mit der Auslegung der paulinischen „Torheit des Kreuzes“ im Kommentar zum 1. Korintherbrief vergleicht, wo die massiven Aussagen zur „Hure Vernunft“ in nichts den späteren Äußerungen Luthers nachstehen.

Betrachtet man die Begegnung von christlichem Glauben und griechischer Philosophie genauer, wird man feststellen, dass die Hellenisierung des Christentums keine einfache Anpassung des Glaubens an die griechischen Kategorien und Denkformen war. Die Kirchenväter konnten sich die Begrifflichkeit der griechischen Philosophie nur aneignen, indem sie sie veränderten und mit neuen Bedeutungen anreicherten. Man kann diesen Prozess von Aneignung und Weiterentwicklung deutlich im Ringen der alten Kirche um die Christologie und die Trinitätslehre nachvollziehen.  Diese Feststellung gilt auch für die mittelalterlichen Denker. Mit Hilfe der aristotelischen Philosophie und der arabischen Kommentare erkennen sie meist deutlicher als ihre Vorgänger den Eigenwert und die Eigengesetzlichkeit der Natur und damit auch der menschlichen Vernunft. Im Unterschied zu Aristoteles deuten sie Natur und Vernunft jedoch konsequent schöpfungstheologisch. Erst aufgrund dieser Deutung konnten sie Natur und Gnade, Vernunft und Offenbarung in ein theologisch sinnvolles Verhältnis zueinander setzen.

Der christliche Glaube hat das philosophische Denken nachhaltig verändert. Das gilt insbesondere für die Anthropologie und die Ethik. Zentrale philosophische Begriffe wie Menschenwürde, Person, Gewissen, Autonomie, Freiheit oder Gleichheit sind in ihrer heutigen Bedeutung vom christlichen Glauben geprägt. Dies hat auch Hegel deutlich gesehen: „Dass aber der Mensch an und für sich frei sei, seiner Substanz nach, als Mensch frei geboren – das wusste weder Plato noch Aristoteles. (…) In der christlichen Religion kam die Lehre auf, dass vor Gott alle Menschen frei, dass Christus die Menschen befreit hat, sie vor Gott gleich, zur christlichen Freiheit befreit sind. Diese Bestimmungen machen die Freiheit unabhängig von Geburt, Stand, Bildung usf. Und es ist ungeheuer viel, was damit vorgerückt ist.“  Deshalb gehört der Glaube für Hegel zur Geschichte der Vernunft.

Hegel war natürlich nicht der einzige Philosoph der Neuzeit, der das Verhältnis von Glaube und Wissen bedacht hat. Allerdings dominiert nach ihm eine religionskritische Sicht. In den philosophischen Hauptströmungen der Neuzeit kann man drei verschiedene Haltungen zum Glauben erkennen. Entweder wird der religiöse Glaube als ein Jenseits der Vernunft betrachtet, über das sich philosophisch nichts Sinnvolles sagen lässt, oder Religion wird kritisch als illusionäres Wissen entziffert, das dank des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts als solches erkannt und überwunden wird. Ein drittes Denkmodell beansprucht, die „rationalen Gehalte“ der Religion philosophisch aufzuheben. Meist handelt es sich dabei um die Ethik des christlichen Glaubens, während Dogmatik und Kult als rational unaufklärbarer Rest abgewertet werden. Für die meisten einflussreichen Denker der Neuzeit waren Theologie und Kirche keine philosophisch ernst zu nehmenden Gesprächspartner mehr.

Nun wird man die neuzeitliche Philosophie trotz der Trennung von Glaube und Vernunft nicht pauschal ablehnen dürfen, wie es lange Zeit im katholischen Bereich üblich war. In der schon genannten Regensburger Vorlesung widerspricht der Papst ausdrücklich der Auffassung, „man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden.“ Er fügte hinzu: „Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen hat, und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt wurden.“  Angesichts der unleugbaren Ambivalenzen der Moderne wird man jedoch die neuzeitliche Trennung von Glaube und Vernunft nicht mehr einfach als Emanzipationsgeschichte verstehen können, in der die einstige „Magd der Theologie“ sich aus religiöser Bevormundung befreit und nun zu ihrer eigentlichen Unabhängigkeit gefunden habe. Wenn Hegel Recht hat und unser Verständnis des Menschen als einer freien und moralisch verantwortlichen Person mit unveräußerlicher Würde vom christlichen Glauben geprägt ist, dann ist es zumindest denkbar, dass dieses Verständnis des Menschen von einer radikal säkularisierten Vernunft zu einem vermeintlich unaufgeklärten religiösen Rest erklärt wird, von dem es sich in einem weiteren Säkularisierungsschritt zu befreien gelte. In den letzten Jahren haben neuere Erkenntnisse in der Hirnforschung und der Biogenetik Debatten um Willensfreiheit und Determinismus angestoßen, die auf eine solche Revision unseres Menschenbildes zielen.  In diesen und verwandten Debatten lassen sich unschwer Stimmen identifizieren, die Vernunft auf Wissenschaft und Technik beschränken und vernünftiges Wissen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer technischen Anwendung gleichsetzen. Eine solche Verkürzung der Vernunft auf Aussagen, die auf experimentelle Beobachtung und kausale Erklärung zurückgeführt werden können, entwertet religiöse und moralische Überzeugungen als bloße Ausdrucksgestalten von Gefühlen, Wünschen oder Bedürfnissen. Der Versuch, aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Erklärungsmodellen umfassende Weltbilder zu konstruieren, ist jedoch keine Wissenschaft, sondern Ideologie. Die Säkularisierung der Vernunft droht jene „Fortschritte an Menschlichkeit“ zu gefährden, die wir der „modernen Geistesentwicklung“ verdanken. Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen kann die Humanität nur gesichert und entwickelt werden, wenn das vernünftige Denken sich für die Weltdeutung und die Lebensorientierung öffnet, die uns das Evangelium erschließt.

Die Trennung von Glaube und Vernunft hat nicht nur der Vernunft, sondern auch dem Glauben geschadet. Wenn die Vernunft keinen Zugang zum Glauben mehr eröffnet, ist es für die Verteidiger des Glaubens verführerisch, das Wesen des Glaubens im Irrationalen und Widervernünftigen zu suchen. Um den Glauben vor einer richtenden oder vereinnahmenden Vernunft zu retten, wird ein scharfer Trennstrich zwischen Religion und Ethik, zwischen Religion und Philosophie gezogen. Der Glaube wird zum Paradox, zum Sprung in eine rational nicht zu rechtfertigende Existenzweise. Sören Kierkegaards Abraham-Deutung in „Furcht und Zittern“ (1843), Rudolf Ottos „Das Heilige“ (1917) oder Leo Schestows „Athen und Jerusalem“ (1930 - 1936) sind prominente Zeugnisse eines Glaubens, der sich als das Andere der Vernunft versteht. Eine Religiosität, die vor allem auf außergewöhnlichen Erlebnissen oder intensiven Empfindungen beruht, steht jedoch immer in der Gefahr, subjektivistisch zu werden. Das Sektenwesen am Rande des Christentums und die vielfältigen Formen einer so genannten „Patchwork-Religiosität“ bieten dafür reiches Anschauungsmaterial. Dazu gehören aber auch die bekannten Spielarten des religiösen Fundamentalismus, dessen Kommunikationsverweigerung den Keim der Gewalt in sich trägt.

Zwar wird man nicht jeden, der die „Torheit des Kreuzes“ (1 Kor 1,23) und die Radikalität der Nachfolge Christi gegen ein vermeintlich verbürgerlichtes Christentum anmahnt, gleich unter Fundamentalismus-Verdacht stellen dürfen. Erst recht wäre es verfehlt, die mystische Tradition in der Geschichte der Kirche abzuwerten. Wir dürfen aber auch nicht verschweigen, dass die Trennung von Glaube und Vernunft den Glauben bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Wenn der Glaube die Vernunft ausschließt, ist es dem Gläubigen nicht mehr möglich zwischen wahrer und falscher Offenbarung zu unterscheiden. Wer sich allein auf seine subjektive Glaubensgewissheit verlässt, kann nicht wissen, ob er die Stimme Gottes oder die seines Unterbewusstseins hört. Er kann nicht einmal wissen, ob Gott wirklich existiert oder nur eine Simulation seines Gehirns ist. Im Extremfall verleitet ein blinder Glaube den Einzelnen oder eine Gruppe dazu, den Namen Gottes zu missbrauchen, um die Stimme des Gewissens zum Schweigen zu bringen. Dann kann Religion im Wortsinn mörderisch werden.

Angesichts der Aporien eines vernunftlosen Glaubens wird verständlich, warum die Kirche auf dem I. Vaticanum sich mit dem Verhältnis von Glaube und Vernunft befasst und die so genannte „natürliche Gotteserkenntnis“ dogmatisiert hat.  Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass die Möglichkeit, Gott mit dem Licht der Vernunft zu erkennen, als Glaubenssatz definiert wird. Die Paradoxie löst sich jedoch auf, wenn wir bedenken, dass der christliche Glaube kein blinder Gehorsam ist, sondern eine freie Antwort des Menschen auf die Anrede Gottes. Damit der Mensch den Anspruch Gottes als solchen überhaupt erkennen kann, muss er auch außerhalb des Glaubens Gotteserfahrungen - etwa in der Unbedingtheit einer Gewissensentscheidung – machen können.  Ohne ihn würden die Anrede Gottes und die Verkündigung der Kirche zu einem Akt der Überwältigung, der sich der Mensch nur ergeben könnte. Der Glaube muss deshalb um seiner selbst willen die Vernunft des Menschen anerkennen. Der theologische Grund für dieses Glaubensverständnis liegt natürlich darin, dass der Gott, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat, derselbe ist, der den Menschen als vernunftbegabtes und freies Wesen geschaffen hat. Deshalb kann es im letzten auch keinen Widerspruch zwischen den Wahrheiten des Glaubens und den Erkenntnissen der menschlichen Vernunft geben.

Dieses Glaubensverständnis hat den Vätern des II. Vaticanums ermöglicht, moderne Einsichten wie Menschenrechte und Demokratie, die Autonomie von Wissenschaft und Kunst anzuerkennen und den Dialog mit Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen zu suchen. Ohne den Bezug zur Vernunft könnte die inspirierende Kraft des Glaubens in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft und in einem säkularen Staat gar nicht zur Wirkung kommen. Auch der interreligiöse Dialog ist nur auf dem Boden einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft möglich. Er setzt voraus, dass in den einzelnen Religionen die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft gestellt wird. Die Antworten werden sicher unterschiedlich ausfallen, wie ja auch in der evangelischen Tradition das Verhältnis von Glaube und Vernunft oft anders bestimmt wird als im katholischen Bereich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der konkrete Vernunftgebrauch, wie wir gesehen haben, geschichtlich und kulturell geprägt ist. Doch ohne einen positiven Bezug zur Vernunft können weder die theologischen Fragen – vor allem die nach dem Gottesverständnis – noch die ethischen Herausforderungen der Gegenwart im Dialog aufgegriffen werden. Dies gilt gleichsam spiegelverkehrt auch für den Dialog mit Agnostikern und Atheisten, zu dem uns das Konzil (vgl. Gaudium et spes, Art. 21, 92) nachdrücklich aufgefordert hat. Ein Dialog als gemeinsame Suche nach der Wahrheit setzt voraus, dass Nichtglaubende nicht von vornherein dem Glauben der Kirche Vernünftigkeit absprechen, dass sie sich – mit Habermas gesprochen – lernbereit gegenüber dem christlichen Glauben verhalten.

III.

Die Frage nach der Vernunft und der Vernünftigkeit des Glaubens ist von unmittelbarer Bedeutung für das Bildungsverständnis und für den Fächerkanon der Schule. Aufschlussreich ist hier ein Blick auf die bildungspolitisch einflussreiche Expertise zu Bildungsstandards, die eine Expertengruppe um den Frankfurter Pädagogen Eckhard Kieme vorgelegt hat. In der Expertise wird auf die Grundstruktur der Allgemeinbildung verwiesen, die Jürgen Baumert entwickelt hat.  In dieser Grundstruktur werden vier Rationalitätstypen unterschieden, die einen jeweils unterschiedlichen Zugang zur Welt eröffnen. Neben einem mathematisch-naturwissenschaftlichen, einem ästhetisch-expressiven und einem normativ-evaluativen Rationalitätstyp führt Baumert einen vierten Rationalitätstyp ein, den er „konstitutive Rationalität“ nennt. Dieser Typus bezieht sich auf „Fragen des Ultimaten“, auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des Menschen. In der Schule wird dieser Rationalitätstyp durch die Fächer Philosophie und Religion vertreten.  Dem Bildungsverständnis von Baumert liegt also ein weiter Vernunftbegriff zugrunde, der auch die letzten Fragen des Menschen einschließt. Er geht davon aus, dass die religiösen Antworten auf die letzten Fragen ebenso diskursfähig sind wie die Antworten der Philosophie und dass das im Religionsunterricht erworbene Wissen an das Wissen anderer Fächer anschlussfähig ist. Wer auch nur einen flüchtigen Blick in das Wort der deutschen Bischöfe „Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen“  von 2005 geworfen hat, wird unschwer Konvergenzen in der bildungstheoretischen Verortung des Religionsunterrichts feststellen. Das gilt für die Sinn- und Gottesfrage als Zentrum des Religionsunterrichts ebenso wie für die Vernünftigkeit des Glaubens.

Damit ist natürlich noch nicht viel darüber gesagt, wie der Religionsunterricht in der Schule organisiert und religionspädagogisch gestaltet werden soll. Für die zukünftige Entwicklung des Religionsunterrichts scheinen mir vor allem drei Einsichten richtungweisend zu sein.

Erstens müssen wir den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus  wirklich ernst nehmen. Die Antworten der verschiedenen Religionen und Konfessionen auf die letzten Fragen des Menschen sind nicht nur unterschiedlich; sie sind auch mit Wahrheitsansprüchen verbunden, die sich gegenseitig ausschließen. Mit dieser Feststellung sollen die Gemeinsamkeiten nicht geleugnet oder gering geschätzt werden. Es gibt große Gemeinsamkeiten mit den anderen christlichen Konfessionen. Es gibt eine besondere Nähe der Kirche zu den Juden, und mit den Muslimen sind wir im Bekenntnis zu dem einen Gott verbunden. Diese Gemeinsamkeiten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterschiede zwischen den Konfessionen und Religionen alles andere als nebensächlich sind. Es gibt auch keine vermeintlich höhere Perspektive, in der die Pluralität der Religionen integriert werden könnte. Es gibt einen Dissens in der Wahrheitsfrage, den wir auch in der Schule anerkennen müssen. So ist zum Beispiel nicht ersichtlich, wie man die verschiedenen Religionen und Konfessionen in einem Religionsunterricht für alle thematisieren will, ohne ihre Wahrheitsansprüche zu relativieren. Deshalb wird das Nebeneinander von konfessionellem Religionsunterricht und nicht-konfessionellem Ethikunterricht dem religiös-weltanschaulichen Pluralismus besser gerecht als ein allgemeiner Religions- oder Werteunterricht.

