"Schenken Sie Zeit"

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung v. 4.12.1999

Datum:
Samstag, 4. Dezember 1999

Gastkommentar für die Mainzer Allgemeine Zeitung v. 4.12.1999

Wir Menschen leben in recht verschiedenen Zeiten. Nicht nur, daß es gleichzeitig Menschen gibt, die auch bei uns noch leben wie vor Jahrzehnten, andere hingegen schon bald die Zukunft eingeholt haben. Wir haben auch verschiedene Erfahrungen der Zeit in der Arbeit, in der Industrie und Produktion, im persönlichen Leben und in der Erfahrung von Kunst und Religion.

Allbekannt und jedem vertraut ist die wachsende Zeitknappheit, die uns immer mehr jagt. Es scheint ein besonderes Kennzeichen der "Neuzeit" zu sein, daß das Gewicht der Zukunft anwächst. Gerade die technisch-industriell geprägte Welt nötigt den Menschen immer kürzere Zeitspannen auf. Es wird schwieriger, neue Erfahrungen wirksam zu sammeln und sich den notwendig erscheinenden Veränderungen anpassen zu können. Alles überschlägt sich.

 

Vielleicht aber gibt es noch ein neueres Element, das mit der wachsenden Informationsgesellschaft zusammenhängt. Hier spielt die Organisation der Zeit eine zunehmende Rolle. Die Zeit ist ein so wichtiger Faktor, weil die Geschwindigkeit über vieles entscheidet. In Bruchteilen von Sekunden erfolgen große Aktionen. Man denke nur an den Geldmarkt rund um die Welt. Aber auch die Produkte auf dem Markt sind oft nur kurze Zeit verfügbar. Einer hat gesagt, inzwischen fresse nicht mehr der Große den Kleinen, sondern der Schnelle den Langsamen.

 

Dies hat freilich auch erschreckende Ausmaße, weil diese Gefräßigkeit manchmal selbstzerstörerisch wirkt. So sagte ein Wegbereiter der Mikroelektronik: "In diesem Geschäft kann man es sich nicht leisten, etwas im Lager zu haben. Inventar verrottet. Was man heute für eine Mark kauft, ist in drei Monaten nur noch 70 Pfennige wert."

 

Dieses Tempo frißt uns in gewisser Weise selbst auf. Viele betroffenen Firmen haben trotz hoher Wachstumsraten wenig Gewinn. Die Verkaufszeiten für die Produkte sind angesichts der teuren Entwicklungsaufwendungen zu kurz. Gerne würde man sich manchmal sogar zusammentun, um das Tempo zu drosseln. Aber so etwas ist nicht durchsetzbar.

 

Wir können vielleicht die Lebensbereiche und ihren Ablauf nicht unmittelbar ändern, die bis in die Technik hinein von diesen Dingen geprägt ist. Aber wir dürfen von diesen Entwicklungen auch nicht einfach beherrscht werden. Es gibt gewiß Lebenswelten, in denen wir uns besser gegen diese sich immer mehr beschleunigenden Tendenzen etwas abschirmen und schützen können. Dies wird freilich von Tag zu Tag schwieriger. Ich denke dabei ganz besonders an Ehe und Familie, an Freundeskreise und Vereine, an Begegnung mit der Kunst und an den Sinn von Religion und die Hilfen der Kirchen.

 

Sie sind alle freilich von diesen Tendenzen auch angenagt und gefährdet. Aber wir dürfen nicht aufhören, gegen den Strom zu schwimmen. Darum ist es - gerade in der Zeit des Advents und von Weihnachten, ganz besonders aber vor einer Jahrtausendwende - notwendig, dem Trend der immer größeren Beschleunigung und damit auch der immer größeren Zeitknappheit zu entgehen. "Schenken Sie Zeit", werben die Uhrenhersteller für ihre Produkte. Aber dahinter steht noch mehr: Schenken Sie Zeit, denn sie ist eines der wichtigsten Geschenke, die wir einander geben können.

 

© Bischof Karl Lehmann

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz