Selbstkritische Bilanz zum Jubiläum

Interview in der Mainzer Allgemeinen Zeitung 2. Oktober 2003

Datum:
Donnerstag, 2. Oktober 2003

Interview in der Mainzer Allgemeinen Zeitung 2. Oktober 2003

An diesem Donnerstag ist es genau 20 Jahre her, dass der frühere Mainzer Bischof, Kardinal Hermann Volk, seinen Nachfolger Karl Lehmann zum Bischof weihte. Aus Anlass des doppelten Jubiläums - am 10.Oktober feiert Lehmann zugleich sein 40-jähriges Priesterjubiläum - führten wir mit ihm das folgende Gespräch:

FRAGE: Heute blicken Sie auf zwei Jahrzehnte als Bischof zurück: Wie hat sich die Diözese seither verändert?

LEHMANN: Ich bemühe mich, nicht schwarz zu sehen, aber ich muss einräumen, dass es auch im Bistum Mainz eine starke Minderung des kirchlichen Lebens gibt. Laut Statistik besuchen knapp 15 Prozent aller Katholiken regelmäßig den Gottesdienst. Die Zahl der Katholiken ist von 36 Prozent auf 29,6 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung zurückgegangen. Besonders nachdenklich werde ich, wenn ich am Sonntag in eine Gemeinde komme und die Zahl der Kinder und Jugendlichen viel niedriger ist, als man erwarten dürfte. Da frage ich mich, wie die Weitergabe des Glaubens gelingen kann, warum er in so vielen Biografien trotz Religionsunterricht, Kommunion und Firmung keine Rolle mehr spielt.

FRAGE: Sehen Sie die Kirche in Ihrem Bestand gefährdet?

LEHMANN: Nein, was ich beschrieben habe, sind negative Entwicklungen, denen Gott sei Dank positive Tendenzen gegenüberstehen. Trotz mancher Rückschläge sind unsere Gemeinden im Kern aktiv und lebendig, vielleicht sogar lebendiger als vor Jahren. Auch viele Ehrenamtliche identifizieren sich glücklicherweise mit der Kirche und ihren Anliegen. Wir sind gesellschaftlich-politisch präsent, soweit dies zu unserer Sendung gehört, und erfüllen viele sozial-karitative Aufgaben.

FRAGE: Was tun Sie, um Gläubige zurückzugewinnen?

LEHMANN: Wir müssen bei den Katholiken die Glaubenskenntnis vertiefen. Viele Leute wissen elementare Dinge z.B. über das Kirchenjahr nicht mehr, zum Beispiel, was Ostern ist. Zweitens wünsche ich mir aber auch einen missionarischen Aufbruch. Wir begnügen uns zu schnell damit, dass Leute aus der Kirche austreten, statt sie erneut anzusprechen. Es gibt erfreulicherweise auch eine zwar kleine, wenn auch steigende Zahl von Personen, die wieder in die Kirche eintreten. Wir müssen viel mehr auf die Leute zugehen.

FRAGE: Die Bistümer Trier und Limburg planen Seelsorgeeinheiten, weil es zu wenige Pfarrer gibt. Was ist Ihre Antwort auf den Priestermangel?

LEHMANN: Wir sind nicht ganz so stark unter Druck wie unsere Nachbarn. Noch haben wir ungefähr ein Viertel Priester mehr als zum Beispiel das gleich große Bistum Limburg. Dennoch leiden auch wir unter Priestermangel. Einen Aspekt darf man dabei nicht aus den Augen verlieren: Wir hatten zugleich noch nie so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge wie jetzt. Von 900 Mitarbeitern in der Pastoral sind eine Hälfte Priester, die andere Hälfte entstammt neuen pastoralen Berufen. Dazu gehören die Diakone, die verheiratet sein können, Gemeindereferenten und Pastoralreferenten. Frauen sind in den zuletzt genannten Berufen in der Überzahl. Das ist gut, nicht nur Männer als Ansprechpartner zu haben.

FRAGE: Frauen dürfen aber keine Messen lesen oder Sakramente spenden.

LEHMANN: Ja, das ist richtig. Aber es gibt ja gerade heute wichtige seelsorgliche Aufgaben, bei denen es auf andere Dinge ankommt, z.B. Leute in ihren je eigenen Lebenskontexten anzusprechen und sie dort – auch außerhalb der reinen Sakramentenspendung - seelsorglich zu begleiten. Wegen des Priestermangels müssen wir freilich auch anders planen. Für mich stellt sich immer drängender die Frage, ob das gegenwärtige, manchmal übergroße Angebot an Gottesdiensten bleiben muss, das manchen Pfarrer zwingt, am Wochenende mehr Messen zu lesen, als z.B. kirchenrechtlich erlaubt ist ­ nämlich nur drei. Ich wünsche mir, dass wir uns z.B. im Stadtgebiet, aber auch in ländlichen Regionen besser absprechen, damit es genügend Gottesdienste in einem vertretbaren räumlichen Abstand zu der wichtigsten Zeit am Samstagabend und am Sonntag gibt. Das hätte auch den Vorteil, dass Gottesdienste attraktiver werden, weil mehr Menschen mitfeiern.

FRAGE: An ein steigendes Interesse am Priesterberuf glauben Sie demnach nicht?

LEHMANN: Kurzfristig nicht. Wir müssen die Berufungspastoral neu anlegen, dürfen in unserem Werben nicht zu eng direkt auf den geistlichen Beruf zusteuern, sondern müssen deutlich machen, dass es die Berufung eines jeden einzelnen Christen gibt, der darin auch neue, noch unentdeckte Tiefendimensionen in sich aufspüren kann. Dabei kann der eine oder andere, wie das auch im Bistum Mainz der Fall ist, seine spezifische Berufung zum Priesteramt erkennen, nicht selten mitten im Studium oder der Ausübung eines anderen Berufs. Dies sind freilich einzelne und ungewöhnliche Lebensgeschichten. Ich hoffe, dass auch die „normalen" Wege der Berufung wieder mehr begangen werden.

FRAGE: Zu Ihrer persönlichen Berufung als Priester vor 40 und als Bischof vor 20 Jahren: War Bischof Ihr Traumberuf?

LEHMANN: Ganz sicher nicht. Dies wäre ja auch vermessen und verrückt zugleich. Mir hat ja mein Beruf als akademischer Lehrer auch viel Freude gemacht, die Freiheit in Forschung und Lehre ist unerreicht. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich nach dem 5. Juni 1983 fast drei Tage mit der Entscheidung herumgequält habe, nachdem die Nachricht aus Mainz gekommen war. Letztlich aber war mir klar, dass ich nicht glücklich werde, wenn ich mich diesem Ruf verweigern würde. Mit der Priesterweihe hatte ich mich entschieden, die Sendung der Kirche wichtiger zu nehmen als private Neigungen und Tendenzen. Und ich bin nie schlecht damit gefahren. Eigentlich habe ich vorher nur eines selbst entschieden: Als Professor 1971 von Mainz nach Freiburg zu wechseln. Und nun wurde ich 1983 wieder zurückgeholt ­ wie der Prophet an den Haaren. Heute ist Mainz meine wirkliche Heimat. In keiner Stadt sonst verbrachte ich insgesamt 23 Jahre meines Lebens.

FRAGE: Was war die größte Umstellung für Sie?

LEHMANN: Von einem auf den anderen Tag tief greifende Entscheidungen treffen zu müssen. Als Professor hat man die Möglichkeit, in vielen Alternativen zu denken, fast immer auch frei zur Auswahl. Es gibt auch Entscheidungen, aber gewöhnlich nicht von großem Gewicht. Als Bischof musste ich gleich zu Anfang große Personalentscheidungen treffen, auch Konfliktsituationen entschärfen. Dies hat mich manchmal sehr mitgenommen. Ich habe dabei freilich auch gelernt, Entscheidungen nicht ohne Not zu verschieben, weil man schuldig werden kann, wenn man Dinge treiben lässt.

FRAGE: Eine Personalie, die Schlagzeilen machte, war der Amtsverzicht von Weihbischof Eisenbach, nachdem ihm der Missbrauch eines Betreuungsverhältnisses zur Last gelegt wurde. Ein Beispiel für zu spätes Durchgreifen?

LEHMANN: Nein, so sehe ich das nicht. Ich habe mich vom ersten Augenblick an eingeschaltet, als ich sah, dass es gefährlich werden könnte. Aber bei erwachsenen Menschen kann man nun mal nicht mit Brachialgewalt eingreifen. Ich glaube aber auch, dass die Entscheidung in Rom sehr hart ausgefallen ist. Ich bin ja auch leider nicht mehr gefragt worden, obgleich mir ein anderer Ausgang signalisiert worden war. Es gab aber auch noch andere erschwerende Umstände, weil z.B. das Verfahren in Rom genau in die Zeit der Schlagzeilen über die freilich ganz anders gelagerten Pädophilie-Fälle in den USA fiel.

FRAGE: Da ging es um sexuellen Missbrauch von Kindern: Sind diese Fälle, auch in Deutschland, nicht Beleg, dass die Kirche zu lange versucht hat, Fehlverhalten unter den Teppich zu kehren?

LEHMANN: So kann es manchmal aussehen. In Wirklichkeit kommen viele Faktoren zusammen. Es ist noch nicht lange her, dass man Pädophilie und Homosexualität klar unterscheidet, dass man weiß, dass Pädophile in den allerseltensten Fällen heilbar ist, dass es also falsch ist, solche Leute einfach bloß zu versetzen. Natürlich kommt noch dazu, dass es Situationen gibt, in denen auch die Bistumsleitung jahrelang im Dunkeln tappt. Ich habe Fälle vor Augen, in denen ich selbst Beobachtungen gemacht habe, ohne Beweise zu haben, belogen wurde und erst nach Jahren erfahren musste: Der Argwohn war doch berechtigt.

FRAGE: Auf welche Leistung sind Sie als Bischof von Mainz besonders stolz?

LEHMANN: Für mich ist es ganz wichtig, dass ich mich im Bistum gut angenommen fühle, dass ich mit Sympathie bei den Leuten rechnen darf, auch wenn ich nicht jedem nach dem Mund rede. Es gibt ja auch Unbequemes. Ich bin ja damals von außen gekommen. Obwohl ich vorher schon ein paar Jahre in Mainz war, wusste ich nicht, ob ich mich so in die Mentalität einfinden kann, und ob ich in richtiger Weise auf die Leute zugehen kann. Und da bin ich froh, dass ich trotz der zusätzlichen Belastung als Vorsitzender der Bischofskonferenz, die dem Bistum ja auch viel Zeit wegnimmt, mich in der Diözese wirklich zu Hause fühle.

FRAGE: Seit 16 Jahren sind Sie auch Vorsitzender der Bischofskonferenz. In der öffentlichen Meinung gilt der Kampf um die Konfliktberatung als Ihre schwierigste Bewährungsprobe. Oder gibt es für Sie einen ganz anderen Punkt?

LEHMANN: Natürlich war das eine der schwierigsten Situationen. Aber es gab auch andere: Der Versuch, unter bestimmten Bedingungen die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion zu ermöglichen, war nicht minder konfliktträchtig. Ich denke aber auch an einige Priester-Skandale, die im STERN und SPIEGEL standen. Zur Konfliktberatung: Ich bin froh, dass wir es nach der Entscheidung 1999 und allen Verlusten, die ich befürchtet hatte, im Bistum Mainz mit Angeboten des „Netzwerks Leben" geschafft haben, auch heute viele schwangere Frauen in Notlagen anzusprechen. Wir haben immer noch 3000 Beratungen pro Jahr - ohne Schein. Natürlich haben wir hier aber auch nicht so sehr – wie etwa in Bayern ­ die Herausforderung durch Donum Vitae. Das ist eine Doppelgleisigkeit, die Probleme schafft. Aber auch hier ist der Gesprächsfaden nicht abgerissen.

FRAGE: Seit 2001 sind Sie auch Kardinal und zur Papstwahl berechtigt. Blicken Sie gegenwärtig mit Sorge nach Rom wegen des Gesundheitszustandes des Papstes?

LEHMANN: Ja, die Spannung ist groß zwischen der geistigen Klarheit und der immer größeren körperlichen Gebrechlichkeit des Papstes – und dies in aller Öffentlichkeit. Aber auch so macht der Papst noch vielen Mut, die ebenfalls leiden, sehr schwach oder von Geburt an behindert sind. „Die Kirche als der Weg des Menschen, vom Anfang bis zur letzten Stunde", wie es Johannes Paul II. oft sagte: Dies erfährt er jetzt auf seine Weise – und bleibt gerade auch so ermutigendes Vorbild.

Das Interview führte Frau Paul von der Mainzer Allgemeinen Zeitung

 

von Karl Kardinal Lehmann, Bischof em. von Mainz

Copyright: Karl Kardinal Lehmann, Mainz