Gelegentlich meint man, durch die Relativierung der eigenen und der fremden Überzeugungen die gegenseitige Toleranz zu fördern. Diese Meinung ist jedoch irrig. Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen des Zweitens Vaticanums, dass Toleranz nicht mit religiöser Indifferenz verwechselt werden darf. Das Recht auf Religionsfreiheit ist in der Würde des Menschen als einer mit Vernunft und freiem Willen begabten Person begründet (vgl. Dignitatis humanae, Art. 2). Toleranz bedeutet, den anderen als Person anzuerkennen und seine Überzeugungen ernst zu nehmen. Ein solches Verständnis von Toleranz liegt auch dem Dialog mit Andersgläubigen und Nichtglaubenden zugrunde. Denn ein solcher Dialog ist ja nur dann sinnvoll, wenn die Teilnehmer nicht von vornherein ihre religiösen oder moralischen Überzeugungen als bloß subjektive Präferenzen entwerten, über die eine intersubjektive Verständigung weder möglich noch nötig ist. Allerdings muss man sich vor übertriebenen Erwartungen an den interreligiösen Dialog hüten. Bei aller Verständigung, die wir anstreben müssen, wird ein Dissens in der Wahrheitsfrage bleiben, den es in aller Redlichkeit anzuerkennen und auszuhalten gilt.

Ein Religionsunterricht, der die Dialogfähigkeit der Schülerinnen und Schüler fördern will, wird deshalb solides Grundwissen über den Glauben der Kirche und andere Konfessionen und Religionen vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht isolierte Kenntnisse erwerben, sondern Einblick in die innere Struktur und Logik des Glaubens gewinnen.  Dialogfähig ist nur der, der auch sprach- und auskunftsfähig ist und seinen Standpunkt sich selbst und anderen gegenüber mit guten Gründen vertreten kann. „Der Religionsunterricht in der Schule darf nicht zum Ort des unverbindlichen Austauschs von Meinungen werden, die nicht nach ihrer Wahrheit, sondern nur nach ihrer Authentizität befragt werden. Er ist vielmehr der Ort eines ernsthaften Ringens um Wahrheitserkenntnis.“

Zweitens sind die Glaubensinhalte untrennbar mit der religiösen Praxis verwoben. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zwischen den Fächern Religion und Philosophie. Der christliche Glaube bietet nicht nur Orientierung im Denken, sondern auch im Gebet und in der Feier der Liturgie sowie in der konkreten Hinwendung zum Mitmenschen, vor allem zu den Armen und Leidenden. In der liturgischen und diakonischen Praxis der Kirche können Erfahrungen gemacht werden, die zu neuen Lebenseinstellungen und in manchen Fällen auch zu einer völligen Neuausrichtungen des Lebens führen. Hier bieten auch die Lebensgeschichten der Heiligen reiches Anschauungsmaterial.

Diese enge Verbindung von Glaubensaussagen mit der Glaubenspraxis wird in der Diskussion um einen gemeinsamen Religionsunterricht für katholische und evangelische Schüler zu wenig beachtet. Die dogmatischen Unterschiede in der Eucharistielehre oder in der Ämtertheologie sind weder theologische Spitzfindigkeiten noch Relikte längst vergangener Kontroversen. Sie prägen vielmehr die jeweilige liturgische Gestaltung der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier, den Stellenwert der Eucharistie im Gemeindeleben und in der Frömmigkeit der Einzelnen. Ohne Bezug zur Glaubenspraxis klingen manche Glaubenslehren in der Tat abstrakt. Deshalb ist es wichtig, dass dieser Bezug von Glaubenswissen und Glaubenspraxis auch im Unterricht bewusst gemacht und die Schülerinnen und Schüler mit dem gelebten Glauben der Kirche vertraut gemacht werden.

Drittens darf der Religionsunterricht die Schülerinnen und Schüler nicht nur in die Binnenlogik des Glaubens und der Kirche einführen. Einerseits ist die Glaubensvernunft, wie wir gesehen haben, ein Rationalitätstypus neben anderen. Andererseits aber geht es im Glauben um letzte Orientierungen, die dem ganzen Leben eine Richtung weisen. Durch den Glauben soll der Mensch zu einer kohärenten Lebensdeutung und zu einer entsprechenden Lebensführung finden. Deshalb muss der Glaube im Religionsunterricht in Bezug zu den Erfahrungen und Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler, zum Wissen der anderen Unterrichtsfächer und zu den gegenwärtigen Fragen der Lebens- und Weltgestaltung gesetzt werden. Hier treffen wir jedoch erneut auf das Problem des Pluralismus. Die Differenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche und die Autonomisierung von Wissenschaft und Kunst, Politik, Recht und Ökonomie haben zu einer solchen Vielfalt der Erfahrungen, des Wissens und der Erkenntnisse geführt, die nicht mehr in eine umfassende Synthese von Glauben und Wissen integriert werden kann.  Wer es heute unternähme, eine moderne Summa zu schreiben, müsste notwendig scheitern. Karl Rahner hat schon in den 60er Jahren den modernen Pluralismus in Bezug zur klassischen Lehre von der „Konkupiszenz“ , also der Gebrochenheit und Zwiespältigkeit menschlicher Existenz, gebracht, die eine harmonische Synthese von Glaube und Wissen und eine versöhnte Lebensführung innerweltlich gar nicht oder nur sehr schwer möglich macht.  Diese „Ambivalenz in der Modernität“  ist gerade in der so genannten „postmodernen“ Philosophie immer wieder bedacht worden, z.B. in den Werken des in England lebenden Sozialwissenschaftlers Zygmunt Bauman.  Dies bedeutet freilich auch, dass der Glaube nicht einfach in einer modernen Sicht des Menschen und der Welt aufgeht, sondern immer auch widerständig bleibt. Das Herausfordernde des Glaubens muss auch im Religionsunterricht als eine im Wortsinn heilsame Provokation zur Sprache kommen. Der Glaube fordert uns immer wieder neu heraus, unser Selbst- und Weltbild und unsere Lebensweise zu überdenken, und eröffnet uns durch diese eigene Widerständigkeit neue Horizonte.

Von hier aus wird nun auch verständlich, inwiefern der Religionsunterricht „Anwalt der Vernunft“ ist. Im Konzept schulischer Bildung ist der Religionsunterricht Anwalt einer Vernunft, die sich den religiösen und moralischen Fragen des Menschen nicht verschließt. Er verhindert, wie schon die Gemeinsame Synode 1974 hervorhob, eine „Verengung des Denk- und Fragehorizontes der Lernenden auf Zweckrationalität“.  Der Religionsunterricht macht den Kindern und Jugendlichen deutlich, dass der naturwissenschaftlich-technische und ökonomische Bezug zur Wirklichkeit berechtigt, aber begrenzt ist und keinen Monopolanspruch auf Rationalität erheben kann. Im Kontext des religiösen Pluralismus steht der Religionsunterricht für einen inhaltlich bestimmten Glauben, der zu denken gibt und kritischen Anfragen nicht ausweicht. Im Religionsunterricht können Kinder und Jugendliche lernen, dass die Entscheidung für den Glauben der Kirche nicht auf schwer fassbaren Gefühlen oder Imaginationen beruht, sondern auf guten Gründen. Sie können lernen, dass Glauben und Denken sich nicht ausschließen, sondern ergänzen.

Um einen solchen Religionsunterricht erteilen zu können, benötigen Religionslehrerinnen und Religionslehrer eine gute theologische Ausbildung. Sie sollten sich aber auch in ihrem Berufsleben mit theologischen Fragestellungen und Überlegungen auseinander setzen. In den vergangenen 50 Jahren hat z.B. die Zeitschrift „Religionsunterricht an höheren Schulen“ (rhs) vielen Lehrerinnen und Lehrern geholfen, im Schulalltag den Kontakt zur Theologie, ihren Fragen und Themen nicht zu verlieren. Die Zeitschrift hat dadurch nicht wenig zur Profilierung des katholischen Religionsunterrichts beigetragen. Für die Zukunft wünsche ich den Herausgebern und Autoren Ideenreichtum, eine zahlreiche und interessierte Leserschaft und vor allem Gottes reichen Segen.

(c) Karl Kardinal Lehmann

 Redemanuskript - Es gilt das gesprochene Wort  

Im Original sind eine Reihe von Fußnoten und Anmerkungen mit Literaturhinweisen enthalten.

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz